Texte von Hugo Rupp

Zwang Einsamkeit

 

Und schließ gefälligst hinter dir die Tür, wenn du weg gehst!

Mein Neid auf meinen nicht einsamen Vater. Mein Vater ist nicht einsam. Er hat die Mutter, die ihm folgt und ihm zuhört. Er ist nicht einsam. Egal was er auch tut. Was er auch sagt. Der Vater wird nicht einsam. Niemand schickt meinen Vater weg, wenn er schimpft. Wenn er was falsch macht, wofür er mich anschreit, wenn ich was sage, wenn was ihn wütend macht. Er schreit und schlägt und schickt mich weg. Wenn er das tut, dann ist er nicht allein und niemand schickt ihn weg. Er lacht, wenn ich ihn dafür ansehe. Das macht mich rasend, dass er niemals deswegen einsam wird. Weil meine Mutter, ganz egal, was ist, ihn nicht anklagt, ihn nicht bestraft, mit nicht mehr reden. Mein Vater muss nichts büßen.

Wenn ich mich aufrege, dann redet sie nicht mehr mit mir und stellt sich tot. Wenn Vater schreit und wütend wird, dann darf er das und wird nicht weggeschickt. Er darf das, wütend werden, schreien und bleibt dafür ungeschoren. Er wird für Fluchen und Bestrafen, Schlagen, nicht angeklagt und nicht verurteilt und bestraft. Er wird dafür niemals belangt. Man wirft ihm gar nichts vor. Man wirft ihn nicht den Hunden vor, zum Fraß, man tut gar nichts dergleichen. Kein Mensch klagt meinen Vater an, niemand schickt ihn in ein Zimmer, wo er sich bessern soll. Niemand verbannt meinen Vater. Niemand verrät ihn, lässt ihn schmoren in der Einsamkeit und holt ihn nicht zurück. Niemand wirft meinem Vater etwas vor. Er muss nicht dafür zahlen, wenn er schreit und tobt und außer sich, was an die Wände wirft, samt aller seiner Schimpfwörter. Niemand sagt: Jetzt ist Schluss! Geh in dein Zimmer und verschwinde. Und bleib solange dort, bis wir dich wieder holen. Niemand lässt meinen Vater allein in seinem Bett, mit Fieber und mit Schmerzen liegen. Niemand verlässt ihn wegen seiner Schmerzen und geht. Die Mutter lässt ihn nicht allein. Sie trocknet ihm die Stirn, sie schaut ihn mitleidig an. Sie schimpft ihn nicht, weil er so krank ist und nicht aufsteht. Sie schimpft ihn nicht für sein Benehmen.

Die Ungerechtigkeit, die ich ihn meinem Herzen fühle, die mich zerrissen hat wie nichts, war, dass mein Vater tun und lassen konnte, was er wollte, und meine Mutter ist bei ihm geblieben, direkt an seiner Seite. Das hat sie alles nicht bewegt, was er verbrochen hat. Sie hat das einfach hingenommen, weil es der Vater war,ihr Mann von Gottes Gnaden. Die Krone ihrer Schöpfung und der Welt, der Gott des Hauses, der Familie, das Oberhaupt, Ernährer und Erzieher, derjenige, der alles machen kann, egal was es auch ist, der niemals einsam sein wird, weil sie an seiner Seite bleibt, egal was auch geschieht.

Ich musste davor Angst haben, dass sie mich jederzeit alleine lassen konnten. Mein Vater war von dieser Angst befreit. Dank meiner Mutter. Sie wartete, egal was auch passierte, sie wartet heute noch auf meinen Vater. Auch wenn er schon seit Jahren nicht mehr lebt. Sie wartet. Sie hält damit noch heute an den Taten meines Vaters fest. Sie schützt den Vater. Das ist der Pakt. Die beiden sind niemals allein.

Und ich verachtete dann jeden Menschen, der nicht allein war. Denn ich verachtete und hasste jeden, der nicht allein gelassen wurde, der wütend wurde, reden durfte, wie er wollte. Ich hasste ihn für dieses Glück, nicht Angst zu haben vor jedem Wort und jeder Tat, für die ich doch als Kind nur ausgelacht, bestraft, beschimpft, geschlagen und allein gelassen worden war. Ich hasste alle Menschen, die nicht einsam werden konnten, die nicht in sich die Angst und diese Niedergeschlagenheit mit sich in ihren Augen trugen, dass alles doch nur scheinbar war, egal was ich auch machte. Denn Gott bestrafte kleine Sünden auf dem Fuße. Mein Vater trat mich einfach in den Hintern. Er kniff mir einfach in den Hals. Er drückte mich und schlug mich, wie er wollte. Und niemand hatte was dagegen. Mein Gott, war mein Herr Vater. Kein guter Hirte. Er konnte meine Welt vollkommen rücksichtslos regieren, weil er ja nie allein mit seinen Angelegenheiten war. Er musste nichts bedenken. Er hatte immer das Verständnis meiner Mutter. Er konnte sich darauf verlassen.

Ich wuchs tatsächlich im Gefängnis auf. Ich war dort ganz allein, weil meine Eltern meine Wärter waren. Sie waren nie allein. Sie hatten sich und ließen mich das spüren. Ich lernte nur die Einsamkeit zuhause kennen. Ich wusste nicht, dass draußen sein, auch eine andre Welt bedeutet kann, wenn wer sich um Gefühle kümmert. Nicht länger einsam sein.

Ich war auf jeden eifersüchtig, der nicht einsam war. Auf jeden, der sich freuen konnte. Ich war auf jeden eifersüchtig, der sich nicht einsam fühlte. Und ich verachtete die Liebe, Nähe, zueinander hingezogen sein und Innigkeit. Ich wusste nicht warum.

Ich wollte nichts mit Glück zu tun haben.

Sie wollten mich nicht bei sich haben, wenn sie sich gerne hatten. Sie hielten mich auch nie gemeinsam hoch. Sie waren gegen mich gemeinsam. Doch für mich nie zu zweit. Es gab kein Band. Sie waren nur gemeinsam stark für sich. Nie für mich. Sie machten sich niemals gemeinsam stark für mich. Nicht einmal für mich einzeln. Sie waren zwei und ich ein Kind. Das war die Zauberei. Der große Schwindel, ihre Lüge. Die Rechnung, die ich nie verstehen und auch niemals wirklich sehen konnte, wie so was möglich war. Es gab niemals Dreieinigkeit.

Wie kann das sein, dass 1+1+1 nur zweieinhalb ergibt? Zwei Menschen und ein Halber. So sagten sie das immer wieder, ein Kind sei noch kein ganzer Mensch. Nur irgendwie ein halber. Ich konnte diesen Schwachsinn nicht verstehen und musste nur darunter leiden.

Und schließ gefälligst hinter dir die Tür, wenn du weg gehst! Willst du vielleicht, dass wir uns hier verkühlen? Dass wir uns wegen dir den Tod hier holen?

Dabei ging ich in diese Kälte.

Die Wut vertreibt den Zwang zum einsam sein müssen. Denn wenn du wütend bist, erfüllst du nicht mehr stillschweigend Erwartungen. Nur das zu tun, was deine Eltern sich vorstellen. Verschweigen jeder Art von Schmerz aus Kindheitstagen. Sie zwingen dich zur Einsamkeit, damit du ihnen den Beweis erbringst und ihnen selbst die Lösung und Erlösung lieferst. Die Einsamkeit ist nicht so schlimm. Die kann ein jedes Kind vertragen. Das bringen sie dir bei. Sie schicken dich in deine Einsamkeit, und wenn du überlebst, dann bist du ihr lebendiger Beweis, dass man ein Kind ruhig vergessen kann. Im Grunde auch die ganze Kindheit. Nur deine Wut sagt dir genau, was dir dein Körper immer sagen wollte und was er nicht vergessen kann. Du willst nicht länger schweigsam und verschwiegen bleiben. Das wolltest du noch nie.

Du bist verzweifelt hin und her gerannt. Hast dich verzweifelt hin und her geworfen, gewendet und gedreht. Du hast gesucht, gesucht, gesucht, nach Möglichkeiten, die Einsamkeit doch abzuwenden. Du warst das, der so rasend war. Du warst das, der sich selbst äußern und für sich verwenden wollte. Du warst das, der nach Liebe rief. Du warst das draußen in der Kälte. Du warst so wütend. Du warst und bist erst recht so wütend.