Texte von Hugo Rupp

zu dir kommen

 

Er sagte: Ich habe mich entschuldigt. Seien Sie freundlich zu mir.

Ich schaute ihn an und sagte nichts. Ich war weder freundlich, noch interessierte mich seine Entschuldigung. Er hatte sich überhaupt nicht entschuldigt. Er sprach von sich in der dritten Person. Als wäre ich in seiner Haut und wüsste, dass er sich entschuldigt hätte. Das hatte er aber nicht. Er hatte finster geschaut, und ich war ebenso unfreundlich zu ihm gewesen. Ich spiegelte ihn, ohne es zu wissen. Er wollte, dass ich mir das Getränk, das er mir im vorbei Gehen umgestoßen hatte, und das auf dem Boden ausgelaufen war, bei der Bedienung wieder bestellen sollte. Er sagte das, als wäre es seine Gnade, sein Geschenk. Er ließ sich herab. Ich erwartete eher von ihm, dass er das Getränk bei der Bedienung bestellen sollte. Schließlich hatte er das Wasser umgestoßen. Ich sagte: Ich werde das Getränk bestellen, wann ich es will. Er drehte sich verächtlich um. Die Bedienung kam und sagte: Es ist heiß, wir sind alle erhitzt. Ich sagte: Sie müssen hier nicht moderieren.

Mein Vater und ich waren immerzu so zueinander. Wir versuchten uns Respekt beizubringen. Uns zu erziehen. Ich versuchte ihn zu erziehen, ohne dass ich wusste, dass ich das tat, und er versuchte mich zu erziehen. Das tat er allerdings von Anfang an. Mein Vater wollte respektiert werden. Er wollte Respekt, von jedem Menschen, jedem Ding und jedem Tier. Dass sich alles nach ihm richtete, seiner Art von Wünschen, seiner Art von Meinungen und Gedanken. Seiner Art von Hass. Dass auch die von ihm Gehassten und Verachteten und Beschimpften und Verfluchten respektierten, was er tat. Er wollte Respekt für seine vollkommene Respektlosigkeit von jenen, die er respektlos behandelte.

Mutter versuchte mich zu lehren, was es heißt, zu lieben für ein Kind. Wie sie schon nicht geliebt worden war, versuchte sie mich auch zu lieben; nicht NICHT zu lieben. Nur ja nicht NICHT zu lieben. Sie versuchte mich nicht zu hassen und hasste sich dafür. Ich hasste sie dann auch dafür. Kein Mensch kann einem beibringen, was Liebe ist, was sie bedeutet. Du kannst sie geben, schenken und wegwerfen. Lieben kannst du lebenslang, aber niemals Liebe lehren. Sie wollte ewig lieben lehren, damit ich sie auch ewig lieben würde. Sie lehrte mich stattdessen Einsamkeit und ohne Liebe auszukommen.

Ich hielt Ausschau nach den Menschen, denen ich Respekt beibringen konnte, indem ich ihnen zeigte, wie respektlos sie mir gegenüber waren. Ich baute ihnen Fallen auf, dass sie mich angingen, dass sie mich umrannten, aufscheuchten und erschreckten. Ich baute meine Kindheit nach. Ich wusste nicht, was ich da tat, was ich da immer wieder wiederholte. Der Zwang, mein unbekanntes Leid zu lindern, ohne zu wissen, warum es existierte. Den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Respektlosigkeit mit Respektlosigkeit und Heuchelei zu bekämpfen.

Ich wartete darauf, dass jemand mich ermahnte, damit ich endlich meine Sätze von Respekt und Aufmerksamkeit los werden konnte. Ich hielt mich für den Respektablen, der sich Respekt verschaffte, indem er ihn den anderen beibrachte.

Ich brachte jeder Frau Gefühle bei. Ich brachte jede Frau dazu, mich zu verlassen.

Wir waren einsam in der Wüste und fanden nichts dabei. Wir saßen da und unsre Leere wurde niemals weniger. Wir liebten uns zu wenig. Wir zeigten uns zu wenig von uns selbst. Ich und die Frau mir Gegenüber, wir machten uns zum Vorwurf insgeheim, dass jeder uns zu wenig liebte. Dass keiner uns verstand, der nächste noch am allerwenigsten.

Die Illusion geliebt zu werden, geliebt zu werden müssen, die Illusion dahinter ist, niemals die Liebe zu begreifen. Das ist die größte Lüge, die es gibt. Denn jedes Kind weiß ganz genau, was Liebe ist. Es rührt die Welt nicht an, die es nicht haben will. Ich rühr die Welt nicht an, die mich nicht liebt. Die Welt, die sich nicht rührt, die kann ich nicht ertragen. Ein Kind kann sich nicht ohne Liebe lieben. Ich will den, der mich schlägt, nicht länger anfassen. Ich kann als Kind nur Liebe greifen. Ich kann nur Liebe selbst begreifen. Ich kann nicht anders, als zu lieben. Das kann ich auch begreifen. Ich kann die Mutter, wenn sie tot spielt, doch nicht mehr lieben. Wie soll ein Kind das tun, etwas zu lieben, das nicht da ist, das schweigt und stumm ist, geht und wieder geht und immer wieder geht und mit dem Tode droht?

Ich will niemand berühren, der sich nicht rührt, der nicht berührt, den nichts von mir berührt, den will ich doch nicht mehr berühren. Ich will ihr nicht mehr näher kommen und muss das doch so tun. Ich muss mich ihr annähern, sonst bin ich ganz allein.

Ich küsse meinen Vater, ich renne ihm auch nach. Ich küsse seine Backen und rufe seinen Namen. Ich rufe immer wieder seinen Namen, dass er nicht weggeht von zuhause. Ich rufe immer wieder seinen Namen und meiner Mutter hinterher. Solange ich die Mutter nur beschuldigte, kam Vater gut davon. Solange ich den Vater auch beschuldigte, verschwand die Mutter eine Zeitlang aus meinem Sinn für Liebe. Ich konnte mir nicht merken, dass beide ohne Liebe sind und waren, dass beide unbegreiflich waren; ungeheuerlich.

Indizien sind Indizien, das schlimme daran ist, dass ich als Kind das nicht begreifen konnte. Ich wäre still gestanden, mit meinen Vater Worten, und ohne Liebe eingegangen, mit dem Mutter Herz, wenn ich die Welt für mich als Einheit begriffen hätte, als Kugel nur, als ganzes.

Das Bild des Balls, der seine Eigenschaft verliert. Ich konnte diesen Traum als Kind nicht ganz begreifen. Die weiße und die rote Farbe. Die Mutter und der Vater. Egal, wie ich es drehen mag und immer wieder wende. Egal, wie oft ich diese Kugel, diesen Ball, noch drehe und auch kreisen lasse, rollen. Das Spiel ist aus. Es kommt nie Liebe und Respekt heraus. Ich hab in diesen Ball gebissen. Das einzige, was ich dann wirklich raus bekam, war Luft gewesen. Nichts war darin enthalten. Nichts als Luft.

Ich rannte zwischen Spiegeln hin und her und was ich darin sah, war immer nur das Bild des anderen. Ich selbst mit beiden Elternteilen. Ich sah mich immer selbst dabei, dabei den andern immer auch missachten. Ich suchte nach dem einen Bild, das sich dann endlich doch noch zeigen sollte. Ich ohne meine Eltern und ganz allein und ohne eine Hoffnung auf Bezug zu einem anderen. Ich nur allein, jetzt aufgehoben. Der Spiegel ist nicht leer, solange ich mich sehen kann.

Der leere Spiegel ist nur wieder eine Illusion, die Liebe könnte es dort geben, wo ich nie war, dort an der Stelle meiner Eltern. Dort war ich aber nicht als Kind. Nie war ich ohne sie. Als Kind war ich nie ohne sie. Ich war nicht ohne meine Eltern. Ich lernte das respektlos sein und ohne Liebe existieren. Ich lernte mich damit in einem Spiegel zu betrachten und mich so sehr verachten, mit meiner Sehnsucht nach der Liebe, dass ich mein Spiegelbild nicht mehr erkannte. Ich habe immer wieder mich und mich und mich darin gesehen, nur immer wieder mich in meinen Eltern. Ich konnte mich nicht ohne sehen. Ich konnte mich nicht ohne meine Eltern sehen. So ist es doch gewesen. Ich musste mich in ihnen sehen, sonst wäre ich verschwunden, ganz ohne Liebe und Respekt. Ich musste mich mit ihnen spiegeln. Ein Kind kann ohne Spiegel nicht überleben. Allein in seiner Einsamkeit fällt es in sich, ins Nichts zurück, in seine unbewusste Vorgeschichte, sein Wissen ohne Wissen. In eine Welt vor allen Rufen. Ein Kind, das in der Einsamkeit, nicht mehr nach Liebe ruft und schreit und sich so suchend retten will, stirbt dort vom Fleck weg. Hört auf zu atmen. Kein Hauch beschlägt den Spiegel dann.

Ich verfügte über Liebe. Sie war in mir enthalten

Ich konnte mir Respekt nicht beibringen. Respekt kam nicht zu mir. Ich lernte lieben lernen. So wollte ich dann später allen Liebe lehren und beibringen.

Wir brachten uns dann später alle Liebe bei und keiner hatte welche in sich ruhen. Denn wir verfügten immer wieder nur, nach unserem Vorbild unserer Eltern. Wir trieben uns die Liebe aus. Als würden wir nur töten, was wir lieben. Und doch war alles falsch. Die Liebe, die in uns, als wir die Kinder waren, war, die wurde doch in uns zerstört und dann mit Sprüchen, Worten nur ersetzt.

Das Echo meiner ersten Wut. Zuneigung für mich.

Du rufst nach dir!?

Ich kann dir endlich antworten.

Die Tür war schuld, denn sie verschloss den Raum und machte mich einsam. Die Tür trennte mich, sie machte auch die Töne, Laute weg, die ich noch von ihr, vorher hörte. Die Tür ist schuld daran. Die zugefallene Tür. Das Schloss ist schuld, wenn etwas ist, wenn jemand nicht gleich kommt. Der Wind schlägt diese Tür ins Schloss. Dann ist der Wind verantwortlich. Hat der Wind die Tür ins Schloss geschlagen? Die Tür zu gemacht? Die Tür geht lautlos zu, so lautlos wie noch nie zuvor. Von Geisterhand bewegt, bewegt sich auch die Türklinke, dann schließt die Tür und auch die Klinke geht nach oben. Von Geisterhand bewegt, von niemandem. Ein Klinkenwesen, das Klinken unsichtbar bewegt, ein Zauberer, ein Geist der Türen schließt.

Dann schrie ich wieder. Die Welt war leer. Der leere Raum, ein Raum, wo ich nur war, allein. Ich suche nicht Erklärungen. Als Kind kann ich das nicht. Die Wechselwirkungen, die Regeln meines Lebens zu erklären, das Theoretische, die Zukunft und Vergangenheit, die Gegenwart erklären. Das kann ich nicht als Kind. Ich habe keine Art Erklärung. Ich hatte keine für mich selbst. Ich reagiere mit der Wut und habe keine andren Gründe. Das ist die Sorge meines Lebens, natürlich mich zu wehren. Ich hatte keine Phantasie zur Flucht vorrätig.

Verstummt

Ich sah den Jungen, wie er vor mir ging und dann die Ladentüre öffnete. Er hielt die Klinke fest und wartete. Er schaute in das Glas der Tür, dann merkte er, dass jemand, ich, hinter ihm war, und ließ die Klinke los. Er schaute mich kurz an, dann drehte er sich weg, tat einen Schritt nach draußen, blinzelte. Ich ging nach ihm hinaus und schloss die Tür. Der Junge stand jetzt da und schaute wieder diese Türe an. Dann rief die Mutter, die ein paar Meter weiter stand, ihm zu, was er da wieder machen würde. Der Junge sagte nichts und reagierte nicht auf ihre Frage. Da ging die Mutter einfach weg und bog um eine Ecke. Der Junge schaute in das Fenster und bemerkte dann, dass seine Mutter weg war, plötzlich. Er ging entlang des Schaufensters bis zu der nächsten Tür und ging nach rechts, verschwand eine Sekunde und tauchte wieder auf. Da war sie nicht verschwunden. Er schaute mich jetzt an und ich erkannte seine Angst, die älter war, als irgendeine andere, er schaute und er fragte stumm. Ich sagte: Dort rechts, dahinter, dort ist sie rein. Er drehte sich nur um und ging dann einfach weiter. Ich stieg aufs Rad und fuhr davon. Ich schaute in den Boden. So war es doch gewesen, so war es immer schon gewesen. Sie geht und lässt den Jungen stehen, und sagt, da ist doch nichts gewesen. Sie geht und schließt die Tür, der Junge bleibt allein im Zimmer. Der Junge kommt nach Hause und freut sich, und sie versteckt sich vor ihm.

Ich dachte immer, ich wäre schuld an dieser Wut, die in mir war, die ich doch dauernd spürte und verdrückte, es hinge Schuld an meiner Wut. Als wäre meine Wut, die Strafe für Verhalten. Als könnte diese Wut niemals aus meinem Körper weichen, weil ich doch selbst dafür verantwortlich war. Als wäre meine Wut die Strafe für ein Vergehen, für ungebührliches Verhalten.

Sie strafte mich für mein Verhalten. Nicht meine Wut. Die Wut straft nicht. Das ist doch keine Strafe. Sie straft die Wut. Das ist doch alles umgekehrt. Der Junge, der die Tür anschaute, der wollte doch nur schauen. Nur einmal länger schauen. Das wollte seine Mutter nicht. Sie duldete das nicht. Sie ging, das war die Strafe für sein Verhalten, das sie als Ungehorsam wohl empfand.

Die Wut ist keine Strafe.

Die Mutter strafte meine Wut, so oft, so früh. Sie strafte meine Wut auf ihr Verhalten. Sie strafte mein Verhalten, dass ich wütend wurde. Sie strafte jedes Mal die Wut, so wurde ich noch wütender, bis ich die Wut, vollkommen ohne Ziel und Grund, ich war mit mir und meiner Wut doch stets allein gewesen, in mir als Strafe selbst empfand. Ich mich dafür bestrafte. Ich strafte meine Wut für ihr Verhalten. Ich strafte meine Wut für mich.

Die eigne Wut bestrafen, das lernte ich. Sie straften meine Wut und lehrten mich, die Wut in mir bestrafen. Mit Missachtung, wie sie mir das beibrachten. Denn immer wenn ich wütend wurde, missachteten sie mich dafür. Sie gingen weg und ließen mich allein, und Vater schlug mich, wenn ich wütend wurde. Sie lehrten mich, dass Wut selbst eine Strafe sei. Missachtung anderer. Dass meine Wut, Missachtung sei. Dass ich missachtete. Sie drehten alles um. So lernte ich mich auch umdrehen.

Ich folgte ihnen schließlich ohne Widerrede. Wie dieser arme Junge da, der seine Mutter suchte. Weil er sie suchen musste. Denn sie ließ ihn allein. Sie lehrte ihn verlassen. Und das versucht er dann zeitlebens, die Mutter zu verlassen, das was sie ihm beibrachte auch wieder beizubringen. Sie strafte mich für sich, für einen Wunsch nach dem Verlassen. Der Wunsch, verlassen wollen, der kam in mich von ihr. Der Wunsch, verlassen wollen, nur immer wieder gehen wollen, der kam somit in mich. Den Wunsch, mich zu verlassen wollen, der kam mit ihr. Ich musste mich verlassen, ich musste mich mit meiner Wut verlassen und verwunschen fühlen, sonst wäre ich allein gewesen. Nur wieder so allein, wie mit der ersten Wut, mit meiner Reaktion auf ihr Weggehen. Allein in einem Raum zu sein. Allein in einer Welt.

Nie wieder so allein. Nie wieder so allein. Nie wieder diesen ersten Liebeshunger spüren, dieses Gefühl, ohne Erklärung. Die reine Seele, ihre Äußerung. Vom Schmerz allein zu sein.

Da ist kein Wunsch allein zu sein. Da war kein Wunsch allein zu sein. Kein Kind wünscht sich allein zu sein. Allein sein schmerzt. Ein Kind kann seine Eltern nicht verlassen. Wie sollte es das tun, wie sollte es sich, auf der Welt, das wünschen?

Sie ließen dich allein, das konntest du als Kind nicht wissen und begreifen. Du konntest diesen Schmerz nie klären und deine Wut darüber zugeben. Sie gaben dir die Schuld für ihr Versagen, denn sie versagten sich, nicht umgekehrt.

Du bist tatsächlich noch zu dir gekommen und hast auf dich gehört. In höchster Not. Sie kamen nicht auf deine Hilferufe hin. Dein Warten auf die Liebe hört jetzt auf.