Texte von Hugo Rupp

Warten auf die Vergeltung

ich rufe jemand

da dreht sich die Welt mir zu

und ich bin nicht mehr da

Tanikawa Shuntaro

 

Mein Wunsch was Besseres zu sein, was Besseres sein zu müssen. Wie meine Mutter, die mir das immer wieder vorgemacht hatte, sie würde etwas Besseres verdienen. Sie hätte etwas Besseres verdient. Sie hätte etwas Besseres als mich verdient. Das habe ich dann später auch gedacht. Dass ich was Besseres verdient gehabt hätte.

Geschenke, die mich amüsierten.

Was soll ich denn mit diesem Zeug!?

Ihr abfälliger Blick, mit dem ich aufgewachsen bin. Mit dem sie mich von Anfang an erdrückt hatte.

Du schreist doch nur, um mich zu ärgern! Du führst dich doch nur künstlich auf. Du hast doch alles, was du brauchst.

Wenn ich ihr nachlief, und sie mich wegstieß und wenn sie sich versteckte. Sie fasste mich nie ohne Vorwurf an. Sie rührte keinen Finger ohne einen Vorwurf.

Das wirst du mir noch büßen!

Wenn ich nicht meine Augen niederschlug, nicht augenblicklich still, demütig, untertänigst wurde. Im Grunde dachte ich, dass ich gestraft wäre, wenn ich für jemand was empfände, wenn ich mit jemandem zusammen sein würde, wenn ich für jemanden was übrig hätte. Wenn ich nach Hilfe schrie, nach Hilfe schreien wollte.

Was schaust du mich so an?!

Kein Zuspruch ohne einen Vorwurf.

Halt dich zurück!

Die Frau im See aus meinem Traum. Die Frau, die mich mit ihren Blicken straft.

Was führst du dich so auf!? Ich bin doch da!

Beschuldigt, denke ich, ich wäre es nicht wert, dass man mich sucht, dass man auf meine Schreie reagierte. Ich wäre es nicht wert, dass man mich holt; dass man mich aus dem Fenster hält und fallen lassen kann, weil ich nichts wert bin. So oder so. Ob sie mich fallen lassen möchte oder nicht. So oder so, ich habe gar nichts Besseres verdient.

Halt dich zurück!

So wie ich mich in meinen Träumen auch zurückgehalten habe, mit abgefahrenen Zügen. So wie ich mich in meinen Träumen auch verletzte. Mit der Zurückhaltung, indem ich mich und alle anderen versetzte.

Gleich bin ich wieder da.

Endlich begreife ich, dass ich tatsächlich Schuldgefühle haben kann, ohne in Wahrheit deswegen schuldig sein zu müssen.

Stell dich nicht dümmer, als du bist! Und stell dich nicht so an! Nimm deine Hände aus den Taschen!

Die Züge in den Träumen, all die Verpassten. Die Flugzeuge, die ohne mich wegflogen. Alles verpasste ich und würde ich verpassen.

Kannst du nicht einmal richtig gehen!?

Wenn ich mich haudig fühlte, wacklig und nicht ganz auf dem Damm.

Was habe ich nicht alles hin und hergeschoben. Von meiner rechten auf die linke Seite. Wenn sie nur sah, wie ich mit meiner linken Hand nach etwas greifen wollte, verzog sie nicht nur ihren Mund. Endlich fällt mir das wieder ein, wie sie mir Sachen vor der Nase weggezogen hat, damit ich sie nicht greifen und erreichen hatte können, mit meiner linken Hand.

Im Traum renn ich mit einem Freund vor irgendjemandem davon. Und plötzlich seh ich eine Röhre und krieche darin rum. Dann sehe ich ein Licht. Die Röhre ist ganz weiß und nigelnagelneu, und über mir ist eine Vorrichtung in rot, gezackter Kranz, ein Sprinkler, und immer enger und erdrückender wird jetzt der Gang, und plötzlich merke ich, wenn ich noch weiter krieche, dann kann ich mich nicht mehr befreien, dann stecke ich am Ende fest und kann mich nicht mehr rühren, dann komm ich aus der Röhre nicht mehr raus. Und wenn ich schreie, dann wird mich niemand hören. Ich werde in der Röhre stecken, bis ich verhungert und verdurstet bin. Dann drehe ich mich um und robbe rückwärts und plötzlich ist der Boden schwammig und schleimig und braun wie Matsch und ein Morast.

Sie hielt mir meinen Mund und meine Nase zu, dass ich zu schreien aufhörte.

Am Friedhof fällt mir wieder ein, der tote Junge, der im offenen Sarg liegt, im Leichenschauhaus aufgebahrt. Als wäre er erstickt worden. Ein Auge offen und der Mund, ein stummer Schrei.

Schau mich gefälligst an!

Warum kam ich in meinen Träumen nur zu spät. Was wollte ich versäumen und vergessen. Warum wünsch ich mir immer nur zu spät zu sein. In Wirklichkeit bin ich ja pünktlich. Was stimmt denn nicht mit mir? Woher kommt diese Unwucht? Warum vergesse ich die Abfahrtszeiten. Warum komm ich zu spät. Was habe ich versäumt? Was sollte ich als Kind nur immerzu versäumen. Was wollte ich mir ausreden? Was habe ich nur übersehen?

Das ist doch Schnee von gestern!

Wie konnte ich nur zum Friedhof gehen und mir ein totes Kind in einem offenen Sarg ansehen? Was hatte mich geritten und dorthin getrieben. Was hatte mich dazu gebracht, dass ich den Wunsch tatsächlich in die Tat umsetzte, mir ganz allein und freiwillig den Leichnam eines toten Jungen anzusehen, und dabei war ich erst 10 Jahre alt.

Du musst dich doch vor uns nicht fürchten!

Ich bin doch schließlich selber schuld, wenn ich mich einsam und verlassen fühle. Ich bin doch schließlich selber schuld, wenn ich mich gehenlasse.

Was ist denn jetzt schon wieder los!? Hat es dir deine Sprache nun verschlagen?

Kein Wunder, dass es immer irgendwo in meinem Körper zog. Dass etwas in mir floh und wanderte, von einem Fleck zum andern.

Was bist du nur so nachtragend!?

Es half ja wirklich alles nichts, nicht mal mehr Jähzorn.

Das bildest du dir ein!

Und immer wieder Angst, dass ich sie wieder nicht verstehen würde. Dass ich was nicht begreifen kann. Dass ich dafür bestraft würde, weil ich nicht richtig zuhörte.

Was hast du denn?!

Sie zwickte mich, sie weckte mich, sie spielte tote Frau. Wer hätte das gedacht, dass sie mich immer wieder weckte. Ein kleines Kind, das schläft.

Jahrzehnte lang bin ich um 5 Uhr aufgewacht. Die stille Wut um 5 Uhr Früh, im Wald, am See, obwohl ganz offensichtlich alles ruhig schien, um 5 Uhr Früh, vor Sonnenaufgang. Nicht einmal Vögel zwitscherten. Wenn sie am Morgen in mein Bett kam, um fünf Uhr Früh, wenn Vater aufwachte und von ihr etwas haben wollte, floh sie aus ihrem Bett.

Sie riss an meinem Glied und sie bestrafte mich, anstatt des Vaters. Sie riss an meiner Männlichkeit und sie verletzte mich für jede Erektion. Sie machte mich nur klein und lächerlich.

Was würdest du nur machen, wenn du mich nicht hättest!?

Wofür ich mich so schämte.

Laß dir doch helfen! Was ist denn schon dabei?

Warum ich mir von niemandem mehr etwas sagen lassen wollte. Warum ich mir nicht helfen lassen konnte, auch wenn es jemand gut mit mir gemeint hätte.

Soll ich dir nicht behilflich sein?!

Was stimmt denn nicht mit mir?! Warum lass ich mir denn nicht helfen!?

Sie machte meine Hausaufgaben. Sie malte meine Bilder für die Schule. Sie hatte damit schon im Kindergarten angefangen, die Bilder weiter zu malen, die ich nach Hause brachte.

Was führst du dich so auf!?

Später versuchte ich tatsächlich so zu tun, als wäre ich nicht da. Als wäre ich nie da gewesen. Der Traum vom See. Ich steh dabei im Wald, bin still und stumm, versuche so zu tun, als wäre ich nicht da. Als würde mich gar nichts berühren. Als hätte es mich nie gegeben. Als würde es mich gar nicht geben.

Als wäre mein Bedürfnis, mit meiner linken Hand nach ihr zu greifen, nicht da gewesen. Als wäre meine linke Seite nur ein Traum und in der Wirklichkeit nie da gewesen. Als wäre mein Bedürfnis, mich nach ihr umzudrehen, ihr nachzuschauen, sie zu suchen, nie wahr gewesen. Als wäre mein Bedürfnis, mich nach der Liebe umzuschauen, niemals in mir gewesen.

Was hast du denn?! Ich bin doch da!

Dass sie sofort dafür Vergeltung fand, wenn ich ihr nicht gehorchte und vergab. Wenn ich ihr nicht vergeben kann, dann werde ich das büßen. Wenn ich ihr nicht vergeben kann, dann wird sie mich bestrafen.

Das hast du nun davon.

Ich blickte immerzu nach links mir über meine Schulter. Ich konnte gar nicht anders, als meinen Vater hinter mir zu suchen.

Weil ich ihn mochte.

Warum ich ihm vergeben kann und meiner Mutter nicht. Ein Auge offen, eines zu.

Ich kann nur dem vergeben, den ich mag.

Die Gänsehaut, wenn mir mein Körper sagt, ich sollte mir Gedanken machen, doch nichts davon erzählen und verraten.

Wie meine Mutter mich verrückt gemacht hatte mit ihren Drohungen, mit den Geschichten über Tod und Tote und Ertrunkene und Kranke, und Frauen, die ins Wasser gingen und verschwanden, auf Nimmerwiedersehen. Dem Untergang geweiht. Die Frau vom See, schön, ruhig und gelassen wirkend.

Jetzt sei schön brav. Dann wird dir nichts passieren.

Weil ich darauf nur warten kann, dass meine Mutter mich erschreckt. Als wär ich hungrig nach Vergeltung und Bestrafung.

Was schreist du denn?! Da ist doch nichts! Ich bin doch da.

Als hätte ich den Wunsch und ein Bedürfnis mich zu fürchten. So kam mir das tatsächlich vor. Als wäre ich schon immer hungrig nach der Angst gewesen und nach der Furcht. Als müsste ich mich schrecken.

Besuch des toten Jungen. Ich ging zum Friedhof, gerade weil ich meine Angst an ihm vergelten hatte wollen.

Die Angst vor der Vergeltung, Angst vor der Wut.

Ein Auge offen, eines zu.

Du brauchst doch keine Angst vor mir zu haben!

Sie hat gar keine Angst am Untergehen und am Untergang gehabt, die Frau im See aus meinem Traum, wird mir jetzt endlich klar. Ich hatte sie. Ich hatte als Kind diese Angst vor der Vergeltung übernommen.

Du musst dich doch nicht fürchten!?

Sie hat mir meine Angst niemals genommen. Sie hat sie mir gemacht. Endlich verstehe ich, dass meine Mutter mir die Angst vor der Bestrafung und Vergeltung machte und niemand sonst. Kein Gott, kein fremdes, höheres Wesen, mein Vater auch nicht und auch meine Oma nicht. Endlich begreife ich, dass es gar keinen anderen Grund für meine Angst vor der Vergeltung gab.

Das lass ich mir von dir nicht sagen!

Ich war das aufgebahrte Kind, und meine Mutter hat mich aufgebahrt. Ich war das aufgebahrte Kind, aus Angst vor der Vergeltung. Das steckte hinter all den Bildern und Verweisen. Ich war das aufgebahrte Kind.

Wenn ich nach Nähe und nach Zuneigung, nach Liebe und Verständnis bei ihr suchte. Wenn ich nur hungrig war. Wenn ich die Augen vor ihr aufriss. Warum ich meine Mutter scheute. Warum ich immer wieder später jemanden erschreckte. Warum ich jemandem die Augen öffnen wollte, mit Schrecken und Vergeltung. Warum ich als Kind scheute und meine Augen aufriss wie ein Pferd.

Als wär der Schrecken nicht nur ein Gefühl, sondern auch mein Bedürfnis, mein ganz spezieller Hunger; mit dem ich meine Einsamkeit ertrug. Als könnte ich mit meiner Angst etwas aufräumen und wegkriegen.

Träume von Scheu, Verlegenheit, Vergeltung und Vergebung und von Traurigkeit.

Jetzt lass mich endlich wieder los. Du tust mir ja noch weh!

Ein Auge offen, eines zu.

Für jede noch so kleine Träne, hat sie mich abgestraft.

Wenn ich dahinter komm, dann wirst du was erleben!

Wie stumm ich plötzlich war, wie schnell ich plötzlich still, vollkommen still geworden war.

Siehst du, geht doch!

Endlich begreife ich die Traurigkeit. Endlich kommt die heraus. Wie sie mich dirigierte. Wie sie mich mundtot machte, dass ich schließlich nicht einmal mehr die eigene Traurigkeit ertrug und nicht mehr weiter schluchzte. Wie meine Mutter mich mundtot gemacht hatte, mit ihrer Sprache, ihren Gesten, ihren Geschichten, ihren Gleichnissen und Drohungen, ihren Verrissen, ihrem Hass.

Die Frau im See in mir.

Wie ich mundtot gemacht wurde und wie ich auf dem besten Weg gewesen bin, auch andere, so wie mich selbst, mundtot zu machen, unauffindbar.

Dass ich nicht rückwärts schauen soll, fällt mir jetzt ein.

Und fall nicht wieder hin.

Wenn ich nicht aufpasse, dann merkt die Mutter das. Wenn ich nicht alles richtig ordne und zusammenklaube, dann merkt die das und schimpft mich dann, wenn ich nicht augenblicklich aufhöre, mich zu beklagen. Dann merkt die das, wenn ich nicht richtig schaue und aufpasse. Dann merkt die das.

Sie wollte, dass ich nie begreife, dass sie was Schlechtes macht und sagt. Sie will, dass ich nie etwas Schlechtes zu ihr sage. Dass ich nie etwas Schlechtes über meine Mutter sage. Dass ich nie Schlechtes über meine Mutter sagen werde. Dass ich nichts Schlechtes über meine Mutter sagen kann.

Endlich kommt das heraus, dass ich tatsächlich lernen sollte, nie etwas Schlechtes über sie zu sagen. Und wie verzweifelt ich auch war und wie verzweifelt ich auch bin, nie etwas Schlechtes soll ich über meine Mutter sagen.

Aus Angst vor der Vergeltung. Sonst kommt der Schwarze Mann. Denk nie was Schlechtes von der Mutter, sonst wird mir was passieren. Das habe ich gedacht, das habe ich als Kind wirklich gedacht auf Mutters Satz hin: Du wirst noch an mich denken. Freu dich nur nicht zu früh!

Nie etwas Schlechtes von ihr denken, sonst trifft mich gleich der Schlag, sprich die Vergeltung.

Mein Zucken, meine Scheu, wenn mich wer anschaute, wenn jemand meinen Blick begriff. Ich fühlte mich erwischt, dass ich was Schlechtes über jemanden gedacht hatte. Ich fühlte mich erwischt. So eine Angst vor der Vergeltung war in mir gewesen. Wenn ich nur etwas Schlechtes dachte, dann würde ich bestraft werden.

Wenn jemand meinen Blick einfing. Endlich begreife ich den rettenden Gedanken.

Es hat sich nie etwas für mich verändert, solange ich nicht schlecht, solange ich nichts Schlechtes von meiner Mutter denken konnte. Solange ich nicht schlecht von meiner Mutter denken kann, bekomme ich auch keine Hoffnung. Solange ich nicht schlecht von meiner Mutter denken kann, kann ich mir selbst nicht helfen.

Die Frau im See.

Der tote Junge aufgebahrt.

Die Angst davor.

Die abgefahrenen Züge.

Ja bist du denn zu dumm! Kannst du nicht richtig lesen?!

Was regst du dich so auf? Wärst du halt früher hier gewesen. Jetzt ist es halt zu spät!

Jetzt kann man nichts mehr machen.

Was meine Mutter mit mir machte, war immer nur bloßstellend.

Hättest halt besser aufgepasst! Hab ich dir nicht gesagt, pass auf?! Hab ich dir nicht gesagt, geh da nicht hin?!

Und wer nicht hören will, muss schließlich fühlen!

Eine Auge offen, eines zu. Der tote Junge aufgebahrt. Bloßstellung meiner selbst. Und meiner Einsamkeit.

Sie rührte keinen Finger.

Ich sollte keine Träne weinen lernen. Mir nicht mal selber helfen lernen. Untätig sein und keinen Finger rühren lernen. Für mich nicht und für keinen anderen. Ein Auge offen, eines zu. Zuschauen und nichts tun.

Endlich verstehe ich die lähmende Untätigkeit. Das aufgebahrte Kind, zur Untätigkeit verdammt. Welt ohne Wut.

Sie machte keinen Finger für mich krumm.

Eins mit der Einsamkeit und wie es sich in einem Leichenschauhaus lebt. In einer Welt ganz ohne Wut. In einer Welt der Unterdrückung und Bloßstellung.

Was hast du denn?!

Ich tu dir doch gar nichts!

Endlich begreife ich, ich konnte von ihr gar nichts anderes erwarten, als die Vergeltung und Bloßstellung meiner Angst.

Sie konnte Angst nur bloßstellen.

Du böses, böses Kind!

Vor jeder Regung Angst zu kriegen, vor jeder Reaktion. Vor jedem Laut und Ton. Vor jeder Regung mich erschrecken.

Ich konnte der Vergeltung als Kind nicht entgehen, deswegen hatte ich ja später selbst den Wunsch nach der Vergeltung. Ich konnte der Vergeltung nicht entgehen. Ich musste darauf achten. Ich musste darauf warten. Ich musste darauf achten lernen. Auch wenn ich keine Fehler machte. Auch wenn ich gar nichts tat. Auch wenn ich überhaupt nichts angestellt hatte. Auch wenn ich ruhig war und untertänig. Sie suchte nach Vergeltung. Sie suchte ja danach. Ich konnte nichts dagegen tun. Ich konnte nur untätig auf Vergeltung warten. Mundtot gemacht, ohne die Wut und meine Tränen, suchte ich selbst nach der Vergeltung schließlich.

Jetzt wird mir auch mein Wünschen um das Warten in den Träumen klar. Die abgefahrenen Züge. Dass ich davonkomme. Und dass ich nicht davonkomme. Und dass ich der Vergeltung nur entgehen kann, wenn ich nie wieder irgendwo ankommen kann. Flucht vor mir selbst. Und in der Schwebe. Die Frau im See, die weder untergeht, noch aus dem Wasser steigt.

Ich selbst bin die Vergeltung und Vergebung. Ich bin vor mir selbst auf der Flucht, aus Angst vor der Vergeltung. Solange ich nicht weiß, dass meine Mutter mich nicht mehr erreicht.

Die Züge fahren nicht mehr ab. Die Flüge werden eingestellt. Alle Verbindungen sind abgesagt oder gestrichen. Und neue Flüge gibt es nicht. Und Züge werden nicht mehr aufgerufen. Vergebung und Vergeltung ist vorbei. Sollte verschwinden. Unmöglich war mir das als Kind, mein Warten auf Vergeltung aufzugeben, mein Warten darauf abzuschalten. Unmöglich war mir das als Kind, weil meine Mutter niemals damit aufhörte, mit der Vergeltung, und dass ich ihr vergeben sollte. Was in mir unaufhörlich pochte, war meine Wut. Nur konnte ich sie nicht mehr orten und mich danach auch richten.

Die Züge, die nicht fuhren.

 

Mein Warten auf Vergebung und Vergeltung. Ich stand am Bahnsteig ratlos rum und suchte fieberhaft mich zu erinnern, wohin ich eigentlich wollte. Woher ich überhaupt gekommen war. Aus Angst vor der Vergeltung blieb ich stehen. Wie alle Züge und die Flüge in den Träumen. Nichts ging mehr vorwärts oder rückwärts. Nichts hörte mir mehr zu.

Warum!?

Ich wollte doch als Kind gar nicht vergeben und vergelten. Ich wollte das ja gar nicht können. Ich wollte wütend sein und wütend werden. Ich wollte meinen Zorn und mein Gefühl für Traurigkeit und Hass. Das stand mir schließlich zu und ins Gesicht geschrieben. Und nichts daran war Schuld oder war schlecht geraten. Nichts an Gefühlen war verkommen, bis meine Mutter mich verletzte, mit ihrem Schimpfen und Bloßstellen, mit den Geboten. Mit dem Vergelten meiner Angst und dass ich ihr vergeben sollte, obwohl ich immer wieder weinte.

Was bildest du dir ein!?

Wenn ich mir selbst nicht gleich gefalle. Wenn ich mir selbst nicht gleich gefallen kann. Dann werde ich vergeltend. Wenn ich mir selbst nicht gleich vergeben kann. Wenn ich mir nicht etwas vergeben will. Wenn ich mich selbst für etwas schimpfe. Wenn ich Vergeltung an mir selbst ausübe, für ein Versehen, einen Fehler oder einen Unfall. Das hat die Angst gemacht. Angstmacherei. Ein Wrack aus Angst, war ich.

Wenn ich ihr nicht sofort gefiel, hat meine Mutter mich bestraft.

Und wie mich das erschöpfte, Vergeltung und Vergebung; ewig darauf zu warten. Mir selbst mein Zittern und mein Weinen auszureden und abzugewöhnen.

Wie mich das niedermachte, nie eine echte Reaktion zeigen zu dürfen. Dass ich mich schließlich gegen die Empfindung meines Schmerzes wehrte, gegen das schreckliche Gefühl, allein und immer nur allein damit zu sein.

Dass mich die ganze Welt bestraft, wenn ich noch einmal schreie, dass sie deswegen nicht mehr wieder kommt. Dass mich die ganze Welt alleine lassen kann, wenn ich noch einmal so laut schreie, so laut ich eben kann.

Endlich wird mir das klar, nach was ich in den Träumen suchte, dass mir nur einmal wenigstens nicht jemand einen Fehler vorhält oder mein Versagen. Dass mir ein guter Geist erscheint, und mir jetzt nichts vorhält.

Wenn ich nicht weiß, wie’s weitergeht mit meiner Angst.

Ich wusste nicht, kein guter Geist liest mir Leviten. Ein guter Geist macht mich nicht krank. Ein guter Geist macht mich nicht schlecht. Ein guter Geist greift mich nicht grundlos an. Danach hab ich gesucht, in all den Tränen und Geschichten und meinen Träumen. Nach einem Geist, der mich nicht heimsucht und besucht, nur um mir wehzutun und mich zu quälen, mit Schrecken und Erschrecken. Auf jemand, der mir hilft und nicht nur die Leviten liest, hab ich in meiner Einsamkeit gewartet. Das hatte ich mir nicht gemerkt. Das hatte ich mir so gewünscht. Weil ich, wenn meine Mutter wieder kam, doch gleich gesehen und bemerkt habe, dass sie nur wieder mit Vergeltung kam, dass sie schon angezündet kam.

Aus meiner Einsamkeit heraus.

Woher mein Warten auf Vergeltung kam, wie mein Gefühl dafür zustande kam. Sie hatte mich als Kind von Anfang an mit Dreck beworfen. Mit Schimpf, mit Schande und mit Schuld. Sie hatte mich von Anfang an beschmutzt. Sie konnte nur beschmutzen und mich mit Dreck bewerfen. Und ich versuchte immerzu den Dreck, mit meinen Tränen wieder loszuwerden. Die Schuld und Schande wurde ich nicht los. Wegwaschen wollte ich die Scham, die Schande und die Schuld mit meiner Wut und meinem Zorn. Und meinem unterdrückten Hass schließlich, indem ich es wie sie dann später machte, mit dem Beschuldigen, an anderen vergelten, was meine Mutter mir einst angetan hatte. Mit Schmutz nach andren werfen, weil ich den Dreck von meiner Seele nicht mehr wegbekam, ohne die Wut auf meine Mutter. Mit ihr zusammen zu sein, bedeutete für mich als Kind, den ganzen Tag mit Dreck beworfen zu werden, mit Schimpf und Schande und mit Schuld beworfen zu werden, und nichts dagegen tun zu können.