Texte von Hugo Rupp

Vom Zwang zur Abwehr

Der unbewusste Zwang, verdrängte Verletzungen zu rächen, ist stärker als jede Vernunft.

Alice Miller Abbruch der Schweigemauer

Was ist denn jetzt schon wieder los?!

Dass nichts von mir im Grunde wünschenswert erscheint. Dass sie sich immer nur von mir was anderes erhofft hatte. Und ganz egal, was ich ihr auch zu geben und zu schenken habe, dass ihr davon gar nichts gefällt. Ob Hilferuf, ob Schmerzenslaut, ob Ängstlichkeit, ob Mitteilungsbedürfnis, oder nur einfach Sehnsucht nach Gesellschaft und nach Liebe. Ganz einerlei, sie hat gleich alles nur beschämt und mich erschreckt. Dass nie was Gutes von mir kommen kann, hat sie mir beigebracht, dass mir nichts andres übrig bleiben würde, als zu gehorchen. Dass mir nur eine Wahl zur Qual bliebe, mich selbst vorsorglich zu bestrafen und zu schämen, sonst würde sie es tun oder der Vater oder der liebe Gott oder der Leibhaftige, oder der Schwarze Mann.

Was fällt dir ein!? Warum schreist du denn so?!

Als würde ich mich selbst betrügen und belügen. Als hätte ich mich gleich von Anfang an nur selbst verletzt und nicht beschützen wollen.

Was du nur wieder hast!

Für alles, was ich ihr gebeichtet und ausgerichtet habe, wurde ich gleich bestraft.

Ich will doch nur dein Bestes!

Mit ungläubigem Zorn hab ich ihr immer wieder zugehört und wusste nicht warum. Warum ich so verzweifelt war und scheinbar gar nichts tun konnte, ohne mich selbst zu ärgern und zu hassen. Warum ich mich in Frage stellte, als wäre ich nicht in der Lage, mir selbst was auszurichten.

Wenn du noch einmal schreist, dann kommt der Schwarze Mann. Hörst du!?

Wie sie von Anfang an gewesen ist. Und dass sie nichts zurückgehalten hatte. Gar nichts, wird mir jetzt endlich klar. Ich habe mir das immer nur gedacht, dann später, dass sie etwas zurückgehalten hätte. Doch das ist gar nicht wahr. Sie hat nie was zurückgehalten. Sie hat gar nicht versucht, mich nicht zu schrecken und zu strafen.

Du siehst ja schon Gespenster!

Wie sie zusammenzuckte und erschrocken ist und mich dafür ermahnte, bei jeder Art Berührung.

Was schaust du mich so an!?

Verzweifelt fragte ich mich später, was bildest du dir ein?! An was glaubst du?! An wen?! Was glaubst du, wer du bist?!

Ich mache doch nur Spaß!

Vielleicht werden wir also gar nicht sehr viel entbehren.

Franz Kafka

Die mich für jeden Schrei, jeden Versuch, mich zu erklären, strafte und verachtet hat.

Was ist denn schon dabei. Jetzt lach doch mal. So schlimm ist das doch auch nicht!

Der Krach in meinem Kopf kommt ja daher, dass ich nicht einmal schreien, träumen, lärmen, nicht einmal laut sein kann, nicht einmal nur lebendig, ohne mich nicht zu schämen.

Gregor erschrak, als er seine antwortende Stimme hörte, die wohl unverkennbar seine frühere war, in die sich aber, wie von unten her, ein nicht zu unterdrückendes, schmerzliches Piepsen mischte, das die Worte förmlich nur im ersten Augenblick in ihrer Deutlichkeit beließ, um sie im Nachklang derart zu zerstören, daß man nicht wußte, ob man recht gehört hatte.

Franz Kafka Die Verwandlung

Was lügst du mich denn an?! Warum sagst du denn nicht, wie schlecht es dir ergangen ist. Wie schlecht du wirklich in der Schule bist. Warum sagst du denn nicht die Wahrheit?! Ich muss mir dann von deinem Lehrer anhören, vor was hat dieser Junge nur so eine Angst?! Kannst du dir vorstellen, wie ich mich dabei fühle?!

Sie wollte mir wehtun. Sie wollte mir nur wehtun.

Sei still, sonst kommt der Schwarze Mann!

Endlich begreife ich. Nichts muss mehr wie zu Hause sein. Ich muss nicht mehr so wie zuhause sein. Nichts ist mehr wie zuhause sein. Nie wieder muss was für mich wie zu Hause sein.

Stell dich doch nicht so an!

Ich sollte auf die Widersprüche achten und meiner Mutter hörig sein.

Zwänge sind ein Ausdruck von Angst vor den eigenen unerwünschten Gefühlen.

Alice Miller, Antwort auf Revolte des Körpers 24. Oktober 2007

Was habe ich mich in Gedanken um den Schlaf gebracht, vor lauter Sorge um sie. Was habe ich mir beigebracht und vorgehalten, damit mir meine Mutter nicht entkommt. Endlich begreife ich den Traum vom See. Was habe ich mir alles angetan, um meine Mutter doch zu retten, vor meiner Wut und meinem Zorn.

Entweder bist du still, oder ich gehe.

Die eigne Liebe musste aus mir raus. Von meiner eignen Liebe sollte ich mich trennen, von meinen eigenen Gefühlen weg, weg vom Erkennen. Wenn sie mich liegen und alleine ließ. Sie hatte keinen Trennungsschmerz; und wie sie immer wieder lachte. Ich sollte von der eigenen Liebe lassen, mir selber lieben nicht gestatten.

Was bildest du dir ein?!

Diese verfluchte Angst, da es für mich gar keine andere Möglichkeit mehr gab, als mich vor ihr zu fürchten.

Jetzt hab dich doch nicht so!

Wie ich mir selbst an jedem Tag das vorgehalten habe, mich selbst zum Schweigen brachte und zum Narren hielt. Wie ich mich selbst und jeden anderen damit betrachtete. Jetzt hab dich doch nicht so. Wie ich mich selbst zum Schweigen brachte und alle anderen dafür verachtet hatte.

Jetzt habt euch doch nicht so.

Ich konnte mir die Angst als Kind nicht nehmen lassen.

Sonst kommt der Schwarze Mann!

Ich musste schließlich glauben, dass ihre Grausamkeit von einem anderen Planeten sei.

Das wirst du noch bereuen!

Was ich als Kind von meiner Mutter übernommen habe, war nicht die Angst, sondern der Hass auf sie.

Auf Angst mit Hass zu reagieren, mit reinem Hass auf Schmerz, Tränen und Wut, zu antworten, hat sie mir beigebracht.

Was ist denn schon dabei?!

Dass mir die eigne Liebe niemals helfen würde, nie wirklich helfen würde können. Nur daran sollte ich mich messen, halten und gewöhnen. Dass mir die Liebe nie gehören würde, weil sie mir nie bei ihr etwas genützt hatte, weil sie mir bei ihr nie geholfen hat. Weil meine Liebe bei ihr unerwünscht gewesen war.

Wo denkst du hin?!

Was mich so fassungslos gemacht und angegriffen hatte, dass ich tatsächlich immer denken wollte, sie wäre unschuldig. Wie auch mein Vater. Dass ich tatsächlich glauben wollte, ich wäre schrecklich und selbst schuld, dass ich nur schuld gewesen wäre.

Was hast du denn!?

Was ist denn los!?

Was weinst du denn!?

Ich bin doch da!

Wie siehst du denn schon wieder aus!?

Wie ein begossener Pudel.

Mein Zwang zur Abneigung und Ablehnung. Dieses Gefühl, nur ungeliebt und unerwünscht zu sein, nur immer wieder abgelehnt zu werden. Mein Zwang zur Abneigung und Ablehnung, um andere genauso hinzurichten. Mein Zwang zur Abneigung kommt jetzt heraus. Wie ich noch jede Art von Zuneigung und Nicht-Ablehnung hasste. Im Grunde jedes Zeichen von Zuneigung ablehnend, mich insgeheim gleich schämte, für jede nette Geste. Ob Zärtlichkeit, Zutraulichkeit, wie ich mich deswegen gleich schlecht fühlte und es tatsächlich daher mit der Angst bekam. Mein Zwang zur Abneigung und Ablehnung, samt meiner Scham.

Wie ablehnend ich meiner eigenen Wut im Grunde gegenüberstand.

Das wirst du noch bereuen!

Wer sich gefiel und wer sich selber mochte, den habe ich gehasst, den habe ich schließlich verachtet.

Schämst du dich nicht!?

Was ich bei ihr empfand, war Sehnsucht nach Bestrafung.

Was schreist du denn, ich bin doch da?!

Ich weiss gar nicht, wie oft ich das geschrieben und gedacht habe. Ich bin doch da. In Wirklichkeit hat sie das nie gesagt. Das nicht zu sagen, gehörte ja gerade zur Bestrafung und Abwehr.

Der Traum vom See. Die Frau, bevor sie untergeht, gibt keinen Laut von sich. Was mir so eine Angst gemacht hatte. Am Leichenschauhaus, als ich mir einen toten Jungen angeschaut hatte, in einem Holzsarg aufgebahrt. Da war nicht nur niemand, nicht nur kein Leben war mehr da, da war auch keine Stimme mehr und überhaupt kein Ton. Die Totenglocke fällt mir ein, der kalte, hohle, stumpfe Klang, die am Begräbnistag der Oma läutete. Was mir so eine Angst gemacht hatte.

Ich bin noch da!

Die Ähnlichkeit lag in den Augen, in dem starren Blick. In der ihr unbewussten, grandiosen, unendlichen Verachtung, der Unkenntnis vielleicht all dessen, was nicht sie selbst war, was nichts mit ihr zu tun hatte.

George Simenon Die Flucht des Monsieur Monde

Zum Teufel mit ihr und den Augen. Zum Teufel mit dem bösen Blick!

Freu dich nur nicht zu früh!

Sie wollte mich bestrafen, bis an mein Lebensende.

Sei still sonst kommst du in ein Heim!

Endlich begreife ich, dass Schmerzen keine Strafe sind und keine Schuld bedeuten.

Was ist denn jetzt schon wieder los?!

Ich war ja gar nicht schuldig, weil ich etwas empfand. Ich war gar keine Schande und meine Schmerzen waren das auch nicht. Endlich begreife ich den Schmerz und meinen Zorn. Sie konnte mich nur strafen.

Was hast du denn?! Was ist denn mit dir los?!

Mein eignes müdes Lächeln krieg ich endlich aus mir heraus. Mit dem ich schließlich alles in mir abwehrte, samt meiner Liebe für mich selbst.

Ich konnte mich nur mehr abstoßend finden, mit meiner Wut und meinem Schmerz und selbst mit meiner Freude.

Was lachst du denn so blöd?!

Ich konnte mich nur mehr verachten. Ich fand mich abstoßend mit meinem Leid. Ich fand mich abstoßend in meinem Leid, in meinem Leben und Erleben. Ich fand mich schließlich abstoßend, wenn ich etwas erlebte. Ich fand mich abstoßend, ein kleines Kind, das sich an seine Mutter klammerte, vor lauter Angst allein, nur ganz allein. Ich fand mich abstoßend, und meine Mutter lachte mit dieser Krankenschwester, die abgestoßen lächelte. Ich fand mich abstoßend inmitten dieser ekelhaften Menschen, die immer nur behaupteten, sie würden nur das Beste für mich tun. Ich fand mich abstoßend, mit meinen Tränen und der stummen Wut. Ich fand mich abstoßend, und diese Schweine lachten. Ich fand mich abstoßend in meiner Einsamkeit. Ich fand mich abstoßend, und meine Mutter redete und amüsierte sich und unterhielt sich prächtig. Ich fand mich abstoßend, in all meiner Verlassenheit und Einsamkeit, in meinem Elend. Mit allen Wünschen, Äußerungen und Sehnsüchten, fand ich mich widerlich, abstoßend, klein, verflucht und böse.

Und später dann, wann immer mich was interessierte oder aufregte, wann immer mir etwas passierte, oder vor meine Füße fiel, hab ich nach Schuld gesucht, nach einem Schuldigen. Ich habe notgedrungen nach der Schuld in mir schließlich gesucht. Nach Schuld und nach Bestrafung.

Das wird dir nochmal leidtun!

Wenn ich mich nach ihr umdrehte, mich immer wieder nach ihr umdrehte, verzweifelt nach ihr schrie und weinte, weinte, weinte, dann war die Sehnsucht meiner Mutter still, gestillt für den Moment und Augenblick, gestillt die Sehnsucht nach Bestrafung.

Ich dachte immer nur, ich sollte nicht mehr schreien.

Was schreist du denn schon wieder!?

Endlich kann ich den halben Ton vom ganzen unterscheiden. Halbherzigkeit in ihrer Stimme. Sie mochte, wenn ich schrie. Schreie ernährten ihr Verlangen. Sie gaben ihrer Hoffnung nach Vergeltung recht. Deswegen freute sie sich also. Sie musste sich ja gar nicht schämen. Ich musste das.

Was du nur immer hast?! Was bildest du dir ein?! Werd du erst mal erwachsen!

Es war ihr gutes Recht, mich zu bestrafen. Ihr Lächeln gegenüber meinen Lehrern und meiner Kindergärtnerin. Ihr Blick zur Krankenschwester, zur bösen Nonne hin, im Kinderkrankenhaus. Die Blicke, die sie tauschten, und ich verzweifelt, mich an die Beine meiner Mutter klammernd, in Tränen aufgelöst.

Dann kommt er halt ein halbes Jahr ins Sanatorium. Dann haben sie Ruhe.

Warum ich meinen Blick dann immer wieder niederschlug und niederschlagen wollte.

Schau mich gefälligst an!

Sie hat mich hingestellt, als hätte ich kein Recht.

Sei endlich still, du miserabliges Kind!

Endlich begreife ich den Schmerz. Und meine Abwehr. Mein Denken half mir nicht. Letztendlich nur die Abwehr meiner Wirklichkeit. Als Kind in Not niemals geliebt zu werden.

Vom Schmerz, wie nicht geboren, nicht mehr lebendig sein zu dürfen.

Dass niemand mich in meiner Not begleitet hat. Dass niemand mir beistand. Wie ich den Schmerz tatsächlich ausgeschaltet habe, mit meiner Abwehr von Gefühlen. Wie ich mich selbst dazu erzogen habe, wie ich mich selbst dazu gezwungen habe, zur Abwehr von Gefühlen, um das nie wieder zu erleben, allein zu sein mit meinem Schmerz.

Ich konnte mich damit nicht mögen. Ich konnte mich mit meinen Schmerzen gar nicht mögen, sie ließ das einfach niemals zu.

Wo denkst du hin?!

An meine Liebe für mich selbst.

Du wolltest doch schön brav sein!? Du hast es mir versprochen!

Sie mochte nicht berührt werden. Sie mochte nicht von mir berührt werden.

Fass mich nicht an!

Das hatte nichts mit mir zu tun. Sie mochte nicht berührt werden. Das hatte mich verrückt gemacht, weil ich es nicht verstand, weil ich es nicht begreifen hatte können, nur unterdrückte Angst, nur unterdrückter Zorn und unterdrückte Wut, nur unterdrückter Hass, nur immer Unterdrückung von Gefühlen.

Du wirst noch an mich denken!

Ohne den Zorn und meine Wut und meinen Hass auf meine Mutter, komm ich an meine Liebe gar nicht ran. Ich kann mich ohne meine Wut in Sicherheit nur wähnen.

Ich kann mich erst vor meiner Mutter sicher fühlen, wenn ich mich selbst nicht mehr verheerend fühle, und meine Wut endlich auf sie empfinde, auf die, die so verheerend für mich war. Ich kann mich erst mit meiner Wut von meiner Mutter trennen. Dann kommt der Mut von ganz allein.

Nie wieder muss ich zu ihr hin. Nie mehr wieder muss ich wie sie denken, da ich doch fühlen und empfinden kann. Ich muss nie mehr versuchen, mich in meine Mutter hineinzudenken. Mich in sie zu versenken, das war der Albtraum meiner Kindheit. Der Traum vom See. Mein unbewusstes Recht. Endlich begreife ich, ich konnte das als Kind ja gar nicht glauben, wie meine Mutter war. Wann immer ich etwas verlautbarte und von mir gab und äußerte, hat meine Mutter mich bestraft. Auf nichts ist meine Mutter eingegangen. Auf nichts, was ich ihr sagen oder nahe hatte bringen wollen.

Mein immer wieder gegen Mauern rennen, reden, später, später und gegen andere, die das nicht glauben konnten oder gar nicht glauben wollten, wenn ich von meiner Kindheit sprach, von meiner Mutter und von meinem Vater.

Mein Traum vom Fußballplatz. Vater steht breitbeinig mit einem Lächeln hinter mir, ich mit verdrehtem Knie, hocke am Boden, weine. Er, den ich liebte, steht rücksichtslos nur hinter sich und seinen Strafen. Das passte nicht in meine Seele rein, das konnte meine Seele gar nicht fassen.

Sei endlich still!

Der nicht einmal sein eigenes Maul und seinen Schnabel halten konnte, wenn ich vor lauter Keuchhusten mich übergab, nur mehr nach Luft schnappte.

Was bildest du dir ein?!

Was bildet ihr euch ein, nur so mit mir zu reden. Was bildet ihr euch ein?! Mit euren Strafen und den Reden. Was bildet ihr euch eigentlich auf eure Strafen ein?! Was bildet ihr euch denn mit euren Strafen ein?! Was bildet ihr euch denn auf euer Schimpfen und die Schläge ein?!

Was bildet ihr euch ein, euch zu beklagen, nachdem ihr mich misshandelt habt. Nachdem ihr mich missbraucht?! Was bildet ihr euch ein. Ihr solltet euch schämen. Ihr hättet euch schämen müssen.

Das wird dir nochmal leidtun!

Allein zu sein mit euch ist einfach grauenhaft gewesen. An jedem Tag als kleines Kind, hab ich versucht euch zu vergeben; euch Eltern mit der Macht. Der Übermacht wollte ich immer nur vergeben. Ihr aber habt ganz einfach immer wieder weiter mich bestraft, und wie ich immer wieder nur versuchte, euch zu beruhigen und zu besänftigen, euch zu vergeben, um demütig, gehorsam, reumütig und unterwürfiger zu sein. Ihr habt Vergebung propagiert und habt euch selbst niemals daran gehalten. Vergebung hatte für euch keinen anderen Sinn und Grund, als mich nur immer wieder zu beschädigen, mit Schuld und Schuld und nochmals Schuld; mich zu beschuldigen war euer Zwang, mich zu bestrafen, um mir nie wirklich zu vergeben.

Endlich begreife ich, es gab für dieses Kind, das ich mal war, nichts zu vergeben. Es gibt gar nichts für mich den Eltern gegenüber zu vergeben. Es gab ja gar nichts zu entschuldigen. Ihr habt nur immer so getan, als würdet ihr tatsächlich gnädig sein.

Das bildest du dir ein!

Sie haben mich von Anfang an blamiert, als Kind und als ihr Opfer.

Ich hatte immer das Gefühl, ich würde mich blamieren, wenn ich was von mir preisgab oder äußerte, wenn ich mir was gewünscht hatte; wenn ich was von mir wollte; wenn ich was von mir hielt.

Wärst du nicht weggelaufen, dann wär das nicht passiert. Merk dir gefälligst, was ich sage. Und hör endlich zu weinen auf!

Ich hatte ja nichts anderes gelernt, als mich dafür zu schämen, dass ich ihr Opfer war.

Schau dich nur an! Wie du nur wieder aussiehst?!

Endlich begreife ich den Zwang zur Abwehr. Mich selbst und andere nur zu beschämen.

An jedem Tag, musste ich mich für ihre Allmacht schämen.

Schämst du dich nicht!?

An jedem Tag.

Wenn du im Krieg nur einen Fehler machst, dann kann der dich dein Leben kosten. Verstehst du mich!?

Nach 62 Jahren fällt mir wieder ein, dass ich vor Angst mir in die Hose machte.

Hast du dich vielleicht nass gemacht!? Schämst du dich nicht!? Du bist doch schon ein großer Junge.

Wie sie mit ihrem Stumpfsinn mein Leben und mein Leiden abgeschmettert und verkleinert haben. Mit ihren Strafen und mit Gewalt. Und ihrem noch darüber lachen. Mit dem sie sich behalfen, um mich damit auch noch zu strafen.

Ich sollte mich als Kind um ihre Kriege kümmern. Um Mutters Stumpfsinn und Gleichgültigkeit. Um ihre schwachen Nerven. Und Vaters Schreien und Verfluchen. Um seine und um ihre Angst. Sie zuckte schon beim kleinsten Ton. Und er zerriss sein Hemd, wenn es ihn nur genierte. Der ganze Wahnsinn meiner Eltern kommt jetzt hoch. Die Aufgeregtheit und die müden Scherze über Angst. Ihr Lachen über alle wunden Punkte.

Wie ich mich schämte, weil nie ein Hahn zuhause nach mir krähte.

Jetzt hör endlich zu weinen und zu trenzen auf. Das ist ja nicht zum Aushalten. Glaubst du vielleicht, dass mir jemand geholfen hat. Mir hat niemals jemand geholfen. Ich hab mir alles selbst verdient.

Mein Traum vom Sportplatz.

Er bietet mir gar keine Hilfe an. Er kommt gar nicht auf die Idee mir Hilfe anzubieten. Mein Vater hat mir nie von sich aus Hilfe angeboten. Er hat mir nie von sich aus aufgeholfen.

Ich dachte, dass es eine Strafe sei. Dass er mich damit strafte, für irgendein Vergehen. Für irgendeine Sünde. Für irgendein Malheur. Für irgendeinen Fehler. Für irgendein Verschulden. Dass ich nicht brav genug gewesen sei. Dass ich nicht gut genug gewesen sei. Dass ich nicht unschuldig genug gewesen sei. Dass ich mich schuldig gemacht hätte, mit irgendwas. Endlich begreife ich, ich war ja gar nicht schuldig. Er hat mir nie von sich aus was gesagt. Er hat mir nie von sich aus etwas mitgeteilt. Er hat mir nie von sich aus aufgeholfen. Weil er das gar nicht konnte. Mein Vater hat mir nie von sich aus zugehört. Er hat mir nie freiwillig etwas angeboten. Mein Vater hat mir niemals Nähe angeboten. Mein Vater hat mir niemals freiwillig seine Gesellschaft angeboten, oder die Freiheit, mich zu benehmen, wie ich wollte.

Jetzt kriege ich meinen eigenen gemeinen, drohenden Umgangston heraus. Endlich komm ich an meinen eigenen erbarmungslosen Umgangston heran, den ich als kleines Kind, an meinem Vater so gefürchtet hatte. Endlich komm ich an meinen Vater ran.

Schneid dir nicht gleich den Finger ab. Pass auf und fall nicht hin. Muss man denn alles zu dir dreimal sagen!?

Der jede Form von Zärtlichkeit von mir an sich abwehrte. Vater konnte nur grob sein und meine Zartheit nur abwehren. Endlich kommt dieses zarte Kind, das ich einmal gewesen war, in mir wieder hervor. Endlich hab ich für meine eigene Zärtlichkeit wieder was übrig und schäme mich nicht mehr dafür.

Jetzt fällt mir plötzlich wieder ein, auf wessen Schultern ich so gerne saß, mit welchen Ohren ich so gerne spielte, und der dann plötzlich nicht mehr da war, weil dessen Stiefvater ihn aus dem Haus und aus der Stadt gejagt hatte, zur Lehre und zur Strafe.

Im Zwang zur Abwehr spiegeln wir Gefühle, wie unsre unterdrückte Wut. wie unser unterdrückter Zorn entstanden ist.

Ich musste das Gefühl der Zärtlichkeit abwehren und aufgeben lernen. Im Grunde hat mich Vater immer nur bestraft, wenn ich mich äußern hatte wollen, ihm gegenüber, mit Zärtlichkeit und Interesse. Weil ich etwas für ihn empfand, hat er mich immer nur bestraft. Weil ich etwas empfand, hat Vater mich bestraft, weil ich ihn mochte.

Was fällt dir ein?!

Ich steckte mich, ohne es überhaupt zu merken, mit Vaters unterdrücktem Hass, gegen die Zärtlichkeit und Zartheit eines kleinen Kindes an. Mit allen seinen Drohungen. Ich würde mir selbst wehtun, wenn ich nicht aufpasste, wenn ich nicht augenblicklich still und leise sein würde. Mein Vater hatte sich gar nicht verstellt, endlich begreife ich, mit seinem Zwang zur Abwehr, er konnte gar nicht anders, wie mich und meine Interessen abzulehnen. Endlich verstehe ich, es geht gar nicht darum, ihn zu verstehen, oder darum, ihm zu vergeben, es geht um ein Verständnis meiner Gefühle, um meine Unschuld, als ich Kind war, nicht darum, mich zu richten.

Mich nicht zu richten für Gefühle, ob Hass, ob Liebe oder diebische Gefühle, Verachtung, Gnadenlosigkeit und Reue, beispielsweise, das kommt jetzt endlich aus mir raus.

Wie siehst denn du schon wieder aus. Am hellen Morgen!

Nicht ein Satz ohne Drohung. Nicht ein Satz ohne drohenden, gemeinen Unterton für mich und alle anderen. Nicht ein Ton ohne Strafandrohung. Mein Zorn auf diesen Menschen, der so erfüllt war von Bestrafung und deren Androhung.

Vater hat meine Zärtlichkeit von Anfang an bedroht und angegriffen, so wie er es gelernt hatte, so wie er es begriffen hatte, so wie ich es begreifen hatte lernen müssen, so wie er seine eigene Zärtlichkeit verleugnen und abwehren hatte lernen müssen.

Was bildest du dir ein?! Was ist denn jetzt schon wieder los?!

Endlich muss ich mich nicht mehr schämen für meine Hoffnung und dass sie sich niemals erfüllte. Er würde mich so lieben, wie ich ihn. Als Kind konnte ich meine Hoffnung auf die Liebe nicht aufgeben.

Auf was willst du denn raus!?

Es war der Ausdruck reiner Zärtlichkeit, den Vater so verachtet hat. Der Ausdruck meiner Liebe, hat ihn verärgert und regelrecht zornig gemacht.

Endlich begreife ich, was mich so umtrieb. Weil Vater meine Zärtlichkeit nicht mochte. Endlich begreife ich, er mochte sie an niemandem. Dass er sie nicht an mir gemocht hatte, das hatte nichts mit mir zu tun. Er konnte Zärtlichkeit an sich nicht mehr ertragen.

Mein Vater führte Krieg gegen die Zärtlichkeit an sich. Das hatte mich als Kind fertig gemacht, weil ich nicht merkte, nicht merken hatte können, dass das gar nicht an mir gelegen hat.

Was bildest du dir ein?!

Krieg gegen jede Äußerung eines Gefühls.

Das bildest du dir doch nur ein!

Nie wieder muss ich das, was ihr mir angetan habt, als ich ein Kind gewesen war, auf eine leichte Schulter nehmen. Nie wieder muss ich wegen euch den Zorn verlernen und verleugnen. Nie wieder muss ich meinen Zorn verleugnen und verlernen. Nie wieder muss ich meine Wut in Frage stellen. Ich muss mir dieses Zeug, das Vater von sich gab, nie wieder ohne Zorn anhören. Nie wieder muss ich leugnen, was Vater für mich übrig hatte, zur Abwehr von Gefühlen, nur blinde Wut und unterdrückten Hass.

Ich suchte immerzu nach Kriegen, Nachfolgekriegen, nach Auseinandersetzungen. Ich suchte unbewusst danach, nach Abwehr und Abwehrenden. Ich ging Gewalt nicht aus dem Weg. Ich suchte sie mir schließlich aus.

Endlich fällt mir das auf. Ich konnte keiner Auseinandersetzung aus dem Weg gehen. Genau das hatte ich erlebt. Ich konnte meinem Vater als Kind nicht entkommen, nicht der Gewalt und seinem Fluchen und Beschuldigen. Ich konnte ihn nicht abwehren.

Jetzt ist genug!

Jetzt ist es mit uns aus, Vater. Jetzt habe ich von dir genug. Mein Zorn auf dich kommt endlich raus. Nie wieder muss ich mich meiner Gefühle für dich schämen. Weder für meinen Zorn, noch für die Liebe, meine Tränen und die Wut. Nie wieder muss ich mich für dich schämen. Nie wieder muss ich mich meiner Tränen und für mein Wasserlassen schämen.