Texte von Hugo Rupp

Vom Wunsch, geliebt zu werden

 

Der Junge auf dem Obelisken stehend, sucht für sich Verständnis und Verständigung. Der Junge mit den offenen Händen, allein und stumm auf der Rampe stehend, ist derselbe Junge, nur viel jünger. Der wütende Junge, der plötzlich hinter ihm auftaucht und an seinem rechten Arm zerrt, ist älter. Der kleine Junge beachtet ihn nicht, er sieht ihn nicht an. Jeder der beiden hat etwas zu sagen, aber sagt es nicht. Der Junge auf dem Obelisk stehend, hat auch etwas zu sagen, sagt es aber nicht.

Mein Vater führt mit seinen Zähnen Krieg gegen mich. Er hustet und atmet schwer, das sehe ich, im näher kommen, dann steht er da vor mir und schlägt mir ins Gesicht. Diese Wut sehe ich noch heute, wie sie auf mich zukommt. Unverständlich, ohne jede Vorankündigung, nur ein Gefühl der Andersartigkeit, so wie ich ihn noch nie gesehen habe. Ich habe kein Verständnis für mich und nichts verständliches für mich will mir in den Sinn.

Ich opfere mich nicht mehr für die Sicht des Vaters und für seine Augen und für seine Hände, seinen Arm und seine Finger, die mich packen und wegzerren. Murmelnd, immer noch weiter redend, während ich stumm und verständnislos, verwirrt, neben ihm gehe, mehr falle, nach Halt immer wieder suchend, weil er viel zu schnell für mich geht. Bin zwei Jahre alt. Meine Haut ist heiß, meine Backe glüht. Passanten lächeln.

Trotz allem, was mir meine Eltern antaten, durfte ich sie niemals angreifen. Ich durfte ihnen nie zeigen, dass ich sie nicht mochte, wenn ich sie eben nicht mochte. Ich musste sie trotz allem, ununterbrochen mögen, lieb haben, egal was sie taten.

Und lass dich nicht dabei erwischen, dass du etwas schlechtes über deine Mutter redest, sagt Vater

So redet man nicht über seinen eigenen Vater, sagt Mutter.

Ihre Worte lenken mich immer wieder ab. Sie vertreiben meine Worte, die ich nur mit meinen Augen sehe.

Warum hat er mich geschlagen?

Wenn ich nach dem Sinn frage, taucht immer mein Vatergesicht vor mir auf und lenkt mich ab. Vom Schlag weg, vom Berg weg, weg von meinem Gefühl. Weg von meinem Sinn. Der Sinn ist mein Gefühl. Mein Gefühl ist die Antwort auf die Frage. Die Frage ist die Antwort, mit der ich als Kind allein gewesen bin, und von der mich jeder nur verscheuchte.

Warum mag Vater mich nicht mehr!?

Warum mag mich der Vater nicht mehr, ist meine Frage gewesen.

Warum liebt mich der Vater nicht mehr, was habe ich nur falsch gemacht, dass er mich schlägt und nach Hause schleift und so böse anschaut?

Warum hast du mich geschlagen? Liebst du mich nicht mehr?

Deswegen zeichne ich sein Gesicht. Ich zeichne es und frage es.

Diese Frage ist der Widerstand gewesen, den das kleine Kind für sich, und nur für sich, verstummt im Schmerz, äußern konnte.

Die Frage, die nach so vielen Jahren das erste mal klar und deutlich hier steht, zeigt das Ausmaß der Macht der Eltern, dass ein Kind sich die Schuld an der Ungeheuerlichkeit des Vaters gibt.

Am Ende der Welt

Mutter hilflos, die hilflose Mutter, die ängstliche Mutter, die hilflose Kindermutter, die Mutter, die als Kind so hilflos gewesen ist, meine Mutter, die als Kind so hilflos gewesen ist und verzweifelt, und verzweifelt immer wieder weggeschickt wurde, von ihrer Mutter und ihren Geschwistern, meine Mutter, die als Kind Depp geschimpft wurde, mich als Kind so behandelt, gerade in der größten Verzweiflung und Verlorenheit, hat sie mich weggeschickt und über mich gelacht.

Sie hat alles getan um meine Hilflosigkeit, nie mehr selbst spüren zu müssen; sie hat mich allein gelassen und ihre Spiele gespielt, das Todesspiel, bei dem sie sich tot stellte und hat ihr Trauma wiederholt und wiederbelebt, der toten Schwester allein gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, sie 9 Jahre alt, ihre tote Schwester 6 Jahre alt, an Diphtherie gestorben. Im Haus der Eltern aufgebahrt. Sie spielt die tote Schwester und meine Rolle ist die des hilflosen Kindes, das hinschauen muss, das die Mutter zwingt, sich die tote Schwester anzuschauen.

Sinn

Nur mit Hilflosigkeit nähert sich die Mutter mir, und hier begegnen wir uns, ich und sie.

Sie schaut mich an und bestätigt meine Angst. Hier ist sie mir nah, nur hier ist Geborgenheit für mich möglich, in der Kälte und Stille der Nacht, in der Verzweiflung blickt sie mich doch noch an, in der Ausgeliefertheit und der Verzweiflung beginne ich mich der Mutter als schutzbedürftiges Kind zu offenbaren; wenn ich vor Wut und Schmerz glühte, konnte Mutter mich beruhigen, nur selbst verloren begegnete sie mir mit Sympathie, sie lächelte sogar, denn das war ihr Wiedererkennen. Sie brachte mich mit ihrem Spiel, dem Todesspiel an ihre Orte, zurück zu sich, in ihre Kindheit.

Sie versetzte mich in Angst und Ausweglosigkeit, und hier erst wurde sie ruhig und beruhigte auch mich mit Worten: Pscht, da ist doch nichts! Sie beruhigte sich selbst mit diesen Worten und ließ mich so allein mit meinem Schrecken, wie sie einst selbst allein gelassen worden war als Kind.

Du versetztest mich in Not und Elend und auch Todesangst, das war Anlass deiner Annäherung, der einzige Zustand der Nähe, nur in Todesangst kamst du näher und zeigtest mir auch dein Verständnis.

Du erschrecktest mich immer mit deinem Ableben, deinem Verschwinden und hast nie bemerkt, dass du mich dabei zu Tode erschreckst.

Ich schaffe die Extremsituation, ich erschaffe die Todesnähe, die Verzweiflung und teste, wie sich andere dabei verhalten.

Der ausgestellte Junge auf dem Obelisken will seine Rettungsmöglichkeiten testen.

Nicht-Helfen habe ich gelernt. Nicht-Helfen zu lernen, zuschauen zu müssen und nichts tun, zuschauen um nichts zu tun, immer wieder die Situation wiederholend, in Not geraten und nichts zu tun, sich selbst nicht helfend. Immer wieder sich selbst in Seelennot versetzend und sich verlassen. Du tust das, damit du in der Not allein gelassen wirst. Du bestätigst dich.

Mutter hält meine weinende Schwester und gibt ihr Schutz, nur in der Todesnähe, nachdem sie beinahe erstickt wäre. Hier gibt sie ihr Schutz und Nähe.

Die Mutter tritt erst mit dem Schrei in Erscheinung und dann ablehnend, das Unglück verneinend, mein Unglück verneinend. Jedes Unglück verneinend. Das Unglück abschaffen.

Ich erschaffe das Unglück um das Glück der Rettung, der Hilfe in der Not kennen zu lernen, auch einmal zu erfahren, wie es ist, gerettet zu werden, wenn einem jemand beisteht. Ich will Hilfe und Rettung für mich verfügen.

Ich schaffe, erschaffe Extremsituationen. Ich schaffe Ereignisse, um gerettet zu werden, um Rettung zu erleben, um endlich auch einmal in den Genuss zu kommen, das vermeintliche Glück zu erfahren, gerettet zu werden, errettet zu werden.

Ich bringe mich in Gefahr, auf dass mir geholfen wird, wenn ich mich in Gefahr bringe, lasse ich mich allein. Ich verlasse mich selbst, wenn ich mich in Gefahr bringe.

Mutter macht die Todesspiele, damit ihr geholfen wird, damit ihr geholfen wird, zwingt sie mich zu helfen und zu weinen und zu versagen. Weil ich nur versagen kann.

Du bringst mich dazu, dir zu helfen in der höchsten Not und dann darin zu versagen, dass ich dir nicht helfen kann.

Du lehrst mich, wie es ist, in Not zu geraten, völlig hilflos zu sein. Wie es ist, nicht helfen zu können, gegen die Not und das Unglück und Schicksal und den Tod nur zu versagen.

Du lehrst mich jede Hoffnung auf Besserung und Anspruch auf Hilfe in der Not aufzugeben.

Du lehrst mich, Hilfe zu versagen, mir selbst Hilfe zu versagen. Mich selbst rettungslos zu fühlen. Mich selbst hoffnungslos, ohne Hilfe in der Not zu denken und zu fühlen. Du lehrst mich, mich selbst zu verlassen. Du zeigst mir, führst mir mein Versagen vor. Du zeigst mir, wie unfähig ich bin, einem Kind in höchster Not beizustehen und es auch zu retten; wie es ist zu versagen.

Dann erst öffnest du die Augen und stehst auf, lächelst.

Was tut sie da?

Sie rettet sich selbst. Sie muss sich selbst retten. Du kannst nichts tun. Erst mit der eigenen Selbstauferstehung von den Toten wird die Hilflosigkeit vollkommen. Nur sie kann selbst auferstehen. Erst mit ihrer Selbsthilfe und dem Beweis, dass das Kind gescheitert ist, wird die allumfassende Hilflosigkeit und mein Versagen, das Scheitern meiner Versuche, Mama, Mama Rufen, Schütteln, Rütteln an ihren Armen und Beinen, Weinen, vollkommen. Sie zeigt, dass nur sie selbst sich heilen kann, dass jeder sich selbst erschaffen muss, auch wenn er von den Toten aufersteht. Das ist ihr Zeichen. Hilf dir selbst. Aber du, ein Kind, kannst das nicht. Such dir selbst ein Kind.

Was habe ich falsch gemacht, dass Mutter sterben muss!?

Wäre ich doch eher nach Hause gekommen, dann wäre ich da gewesen, dann wäre ich früher da gewesen, dann hätte ich ihr helfen können.

Es ist meine Schuld, dass ich solange in der Schule und auf dem Nachhauseweg herum getrödelt habe. Jetzt ist sie tot, nur weil ich noch länger spielen wollte, weil ich nicht schnell genug nach Hause gegangen bin. Hätte ich nur mehr an Mutter gedacht, dann hätte ich sie retten können. Hätte ich sie nur nicht vergessen. Wenn ich immer an sie denke, dann bleibt sie am Leben. Wenn ich sie vergesse, stirbt sie und das ist meine Schuld. Wenn ich nicht gleich nach der Schule nach Hause gehe/komme, kann sie sterben.

Das Kind stellt Fragen.

Was habe ich getan, dass Mutter sterben muss?

Was habe ich getan, dass Vater mich nicht mehr mag und mich schlagen muss?

Was habe ich getan, dass Vater mich wegschickt?

Was habe ich Mutter angetan, dass sie mir nicht hilft und Vater sagt, dass er mich schlagen muss?

Was habe ich getan, dass sie mich nicht mögen?

Jetzt bin ich verfügbar für die Wut, weil ich Verständnis für Vater haben muss.

Jetzt bin ich verfügbar für Mutters Todesspiele aller Art, für ihre Todesgeschichten, und Nachrichten über Katastrophen und Tode, weil ich Verständnis haben muss.

Jetzt bin ich verfügbar.

Als Erwachsener verfüge ich.

Warum?

Weil ich es kann und Erfolg damit habe. Der Vorteil ist, dass ich die eigene Wut und die eigene Angst nicht fühlen muss, dass ich die Angst der Anderen und die Wut der Anderen nicht mitfühlen kann.

Was habe ich nur getan, dass Mutter nicht aufhört mich zu quälen?

Was tue ich, dass Vater nicht aufhört mir alles zu verbieten?

Was habe ich ihnen angetan?

Warum hören sie nicht auf, mich fortwährend zu quälen, mit ihren Geschichten?

Warum suchen sie sich keinen anderen?

Weil ich verfügbar bin.

Wenn ich an zuhause denke, muss ich Hilfe leisten. Mutter in der Einsamkeit beistehen. Vater ist nicht verhandelbar. Er ist der Herrscher, ohne Widerrede.

Warum denke ich an Mutter unentwegt.

Was genau?

Ich beschütze ihre Verlorenheit.

Das geht nicht.

Nein?

Du schützt sie in Gedanken?

Irgendwie schon.

Du rufst ihr zu. Sie soll nicht verzweifeln!?

Ja, wahrscheinlich.

Was noch.

Das weißt du besser.

Nein.

Ich rufe ihren Namen. Immer wieder rufe ich auch nachts, wenn ich aufwache. Erste Zeit.

Du rufst sie immer schon?

Ja, ich denke schon.

Ohne sie?

Weiß ich nicht, was es ohne sie gibt. Was soll es ohne sie geben. Wie soll es etwas ohne sie geben?

Heute noch?

Heute noch ist in mir ein Gefühl Geborgenheit, dass es Rettung gibt, von ihr, für mich.

Wie sieht die aus?

Kein Wort. Laute dürfen keine sein, nur ein kleines Keuchen muss ich machen. Schnupfenähnlich, kleines Räuspern, nüchtern ohne Kraft, kläglich, winzig, ohne eine Kraft. Klaglos klagen ist die Rettungsmöglichkeit. Ohne Worte klagen, ohne wirklich Worte zu erwähnen, nur im Blick, im Seitenblick, die Spur eines kleinen unterdrückten Schmerzes, eines sehr verborgnen Schmerzes, den nur sie erkennen kann, wenn ich ihn verberge, wenn ich ihn fast unkenntlich, klein, und ohne Widerhall, erwähne, nur ein Aufscheinen, eine kleine Welle, einer Freude auch nicht unähnlich, und der Freude täuschend ähnlich. Kleiner Augenblick des Unglücks, das sich niemals direkt zeigt, da erkennt sie ihre Nähe und kommt doch.

Das ist alles Spielerei?

Mittlerweile ritualisiert. Sonst wäre nie jemand zu mir gekommen.

Jammern ohne Jammern, klagen, klaglos, weinen ohne Tränen, lachen, wenn dir etwas weh tut, kleine stets verborgne Geister, die den Sinn von meiner Mutter stets erreichen. Ohne Absicht, sich verbergen, und rein zufällig erscheinen, sichtbar werden.

Niemals direkt in die Kamera schauen!

Niemals wirklich sichtbar werden, wie doch dringend du das Kind, deiner Mutter doch beduftest. Niemals Wünsche direkt äußern. Keine Wünsche, ohne Reue. Keine Offenbarung. Keine Offenheit, angehaltenes, kontrolliertes Wissen, und dann sich verstecken, hinter anderen Lauten, Fetzen von Verwünschungen, Zeichen anderer Gefühle. Das Versteckspiel. Du sollst deine Mutter suchen. Du musst deine Mutter finden, und sie sucht mit dir, das erschwert die Suche ohne Ende. Denn sie sucht mit dir, auf den Fährten, die sie legt, lenkt sie dich in Irrgärten. Sie erschwert die Suche selbst, wenn es darum geht, sie doch aufzuspüren. Wenn du sie begreifen willst, musst du unbegreiflich sein. Du musst, um sie zu verstehen, um ihr nahe zu sein, ebenso begreifbar unbegreiflich werden, nur damit sie dich nicht immer nur verwünscht und dann in die Irre leitet. Du willst Schritt auf Tritt in der Nähe ihres Rockes sein, willst sie niemals mehr vermissen, nicht mehr aus den Augen, soll sie nie mehr aus dem Auge dir entwischen. Dann passiert es wieder. Wieder ist sie weg. Sie entwischt dir immer wieder.

Warum willst du sie nicht endlich gehen lassen? Nicht mehr nach ihr suchen?

Weil ich keine andere habe?

Sie unauffindbar für dich lassen. Sie belassen, wie sie ist, wo sie ist, und was sie ist, belassen?

Sie verlassen, wo sie doch so einsam ist!?

Wenn sie doch so einsam ist, könnte sie doch in Erscheinung treten. Warum bleibt sie denn nie hier. Hier in deiner Nähe, nahe einem kleinen Kind?

Nichts weiß ich. Weiß noch immer nichts von ihr. Kenne nichts von ihrem Inneren. Keine Ahnung warum sie etwas tut. Nichts von ihrer Seite.

Weil sie niemals etwas sagt, das sie auch erklärt.

Weil sie niemals kenntlich wird.

Niemals sich erklärt?

Weil sie niemals sich erklärbar macht. Da sie niemals sich erklärt. Niemals eine Stellung für sich selbst bezieht. Weil sie niemals für sich spricht, nicht in ihrem Namen.

Sie ist niemals zeitgemäß, für mich in der Stunde meiner Not, für mich in der Not erschienen. Immer war es zeitversetzt, niemals ohne Warten. Niemals war die Rettung, Hilfe, für mich, einmal nur spontan. Niemals war sie für mich anwesend. Immer zeitverzögert. Immer war ein Schmerz nach dem Schmerz verzögert. Immer war ein Schmerz für den Schmerz zuständig. Niemals war es einzig, einmal weinen und schon war die Rettung da. Niemals war mein Weinen mit Erlösung so verbunden, dass kein Bruch entstanden wäre. Immer war ein Warten, Riss, von der Meldung meines Wunsches, und der Aussicht auf Erfüllung. Niemals ohne Widerrede, niemals ohne Widerstand, niemals ohne Zögern und auch Warten. Sie ließ sich erbeten und erbitten. Keine Rettung ohne Zögern. Stets im Warten eine Hoffnung auf Verlust, niemals auf die Wunscherfüllung. Immer nur Verlust, immer diese Mahnung, diese Drohung: irgendwann schreist du vergeblich, irgendwann bleibst du allein. Irgendwann wird sie nicht kommen!

Das war meine Litanei.

Du wachst auf und dann schläfst du wieder ein. Das gibt es eben nicht. Weil es nie so war, dass dir jemand nach dem Aufwachen und Schreien, das Gefühl gegeben hat, du wärest sicher, wo du bist, nicht allein.

Du wachst auf und überlegst, das ist deine Art der Fürsorge. Du erwachst und bist ganz allein. Weil da niemals jemand war, der dich aufgefangen hat in der Nähe deiner Träume.

Abschied

Ich habe nie ein böses Wort zu dir gesagt , sage ich laut vor mich hin und meine, meine erste Freundin.

Kein Wort, keine Wut, nichts, ich weiß keinen wütenden Satz, den ich mit ihr gewechselt hätte. Ich sagte: So will ich nicht werden, und deutete auf die Eltern mit dem Jungen, und du warst entsetzt und sagtest mir später, dass du eigentlich beschlossen hattest, nie mehr ein Wort mit mir zu reden.

Mutter redet nicht mehr mit mir. Niemand redet mehr mit mir. Sie schauen weg, sie atmen mich ein, sie wollen nichts mehr von mir hören.

Ich habe eine solche Angst, dass ich die Wut nicht mehr ertrage, ich darf die Wut nicht spüren, sonst erschlägt mich Vater heute noch.

Ich erschlage dich, wenn du jetzt nicht gleich dein Maul hältst!

Mutter ist niemals eine falsche Helferin.

Sie heuchelt nicht mal mehr die Hilfe.

Ich breche mir das Bein, damit sich jemand um mich kümmert.

Ich will mir weh, ich werde mir jetzt weh tun, notfalls auch im Schlaf, damit ich nicht mehr fühlen muss, was da noch ist, damit ich dieses Gefühl der Herrschaft niemals wieder fühle. Diese Dunkelheit in allen Gräsern und das Leben einer Birne ohne Sonnenschein, in meinem kleinen Zimmer ohne einen Hauch von Freiheit, ohne eine Liebesszene, ohne einen Hoffnungsschimmer.

Vater ist in meinem Knie, hört in mir die Stelle, wo er gehen soll, wo er mir beim Gehen hilft, wenn ich auf mein Knie auch falle.

Du hältst deine Wut hier fest. Sie ist gebunden an das Knie.

Wie gebunden?

Angebunden.

An wen?

An ihn.

Winnetou?

Ja, er sagt, du darfst nicht wütend sein, Wut lenkt nur ab. Wut macht blind, sagt Winnetou.

Ehrlich?

Ja.

Die Wut.

Winnetou rät dir nicht mehr wütend zu sein?

Ja, wenn er sieht, wie die anderen wütend sind und gierig, dann bringt das nur immer wieder Tote. Winnetou ist niemals wütend. Er nicht. Der tut nichts böses, nicht einmal, wenn sie ihn foltern.

Der kennt keinen Schmerz?

Nein, auch wenn ihm alles weh tut nicht. Dann sagt er auch nichts. Er ist tapfer. Wie er bin ich. Wenn mich Vater nicht mag, dann sage ich nichts. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Das sehe ich. Die klagen nicht. Wie Mutter. Ich will ein Indianer sein, der keine Klagen hört, dass ich mir nichts zu Schulden kommen lasse.

Das hat deinem Vater sehr wehgetan, dass du ihn heute nicht geküsst hast, sagt sie. Dass du deinen Vater nicht wie jeden Tag verabschiedet hast. Das hat ihn traurig gemacht. Das hat deinen Vater schwer beschäftigt, dass du ihn heute früh nicht wie sonst verabschiedet hast, sagt sie.

Ja.

Ich traue mich nicht mehr wütend zu sein. Ich kann nicht mehr wütend sein.

Warum?

Wenn du wütend bist, vergisst du sie?

Wenn ich zeige, dass ich ohne sie zurecht komme, wird sie komisch.

Wie komisch?

Sie macht so Sachen, erzählt Geschichten von den Toten, dass die immer allein bleiben, wenn sie tot sind.

Was denkst du dann?

Nichts. Ich verstehe die Geschichten nicht.

Was glaubst du, was passiert, wenn du wütend wirst?

Dann geht die Welt unter!

Deine?

Ihre, jede. Dann wird mir schwarz vor Augen und schwindlig.

Wie denn das?

Sie sagt, dass ich mich aufregen würde, als würde die Erde untergehen, wegen nichts und wieder nichts.

Du führst dich auf, als würde die Welt untergehen, sagt sie. Wegen eines kleinen Kratzers führst du dich auf. Wegen eines kleinen Kratzers weinst du stundenlang.

Du bist ein richtig wehleidiges Kind, sagt sie. Richtig wehleidig.

Ich muss mir das Weinen abgewöhnen.

Wenn ich mich wegen jedem Scheißdreck so aufgeführt hätte, hätte mich mein Vater beim Kragen gepackt und hochkant hinausgeschmissen. Du brauchst dich gar nicht so aufzuregen, so schlimm war das auch wieder nicht. So wird nie ein richtiger Mann aus dir, der auch mal Schmerzen aushält, der auch mal auf die Zähne beißt, wenn ihm etwas wehtut, und nicht gleich wieder zu seiner Mutter rennt..

Mama, habe ich gerufen, immer Mama, wenn mir etwas weh tat, und sie haben mich nur ausgelacht.

Ihr Körper ist nicht schön. Sie flucht auf ihren Körper, wenn ich sie berühre, flucht sie und geht weg. Sie flucht, weil sie was vergessen hat. Wenn ich sie berühren will, flucht sie, schimpft und geht weg. Sie hat immer plötzlich etwas zu tun, wenn ich ihr Haar greife, dreht sie sich gleich weg und, vermaledeit, jetzt habe ich doch das Wasser aufzusetzen vergessen. Wenn ich in ihrer Nähe bin, ist es, dass sie immer nach etwas sucht, als hätte sie, wenn ich ihr nahe komme, immer etwas vergessen. Wenn sie mich berührt, zögert sie vorher. Sie mag mich nicht waschen. Ihre Hände sind sehr schnell, sie reibt schnell, alles was sie mit mir macht ist schnell, schnell. Sie schimpft meinen Körper, weil er das und das macht, was er nicht machen soll, weil ihr das Sorgen bereitet, wenn mein Körper etwas macht, das sie nicht sehen will. Am meisten hasst sie Flecken auf der Hose.

Wie ich auf dem Nachhauseweg ununterbrochen an mein Knie denken musste und meine Hose, und an der Hose gerieben habe, wie Vater versucht hat, sie mit Wasser vom Brunnen auf sein Taschentuch und dann mit dem Finger langsam, nur vorsichtig, schön vorsichtig, sonst verreibe ich den Fleck, versucht hat den Fleck wegzukriegen.

Das ist ein Fleck, schreit sie und funkelt mich mit ihren Augen an, als wäre sie der Teufel. Da ist ein frischer Fleck auf seiner Hose, die ich erst frisch gewaschen habe und jetzt ist da ein Fleck.! Wie ist das passiert, fragt sie.

Er ist hingefallen.

Nur hingefallen, wie nur hingefallen? Nur einfach hingefallen!?

Das ist doch nicht so schlimm. Nur ein Fleck.

Du musst ja die Sachen nicht waschen. Dir tut ja der Rücken nicht weh von seinen Sachen waschen. Wenn ich allein an die vielen Windeln denke, die ich jeden Tag für ihn ausgewaschen habe, und jetzt geht das schon wieder los. Das ist ja nicht zu glauben. Geht und fällt hin. Kannst du nicht aufpassen?

Sie schaut mich an.

Entschuldigung.

Das reicht mir nicht. Ich will, dass du mir versprichst nie mehr hinzufallen. Nie mehr, verstehst du. Dein Vater ist wieder weg. Immer wenn es um dich geht und ich ihn brauchen würde, ist er nicht da. Du könntest dich wenigstens nützlich machen und dein Zimmer aufräumen, in dem es aussieht wie in einem Schweinestall.

Ich gehe in mein Zimmer, und sie schimpft noch hinter mir her. Ich lege Indianer auf mein Bett, ich stelle sie hin und dann fallen sie um. Sie fallen alle um. Mit dem Pfeil und Bogenschützen fange ich an. Am liebsten würde ich sie gleich aus dem Fenster werfen, einfach weg. Was soll das noch, meine Indianer, Pfeil und Bogen sind sowieso nichts, sie dürfen auch nicht dreckig werden. Wenn sie mich erwischt, wenn ich die Indianer auf dem Bett habe, wird sie sicher schimpfen. Die Cowboys nehmen das Lasso und fangen damit das Knie ein, oder den Hals und ziehen zu, wenn Mutter nicht hinschaut, dann kann man kein Wort hören. Sie fangen sie und stellen sie an den Marterpfahl und binden ihr die Arme nach hinten, dann kann sie nichts mehr tun und sich nicht mehr rühren, das hat sie davon, weil sie immer soviel redet. Deswegen stopfen sie ihr auch noch ein Taschentuch in den Mund und sie schüttelt den Kopf bis ihr schwindlig ist, aber das hilft ihr auch nichts. Sie sollen sie erschießen. Mit mehreren Pfeilen, wie die Indianer es mit Verrätern machen und Weißen, die böse waren. Endlich werden auch die einmal geröstet über dem Feuer und mit Speeren durchlöchert, da können sie auch betteln wie sie wollen und um Entschuldigung bitten. Das nützt ihnen jetzt auch nichts mehr. Aber einen Cowboy gibt es noch, der schießt aus seinem Versteck, hinter den Felsen. Den kriegen sie nicht, der versteckt sich gut. Den wollen sie in eine Falle locken und rufen von allen Seiten gleichzeitig, dass er verwirrt ist. Aber das macht dem Cowboy nichts, er duckt sich und zeigt sich nicht mehr, weil er die Falle riecht. Er schlüpft in eine Felsspalte, wo es schön ruhig ist. Die Indianer können suchen, wie sie wollen, den letzten Cowboy finden sie nicht. Da können sie sich auf den Kopf stellen und den ganzen Tag weiter suchen, aber den finden sie nicht. Da können sie alle foltern und totschießen, aber den letzten finden sie nicht.

Den letzten Krieger halte ich in meiner Hand. Der Verborgene, der in der Felsspalte all die Jahre lebte, der die volle Wahrheit kennt. Von den Todeswünschen, dass sie alle sterben sollen und verrecken. Eingerollt und klein wie ein Igel neben meinem Bett, in der Nische zwischen Schrank und Bett, kauerst du. Kopf am Knie, Faust an Faust reibst du langsam deine Knöchel. Du bist der einzige, der sich nicht bestraft, niemals sich selbst, mit keinem Wort, der einzige, der sich nicht beschimpft für seine Phantasien. Der Folterer, der Kerkermeister, der seine Eltern an die Eisennägel bindet, damit sie schreien. Der ihre Laute auch erstickt, der ihnen Fetzen mit Benzin auf seine Wunden legt, und ihnen droht sie anzuzünden. Du siehst die Angst jetzt in den Augen deiner Eltern, wie sie sich klein und kleiner machen, wie sie erstarrt vor dir, sich jetzt bei dir entschuldigen, wie sie dich förmlich anbetteln und bitten, gegenseitig noch beschuldigen; sich rauszureden, das ist doch widerlich. Du würdest dich was schämen, wenn du an ihrer Stelle wärest.

Du schonst sie nicht, weil sie dich niemals schonten. Sie sollen dich anflehen, du willst, dass sie dich bitten und auf ihren Knien zu dir rutschen. Du willst, dass sie sich dir mit gesenktem Blick auf ihren Knien nähern. Du lächelst jetzt. Du lächelst ihre Wunden an. Du lächelst über ihre Schwäche und wie erbärmlich alles ist, wie sie sich jetzt verhalten. Wie sie sich auch verhalten, das wird sie nicht befreien. Sie kommen dir nicht aus. Du bist der ohne Zweifel, der allerletzte Ritter, der nur sich selbst noch hat, es gibt sonst keinen. Du bist der letzte Mensch, der sich noch wehrt, entgegen seinen Feinden. Du bist der Todesbote, der seine Nachricht übergibt. Wer deine Augen sieht, der wird mit Sicherheit dann sterben. Du machst nur andern Angst, niemals dir selbst. Du bist wie Vater einst gewesen ist, als er dich nicht verfluchte, als er dich noch nicht schlug. Du bist das kleinste aller Wesen, und noch nicht lange auf der Welt. Du bist dein Kind, das selbst sich spricht. Das keine Worte weiß, die jemals schaden könnten. Du bist befreit von ihren Worten, die dich in ihren Keller sperrten; du Angst, du Vorsehung, du drohendes Unheil, du Unglück und noch Schlimmeres. Du bist zurückgekehrt um sie zu töten. Du bist in dein Gefühl zurückgekehrt, in deine Haut aus vier verschiedenen Mänteln. Für jede Jahreszeit den passenden. Du wirst nicht mehr verhandeln. Du wirst nie mehr, das was du denkst und fühlst verhandeln. Du hebst den Kopf und siehst die Eltern inständig bitten, sie flehen deine Liebe an. Wie können sie das tun, sie wissen doch, dass du das bist, der ihre Seele bricht und sie zu Tode foltert. Wie können sie jetzt nur von Liebe reden. Sie sehen nicht, dass du sie folterst und sie zu Tode quälst? Sie appellieren an die Güte. Das hast du niemals so getan, weil du nicht wusstest, was das ist. Die Güte war dir unbekannt. Woher wäre sie gekommen? Du stichst mit Schwertern ihre Augen aus, du schneidest ihre Arme ab und schüttest Salz in ihre Wunden. Sie schreien nicht, das ist auch gar nicht nötig, du weißt doch selbst, wie weh das tut. Du brauchst das Schreien nicht erwähnen. Die Schreie waren stets in dir. Jetzt hörst du keine Schreie. Versiegelt ist der Mund der Eltern, mit dem Entsetzen, mit dem sie dich einst selbst versiegelten. Die Blicke töten nicht. Die Worte sind verstummt. Die Arme, Hände können nicht mehr schlagen. Die Worte auch in ihren Hals geschoben. Du stopfst der Mutter Blumen in den Schlund und schüttest Wasser hinterher. Du zeigst jetzt Phantasie, wie sie in dir entstanden ist. Du tötest deine Eltern immer wieder. Du zweifelst nicht. Du schaffst Gerechtigkeit mit deinen Worten. Mit Augen und mit deinen Zähnen. Du reißt die Zähne aus dem Maul des Vaters und die auch deiner Mutter. Du wirfst die Kleider auf den Haufen. Du brüllst dem Vater in sein Ohr, damit er endlich ruhig ist. Du brüllst und schlägst ihm ins Gesicht. So solltest du doch einstmals ruhig werden. Du zeichnest deiner Mutter Engel an die Wand und Geister, die sie schänden, und gehst. Du sagst, hab keine Angst und drehst dich weg mit einem Lächeln. Und schlaf schön ein, sagst du mit einem letzten Nicken. So solltest du gut schlafen. Du baust dir dein Gefängnis, du stattest es mit jedem Wissen aus, das du von deinen Wunden hast, wie sie in dich geraten sind. So rächst du dich an deinen Eltern. Du bist ihr Ungeheuer, das Wunderkind, das sie in dir nur träumten, jetzt schließlich selbst geworden. Du willst, dass sie dich lieben, auch wenn du ihre Seele quälst. Du willst, dass sie dich lieben, auch wenn du ihre Körper schändest. Du willst ein Zeichen ihrer Liebe.

Sie kriechen blind auf allen Vieren und jammern gegen dicke Wände, so leise dass du fast nicht hörst, was sie noch immer nicht begriffen haben, dass du nicht eher aufhörst mit der Quälerei, bis sie die Liebe voll und ganz zu dir beweisen können. So dass du ihnen glaubst, dass sie dich wirklich lieben. Sie sollen dich von ganzem Herzen und aus dem Grunde ihrer Seele lieben. Sie sollen sich in Liebe nun bekennen.

Jetzt friert die Hölle ein.

Dein Blick fällt auf ein Fenster, das du für dich gelassen hast, der Mutige, für alle Fälle, woraus du springen kannst, für alle Fälle. Doch heute, hier, bist du Gefängniseigentümer. Du öffnest also jenes Fenster und Licht fällt in den Raum. Du schaust hinaus und siehst mit einem Mal das Leben, das ohne deine Eltern, das ohne dich und deine Eltern ist, und plötzlich siehst du eine Möglichkeit, die Wahl, die du nie vorher hattest. Du siehst dich draußen unter Fremden, dort nicht mehr Rache nehmend, für keine Liebe die du hattest. Du hattest keine Liebe in der Kindheit und zu Hause, und niemand, der dort draußen ist, kann sie dir nachträglich noch schenken. Denn endlich Liebe haben wollen, so sehr, dass deine Sinne schwinden, mit aller Leidenschaft und auch Besessenheit, gleich ohnmächtig mit aller Kraft und auch Gewalt, die Liebe endlich haben wollen, ist das, was dich gefangen hält und halten will, auch was du selbst gefangen hältst, verzweifelt nicht loslassen konntest, den Wunsch geliebt zu werden. Es war nur Wunsch und niemals Wirklichkeit.