Texte von Hugo Rupp

Vom rechten Glauben

 

Er hat nur Scherereien und Ausgaben, sagt er. Für Mutter bin ich dreckig, ungezogen, unverschämt, undankbar, ein Schmarotzer.

Ich muss Vater lieben und ihm dankbar sein, weil er mich nicht in ein Heim gibt und nicht aus dem Haus wirft. Er lässt mich in seinem Haus wohnen und nicht verhungern und erfrieren.

Er nennt mich Last und Plage. Ich bin ein ungebetener Gast.

Ich muss mich schinden.

Ich bin ein Kranker und man kann Kranke nur mit Erziehung und Strafe behandeln. Kinder, die krank auf die Welt kommen, mit der Erziehung zu gesunden Menschen machen. Vater versteht sich auf Erziehung. Er war Soldat. Es ist mein Selbstverständnis, wie Vater mich sieht.

Ich bin nichts wert!

Ich muss Vater glauben. Ich glaube an ihn, weil er mich nicht hinauswirft.

Ich sei anhänglich gewesen, sagt sie.

Ich habe das vergessen. Es ist der Beweis für meine Qual. Ich habe an jedem Wesen festgehalten, um nicht allein zu sein. Ich hätte auch an einem Fremden festgehalten.

Er greift mein Bein, mein Knie und drückt zu. Er sieht mich an. Er lässt mich wieder los. Ich fürchte, dass hier irgendwo die Zärtlichkeit beginnt; die Nähe. Eine Möglichkeit vielleicht sogar für eine Art Umarmung. Wenn ich den Kopf an seine Schulter lege, wenn ich das nur gewollt hätte.

Ich will seinen Griff los sein. Er hält mich fest. Solange ich wütend bin, dann lässt er los und greift wieder nach mir. Ich glaube, dass ich nicht vor ihm fliehen kann, dass ich ihn nie los werde.

Ich bin Sisyphos. Jedes Kind, das festgehalten wird, ist Sisyphos und kennt die Qual, die in der Wiederholung liegt.

Vater gibt nicht nach. Er lässt nicht los, wenn ich es will. Er ist immer enttäuscht, wenn ich mich nicht mehr schinden lassen will. Er geht. Erregen und dann niederdrücken mag Vater am liebsten. Er beißt seine Zähne schief dabei, wenn er spürt, mit welcher Kraft ich versuche, von ihm wegzukommen. Mutter mischt sich nicht ein.

Wenn ich zu weinen anfange, weil ich Wut in mir habe, hört Vater auf. Dann ist er beleidigt und schaut mich vorwurfsvoll an. Er lächelt, dann zieht er die Augenbrauen nach oben.

Jetzt ist aber wieder gut, sagt er.

Meine Wut ist sinnlos, zu halten, zu fühlen, dass es vollkommen sinnlos ist, mich gegen ihn zu richten. Meine Wut gegen ihn tut sich nur immer wieder weh. Er zeigt mir, dass ich mich mit meiner Wut bei ihm immer nur selbst schneide, ins eigne Fleisch. Er nannte dieses Spiel, den Schneid abkaufen. Es bedeutet Mut zerstören.

Schau, das bringt doch nichts, da hilft doch auch dein Weinen nichts.

Wer wird denn gleich weinen.

Da brauchst du dich nicht ärgern. Das bringt doch nichts, wer wird denn da gleich weinen.

Da brauchst du dich doch nicht gleich so ärgern. Das bringt doch nichts. Das bringt doch alles nichts.

Das lässt sich halt nicht ändern. Schau das bringt doch nichts.

Da hilft auch kein Weinen.

Da hilft auch KEIN Weinen, sagt sie.

Du brauchst nicht gleich wieder weinen. Das wird nichts bringen. Du weißt genau, dass du damit bei mir nichts ausrichten kannst. Mit deiner Trenzerei erreichst du bei mir gar nichts, sagt er.

Du wirst nichts damit bei mir erreichen. Das solltest du allmählich wissen. Das solltest du allmählich wissen können, sagt er.

Du kannst schreien wie du willst, das bringt alles nichts, sagt sie.

Er steht vor mir und fängt zu lachen an.

Schau, das hat doch alles keinen Sinn. Wenn du deinem Vater widersprichst. Das wird doch auch nichts ändern, sagt sie.

Du kannst auch ruhig weiter weinen. Ich jedenfalls gehe jetzt nach Hause. Du kannst hier ruhig noch stehen bleiben und weiter weinen. Ich jedenfalls, für meinen Teil, geh jetzt.

Sie lässt mich stehen.

Da brauchst du jetzt nicht gleich so wütend werden. Du tust ja gerade so als würde die Welt untergehen. So schlimm ist das nun auch wieder nicht.

Alles ist sinnlos. Alles was ich fühle, ist sinnlos.

Da brauchst du nicht gleich in den Boden stampfen. Da kann der Boden nichts dafür, dass du dich gleich wieder so aufregen musst.

Schau, das hat doch keinen Sinn. Dein Vater wird dir das nie erlauben.

Und wenn du drei Tage durchweinst, wird sich daran nichts ändern.

Schau, daran wirst auch du nichts ändern. Deinen Vater wirst auch du nicht ändern. Das solltest du allmählich wissen.

Vater ist der Unabänderliche und meine Mutter die Prophetin dieser Wahrheit.

Auch du wirst deinen Vater nicht ändern können. Du kannst dir an deinem Vater die Zähne ausbeißen, aber du wirst ihn nicht ändern. Du kannst aber auch auf mich hören. Das wird dir viel Leid ersparen.

Du gibst mir jetzt sofort deinen rechten Arm! Den rechten habe ich gesagt. Den rechten! Hörst du nicht. Allmählich könntest du schon wissen, was rechts und links ist, sagt sie. Hat dir das dein Vater immer noch nicht beigebracht.

Du gibst mir jetzt deine rechte Hand.

Nein, deine rechte.

Deine rechte, habe ich gesagt. Das kann doch nicht so schwer sein.

Du stellst dich an meine linke Seite.

Links habe ich gesagt. Wenn ich rechts meine, sage ich rechts.

Rechts ist dort wo der Daumen links ist. Das könntest du allmählich auch schon wissen. So, du gibst mir jetzt die Hand und gehst an meine linke Seite. Siehst du! Jetzt können wir gehen.

Ich werde dir schon beibringen, wie das geht.

Nicht so schnell, schön langsam, nicht ziehen.

Jetzt komm, schnell. Über die Straße. Kannst du nicht ein bisschen schneller. Willst du, dass uns vielleicht ein Auto überfährt.

Er lacht.

Du bist ja langsamer als eine Schnecke. Du musst schon etwas schneller gehen, wenn wir rechtzeitig wieder zu Hause sein wollen.

Heb deinen Fuß, so machst du deine Absätze gleich beim ersten Mal kaputt. Die Schuhe sollen schon länger halten. Und schau geradeaus.

Dein Schuhbandel ist schon wieder offen. Wie machst du das nur, dass alle daumenlang dein Schuhbandel offen ist.

So, jetzt stell dich mal hin. Bleib stehen und stell deinen rechten Fuß nach vorn. Nein, den anderen. Den rechten. Wie soll ich dir die Schuhe binden, wenn du mir dabei nicht helfen willst. Stell jetzt endlich deinen rechten Fuß nach vorn. Und jetzt bleib so stehen. Du sollst so stehen bleiben. Wie soll ich eine ordentliche Schleife zusammenkriegen, wenn du dich nicht ruhig hältst!? Du wirst doch wohl noch einen Moment ruhig stehen bleiben können. Das darf doch wohl nicht wahr sein. So. Jetzt pass aber auf, dass das nicht gleich wieder auf geht.

So, du stellst dich jetzt mal richtig hin. Ich zeige dir jetzt mal, wie man sich richtig hinstellt. Und Brust raus. Augen gerade aus. Die Schultern etwas mehr nach oben und das Kinn mehr zur Brust und die rechte Schulter noch etwas nach unten. So ist es gut. Dein linkes Bein schaut noch etwas nach vorn. Sonst ist es gut. Und deine Arme an die Seite, mit den Händen flach an die Seite. Brust raus und Bauch rein. Du sollst gerade stehen. Wenn du nicht richtig atmest kannst du auch nicht gerade stehen. Immer Brust raus. Du musst durch die Brust nach oben atmen. So, jetzt weißt du, wie du richtig atmen sollst.

Halt deine Schultern gerade. Nicht so viel nach vorn. Du machst eine Hühnerbrust. Du willst doch nicht, dass dich die anderen auslachen!? Wenn du so da stehst, lachen dich die anderen bestimmt aus. Und pass auf deine Schultern auf.

Zuerst mit dem rechten Bein anlaufen.

Man springt nicht mit demselben Bein ab, mit dem man weggelaufen ist. Es gibt ein Standbein und ein Sprungbein.

Was ist dein Sprungbein?

Dein rechtes oder dein linkes?

Du musst doch dein Sprungbein wissen?

Du musst doch wissen, was dein Sprungbein ist?

Ich kann dir doch nicht sagen, was dein Sprungbein ist, mit welchem Bein du springen sollst. Du musst doch selbst wissen, was dein Sprungbein ist. Und halt die Knie etwas gebeugt. Niemals gerade halten. Oder durchdrücken. Niemals die Knie beim Sprung durchdrücken.

Du musst doch wissen, mit welchem Bein du als erstes wegläufst. In welchem Bein du die meiste Kraft hast!?

Du musst doch wissen, was dein Startbein ist.

Ich kann dir das nicht sagen!

Vater lächelt amüsiert.

Woher soll ich wissen, was dein Sprungbein ist. Ob es dein rechtes oder dein linkes ist.

Mir ist vollkommen gleichgültig, mit welchem Bein du anläufst und mit welchem du zuerst wegläufst und dich abstößt.

Ich fange jetzt zu weinen an. Ich schüttle meinen Kopf.

Da musst du jetzt nicht wütend sein, sagt er.

Ich drehe meinen Kopf, dass er nicht sehen kann, dass ich jetzt weine und auf meine Zähne beiße.

Das kann doch nicht so schwer sein, sagt er.

Mein Körper kennt kein links, kein rechts sein müssen. Er hat das alles nie verstanden.

Schau, das hat doch alles keinen Sinn. Wenn du das auch nicht machen willst. Du weißt nicht, du kannst nie wissen, für was das aber noch gut sein könnte. Später, sagt sie.

Die Mutter predigt, dass alles sinnlos ist; die Gegenwehr. Sie will nicht, dass ich nur ein Wort anfechte.