Texte von Hugo Rupp

Verrückt gemacht

 

Sei still, weine nicht… bleib still, da ist nichts. Nichts gewesen. Da ist nichts. Nichts ist da. Sei still, da ist nichts, da ist nichts gewesen. Da war nichts, da ist niemand. Da ist nichts, was dir weh tut. Da ist niemand, der dir weh tun könnte. Da ist doch nichts. Nichts was dir fehlen könnte. Da ist doch nichts. Ich sehe nichts. Dir fehlt doch nichts… Dir fehlt doch wirklich nichts. Was könnte dir schon fehlen? Der hat doch nichts, der hat doch alles, was ein Kind sonst braucht! Dir fehlt doch nichts. Schau den nur an, was könnte dem noch fehlen? Was dem fehlt? Dem fehlt nichts. Was könnte dem denn fehlen? Warum der schreit? Der schreit nur so, dem fehlt doch nichts. Was schreit denn der bloß so? Was schreit denn der ununterbrochen, so wie am Spieß? Wie abgestochen. Der schreit wie abgestochen. Was hat denn der? Dem fehlt doch nichts. Und wenn ihm etwas fehlt, dann weiß ich nicht, was dem noch fehlen könnte. Was dem noch fehlen könnte, das weiß ich nicht und ich versteh auch nicht, was das sein könnte. Dem fehlt doch nichts? Dem fehlt doch nichts. Vielleicht hat er schon wieder Hunger? Das glaub ich nicht. Der hat doch eben erst etwas bekommen.

Vielleicht ist ihm langweilig? Vielleicht schreit er aus Langeweile. Nur weil ihm langweilig ist. Nur deshalb. Was könnte dem denn fehlen. Was könnte dem jetzt fehlen? Was könnte dem denn noch fehlen. Vielleicht haben wir etwas übersehen. Vielleicht haben wir noch nicht an alles gedacht? Ich weiß es nicht. Ich weiß es auch nicht. Was könnte dem denn fehlen? Der hat doch alles. Was kann dem jetzt noch fehlen? Ich weiß es nicht. Ich weiß mir keinen Rat. Ich weiß nicht, was dem jetzt noch fehlen könnte. Warum der schreit und gar nicht mehr aufhören will mit seiner Schreierei, warum der einfach weiter schreit, als wäre niemand hier. Was schreit denn der trotzdem, warum schreit der trotzdem. Wir sind doch hier. Als wären wir nicht hier. Der hat doch keinen Grund zu klagen. Vielleicht braucht er mehr Ruhe. Vielleicht müssen wir ihn nur ins Bett legen und dort eine Zeitlang schreien lassen, bis er sich besinnt und von selbst merkt, dass ihm nichts fehlt. Dass es nichts gibt, über das er sich dermaßen aufregen könnte. Vielleicht hört er dann von selbst zu schreien auf. Vielleicht hört er dann von selbst auf, wenn er merkt, dass die ganze Schreierei völlig umsonst ist und nichts bringt. Dass es überhaupt keinen Grund gibt, so zu schreien und sich zu beklagen.

Erleuchtet ist ihr Gesicht, der Umriss ihres Körpers ist von Sonnenschein umflort. Sie nähert sich und bleibt dann stehen. Ihre Augen sind zwei Eisennägel. Ich sehe keinen Mund, ich habe keinen Mund für mich.

Ich kann mich nicht mehr äußern. Die Zornesröte im Gesicht, die Angst schwarz um mein linkes Auge. Die Wut ist blau und unterlaufen an meinem rechten Augenunterlid. Geschwollen vom Herzschlag, vom vielen Husten und sich übergeben. Ich bin auch innerlich verblutet; hier. Ich bin an meinem Zorn erstickt. Ich habe mich daran erbrochen und liege jetzt still da.

Da kommt die Frau, mit einer Sonne umgehängt. Die Augen Stacheln, die meinen Blick betäuben. Ich weine nicht. Ihr Mund näht mich mit meiner Not, mit meinen Klagen ein. Sie spinnt, was ich ihr melde und bedeute zu ihren Wünschen um. Sie webt und spinnt mich in stille Einsamkeit. Wie eine Spinne in ihr Netz, dort bin ich ihr zu Diensten. Für sie dort still zu halten.

Was ist das, was dich so plagt?

Mein Weinen, klagen müssen. Dass ich nicht aufhören kann. Ich kann es nicht. Sonst hör ich auf zu atmen.

Sie hat mich eingesperrt und ist gegangen.

Du hast keinen Grund, dich zu beklagen, sagt er. Du hast keinen Grund, jetzt auch noch wütend zu sein, sagt sie. Du hast keinen Grund, dich aufzuregen, sagt er. Du hast keinen Grund, ein so trauriges Gesicht zu machen, sagt er.

Du hast keinen Grund dich zu beklagen, sagt sie. Du hast keinen Grund auf deine Eltern oder deinen Vater wütend zu sein, sagt er.

Es gibt keinen Grund jetzt auch noch wütend zu werden! Du hast keinen Grund dazu, sagt sie. Es gibt keinen Grund, dass du gleich so zornig wirst, sagt sie.

Du hast keinen Grund auf uns böse zu sein, sagen sie.

Ich darf mich nicht beklagen.

Der Raum ist abgedunkelt, sehr wenig Licht. Die Decke niedrig und die Wände drückend, Holz, dunkelbraun. Die Luft steht. Lila Vorhänge. Auch weiße Stores mit weiten Maschen. Ich spüre Mutters Fragen, nach meinem Aufenthalt, nach mir und meinem Wissen. Ich gehe langsam Richtung hellstem Fenster. In jene linke Ecke, wo ich einst schlief.

Wenn du nicht aufhörst dich zu beklagen und zu beschweren, wenn du nicht aufhörst frech und laut zu sein, dann geh ich weg und lasse dich alleine hier.

Ich gehe trotzdem weiter. Ich gehe mit der Drohung weiter. Ich sehe tote Tiere. Das Spinnennetz und ein Kokon, der riesig wirkt von hier. Es könnte auch ein Kind dort sein. In einem Kokon eingesponnen. Darüber eine rote Sache. Vielleicht ein Tier. Viel größer als die Spinne. Rund, wächsern. Sieht aus wie ein geschlachtetes Schwein. Ihm fehlt der Kopf. Von weitem kann ich das nicht sehen.

Niemand wird dich hier schreien hören. Niemand kann dich hören. Hier ist niemand. Hier sind nur wir beide. Du und ich. Du kannst entscheiden, was du willst. Entweder hörst du jetzt auf mit deiner Schreierei, oder ich gehe. Du kannst dich selbst entscheiden.

Ich gehe langsam weiter. Nichts von dem toten Zeug bewegt sich wirklich. Ich denke plötzlich nach. Im Stillen Reich der Toten. Ich habe niemals nachgedacht, etwas zu tun, was tun zu können hier. Ich hatte niemals vorher die Idee, in diesem Raum etwas zu tun, an diesem Raum etwas zu ändern.

Ein Schwein, das man absticht, kann nicht lauter sein. Wie am Spieß.

Ich könnte diese Spinnweben mit einem Staubsauger einsaugen, denke ich. Ich könnte das doch tun. Ich denke jetzt tatsächlich praktisch. In dieser Traumkulisse, die jede Angst vor allem Möglichen für mich beherbergt und beinhaltet. Ein abgestandener Duft nach Blumenwasser.

So lange kann doch nichts weh tun, damit man soviel weinen muss. Du spielst mir doch was vor. Du heulst mir doch zum Fleiß was vor. Das sind doch reine Krokodilstränen.

Ich bin am Fenster angelangt. Der Kokon ist ein Netz mit kleinen Plastikkrokodilen. Zwei kleine grüne Plastikkrokodile. Das tote Tier, das von der Decke hing, ist ein alter Plastikball, von dem die rote Farbe blättert. Darunter ist er weiß.

Siehst du, das hast du nun davon. Jetzt hast du dich an deiner eigenen Heulerei erschreckt und noch verschluckt dazu.

Sie reden mir den Schrecken aus und lassen mich allein. Wie ich mir später auch den Schrecken immer wieder ausreden musste.

Mich nicht zu schrecken, war für mich nicht möglich. Kein Kind kann sich gespielt erschrecken. Kein Kind kann sich erschrecken spielen. Kein Kind kann Schrecken spielen. Das ist das Schrecklichste, dass das die Großen nicht mehr wissen. Sich nicht erschrecken, ist unmöglich.

Da war ich noch so klein wie eine Feder. Da war ich wie ein Ball so leicht. Da war ich kugelrund und konnte nicht wegrollen.

Ich habe mich dann weggesperrt und bin allein in mir verblieben, wenn ich mich über mich beklagte und über mein Versagen. Denn ich beklagte mich doch über niemanden. Nicht einmal in mir selbst empfand ich Wut und Zorn für einen, der mir weh tat und mich quälte. Und wenn mich später eine Frau aus heitrem Himmel stehen ließ und einfach ging, verschwand für immer, ohne eine Rührung, dann wurde ich nicht zornig, wütend, anklagend. Ich wehrte mich im Grunde nie. Nie gegen das verlassen werden. Ich sagte zum Verlassen werden nie ein Wort.

Ich schämte mich vor ihr und meinem Hunger. Ich schämte mich vor meinem Wunsch nach Nähe. Ich schämte mich vor mir. Dass ich mir nicht zu helfen wusste. Ich schämte mich vor meinem Durst und ihren Blicken. Wenn sie mich abschätzig beachtete. Ich schämte mich, armselig ohne eigne Mittel.

Ich lass dich jetzt allein. Dann kannst du dir überlegen, warum du die ganze Zeit über schreist. Warum du schreist. Du undankbares Kind!

Ich schämte mich. Ich hasste später nur mich selbst und meine Art Bedürfnis. Ich weinte meine Retter an, ich machte ihnen große Augen. Ich himmelte sie auch an. Ich schenkte ihnen Freudentränen. Ich wusste nichts von Peinigern. Ich hatte keine Feinde. Ich kannte nur die Qual und jene, die sie mir beseitigten. Ich kannte meine Retter an der Nase. An ihren Augen sah ich Klagen.

Ich der Beklagte.

An meinem Kinn hing Zorn. In meinem Rachen ein Geruch von frisch Erbrochenem. Ich schmeckte meine Wut so sauer. Sie zog mir meinen Mund zusammen.

Ich wollte helfen und schrie fest, doch sie verstanden meine Hilfe nicht. Ich half mit meinen Klagen und zeigte meine Wunden her. Sie wehrten meine Schmerzen ab. Sie wehrten mich samt meiner Klagen ab. Sie klagten mich mit meinen Klagen an. Sie nahmen meine Laute. Sie drehten meine Qual und machten Lachhaftes daraus. Sie nahmen meine Schmerzen und machten sie zu Nichtigkeiten. Ich schämte mich und meine Klagen gingen klanglos unter. Sie lachten über mich.

Ich hustete.

Warum?

Ich hielt mich selbst nicht aus. In mir, mit meiner Leere, mir unverständlich. Ich hasste meine Seelenqual, die mir und jedem anderen nur unverständlich schien. Ich hasste mein Versagen, mit meiner Seelenqual allein zu sein und nicht zu wissen, was ich damit sollte. Ich hasste mich für mein Unwissen und mein notdürftig sein. Ich konnte mir nicht helfen und hasste mich dafür, mir selbst Behelf zu sein, mir selbst nicht wirklich beizustehen. Ich schämte mich für meine Tränen. Ich fühlte meine Einsamkeit und mein Gefühl der Abgeschiedenheit für mein Versagen in der Liebe, für mein Versagen auch im Umgang mit den Menschen. Als stünde meine Einsamkeit im Weg, mich anzunähern und zu helfen. Als wäre ich mit meiner Einsamkeit selbst schuld, dass ich allein mich fühlen musste. Dass ich schuld bin mit meinem Hungerweinen. Dass mein Gefühl, die Äußerung des Hungers, dass ich und mein Gefühl schuld sind an meinem Hunger. Dass Hunger schuldhaft ist und Einsamkeit auch Schuld bedeutet. Dass alles was ein Kind in seiner Not auch macht, vermeldet und sonst tut, nur wieder Schuld bedeutete. Dass ich mit meiner Not nur schuldig bin und niemals nur bedürftig. Ich konnte mich in meiner Einsamkeit nicht selbst ernähren. Es gab dort keinen Gott, der mich ernährte. In meinem Zimmer war ich allein, niemand der mir geholfen hat.

Ich konnte mich von meinen Tränen nicht ernähren. Ich hatte keine Fähigkeit, mich mit Gedanken zu ernähren. Kein Kind trägt Zukunft in sich mit, ausschließlich Gegenwart für sein Gefühl. Es gab für mich die Zukunft nicht. Allein kann ich als Kind nur leiden. Ich kann nichts anderes.

Ich musste ihre Warnung glauben, es würde mich allein nicht geben. Das war es, was ich jeden Tag, mir gegenwärtig glauben musste. Dass ich selbst ohne jede Rettung bin. Das war mein Kinderglauben. Mein glauben müssen. Und meine Angst vor meiner Mutter, ist mein Gedanke, sie könnte nie mehr wiederkehren, sie könnte weg sein, könnte sterben, war gleichbedeutend mit dem Gefühl, ich würde selbst dann auch verschwinden. Mit meiner Einsamkeit vergehen. Als wäre ich nichts weiter, ein Kind allein in einem Zimmer. Als wäre das mein Grund, in Einsamkeit vergehen, mich nach der Mutter zu verzehren, als wäre sie die Einzige, als wäre sie mein Leben. Als wäre sie mein Leben. Das sie verhindert. Als hätte ich kein eigenes. Als wüsste sie, was ich mir wünschte. Als wüsste sie doch ganz genau, was ich für mich selbst wünschte. Die Freiheit und ein eignes Leben? Als wäre alles nur gemacht um meine Freiheit zu verhindern. Sie schickte mich in meine Einsamkeit, dass ich mich dort nach ihrer Rettung so verzehrte. Sie kam als Retterin. Sie tauchte auf als Hoffnungsschimmer. Ich konnte diese Lüge nie verstehen. Ich konnte meine Wahrheit nie verstehen.

Dass sie mich leiden ließ für ihre Zwecke.

Dass ich sie hasste für ihr Lächeln, wenn sie so tat, als wäre nichts gewesen. Ich habe diese Lüge nie begriffen, solange ich ihr dankbar war, dass sie mich rettete. Ich musste ihr doch danken, das war doch ihre „Liebe“. Sie wartete auf meine Dankbarkeit, als Zeichen meiner Liebe.

Ich legte meine Seele ab für meine Rettung. Ich legte meine Seele ab und opferte sie meiner Retterin aus Dankbarkeit. Sie war die Retterin, und ich ihr böses Opfer. Ich war das Krokodil mit meinen Tränen. Ich war der Ball, der seine Farbigkeit verlor, der sich selbst auflöste. Ich war der, der mir selbst weh tat und niemand anderer. Ich musste mich belügen, sonst wäre ich in diesem Zimmer eingeschlafen und nie mehr aufgewacht.

Der Mut der kindlichen Wut

Sie freut sich über mein vergeblich Mühen. Vergeblich leiden. Vergeblich sein und vergeblich wütend sein.

Sie freute sich und fand Gefallen an meiner Mühe, mich aufzustützen und den Kopf zu heben, mich zu ihr hin, in ihre Nähe bringen. Sie lächelte und strich mir über meine Stirn. Ich schwitzte, mir war heiß. Ich kam nicht in die Höhe, ich kam ihr doch nicht nahe. Sie fand Gefallen an der Mühe. Wie ich ihr näher kommen wollte. Mein fleißig sein, mir Mühe geben, mein später braves Kind sein spielen, ihr zu gefallen und so vielleicht geliebt zu werden.

Hab ich es dir nicht gleich gesagt. Aber du wolltest nicht auf mich hören. Habe ich dir nicht gesagt, freu dich nicht zu früh!?

Die Toten zu erwecken. Ich soll das tun. Ich soll sie, wenn sie Tote spielt, versuchen sie zu wecken. Sie wacht nie auf, nicht wenn ich es versuche. Wenn ich dann weine und verzweifelt bin und hoffnungslos da stehe, dann schlägt sie ihre Augen auf und lächelt. Sie lehrte mich Vergeblichkeit. Vollkommen sinnlos sein, an mir zu scheitern, meiner Sorge.

Vergeblich lieben müssen, ist eine Grausamkeit, die eine Seele frisst, mehr noch als Angst es je vermag. Sie frisst dich auf mit Stumpf und Stiel und tötet deinen Mut, der doch darin besteht, für dich und dein Gefühl zu sorgen.

Was bildest du dir ein!? Was denkst du dir nur wieder aus!?

Sie machten mich verrückt, und ich versuchte wütend, nicht verrückt zu werden.