Texte von Hugo Rupp

Verrenkung, Krümmung, Bauchgrimmen

 

Gründe und Pläne sind nur erforderlich, wenn Sperren zu überwinden sind und Widerstand zu brechen ist, wenn also nicht alles möglich ist. Sobald aber alles möglich ist, bedarf es keiner Zwecke mehr. Der Folterer ist längst am Ziel. Auf die Wahrheit, den Schulderweis oder die Bekehrung kommt es gar nicht an. Die Tortur ist reine Grausamkeit. Nachdem der Gepeinigte geredet hat, wird er weiter traktiert.

Aus: Wolfgang Sofsky, Traktat über die Gewalt

Dass ich dem Vater niemals direkt begegnen und entgegnen konnte. Dass ich dem Vater nie direkt in seine Augen blicken konnte. Nicht in sein Auge sehen konnte, weil er mir weh tat, wenn er mir weh tat. Er griff mich frontal an und ich vermochte nicht ihm zu begegnen. Das dachte ich, dass das so war, dass das doch immer so gewesen sei.

Er konnte mir weh tun, ich musste das geschehen lassen. Er konnte mir weh tun und ging dann weg, oder kümmerte sich danach um etwas anderes. Und ich blieb stehen oder wartete, und blieb mit meiner Art Verletzung ganz allein an Ort und Stelle.

Ich konnte ihm nicht widerstehen, bedeutet doch, ich konnte seinen Schlägen nicht ausweichen. Ich konnte seinen Worten und Beschimpfungen auch nicht widerstehen. Ich konnte meinem Vater keinen Widerstand entgegenbringen. Ich musste mir weh tun lassen und begreifen, dass niemand was dagegen vor brachte.

Sag doch du auch etwas dazu, sagte er zu meiner Mutter, dass sie ihn unterstützen sollte. Sie hielt mir vor, dass ich den Vater so geärgert hätte, dass er nicht anders handeln hätte können, dass er mir eine Ohrfeige um die andere geben hatte müssen, weil ich doch förmlich darum gebettelt hätte.

Sag du doch auch etwas dazu!

Ich musste mich geschlagen geben.

Sag doch du auch etwas dazu, das sagte er zu meiner Mutter, dass sie ihn unterstützen sollte.

Sag du doch auch etwas zu uns.

Ich konnte meinem Vater nicht mit Schmerzen kommen.

Ich wurde krank davon. Ich wurde krank daran. Ich wurde krank von der Behandlung durch den Vater und die Mutter. Doch niemand merkte das, am allerwenigsten wohl ich. Ich war auf meine Eltern angewiesen.

Ja sag doch was dazu. Ja sag du doch etwas dazu, sagt sie. Er folgt mir nicht! Sag du ihm endlich jetzt Bescheid, dass das nicht weitergeht. So nicht. So kann das jetzt nicht weitergehen. Hörst du.

Jetzt redet wieder die Maschine.

Ihn zu bekräftigen, ihn zu bestätigen, wenn sie ihn auffordert, er soll mir die Leviten lesen.

Sag doch du endlich auch was dazu!

Spuren der Folter

Sag nichts. Sei still, damit er nicht erfährt, dass du nicht schläfst!

Ich war auch ihr Komplize und Verschworener, der nichts zu ihrer Art und Weise sagte. Ich sagte nichts zu meinem Vater über meine Mutter. Ich sagte nichts zu ihr und ich beklagte mich niemals. Kein Sterbenswort zu ihm, nie über sie. Kein Sterbenswort verriet ich meinem Vater. Wie kann das sein, dass ich nie etwas über sie gesagt habe? Ich habe meine Mutter nie verraten.

Auf meinen Bildern schreit ein Kind: Sag was dazu. Und niemand sagt etwas dazu. So war es. Sie schwiegen darüber. Niemand der etwas über mich verlor und meine Not bemerkte. Sie sagten nichts dazu. Sie waren stumm. Ich war nicht immer stumm. Das habe ich gelernt. Die Stummheit war erlernt. Die Eltern waren stumm, wenn es für mich um etwas ging. Wenn ich etwas von mir erwähnen wollte, dann waren meine Eltern ohne Sprache.

Sie waren für mich stumm. Sie sagten nichts für mich. Sie redeten nur schlecht. Sie machten mich und andre schlecht. Sie redeten nicht gut. Sie redeten nicht gut zu mir. Sie redeten mir nicht gut zu. Sie meinten es nicht gut mit mir. Sie waren schlecht auf mich zu sprechen. Sie sprachen schlecht zu mir und Schlechtes über mich. Sie waren nicht wohlmeinend. Sie waren mir nicht wohlgesonnen.

Sag du doch endlich was dazu!

Sie sagten nichts zu mir. Sie sagten was zu sich. Sie sprachen über sich und dass ich das verdient habe, dass ich nichts besseres verdient habe. Dass schließlich nichts geschehen sei. Es ist doch nichts passiert. Ist doch nur ein Kratzer. Das geht doch wieder weg. Da wird man später nichts erkennen können. In hundert Jahren wird kein Hahn mehr danach krähen. Schon morgen wirst du selbst darüber lachen können. Dann wirst du wieder fröhlich sein. Auf Regen folgt auch wieder Sonnenschein, sagt er.

Auf so vielen meiner Bilder sind Figuren stumm. Bei vielen fehlt ein Mund.

Nimm deine Arme runter. Und sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir spreche!

Der Vogel schützt sich mit dem Flügel und verdeckt damit ein Auge. Er muss nicht zusehen, was auch passiert. Er muss nicht unbedingt zusehen. Wenn er geschlagen wird. Ein Vogel könnte sich verbergen. Sein Krächzen wäre Klagen. Er pfeift auf seinen Angreifer.

Sag das nochmal, was du zu deiner Mutter sagtest!

Ich schaute ihn nur an. Ich habe meinen Vater nicht verstanden. Ich sagte nichts und blieb ganz still.

Wenn er geschlagen werden soll, dann fliegt ein Vogel einfach weg. Verschwindet vor den Augen seines Peinigers. Wenn er nichts sagen soll, dann pfeift er auch da drauf. Ein Vogel würde etwas sagen und dann wegfliegen. Auf Nimmerwiedersehen. Ein Vogel würde das so wagen. Er könnte wegfliegen.

Ich brachte meine Arme nicht nach oben. Ich zuckte und sie wollten ohne mich nach oben. Wie schwarze Flügel eines Raben im Gesicht. Zwei schwarze Flügel, Rabenpaar. Da waren immer zwei. Gehören immer zwei dazu, das sagte ich dann später immer wieder. Gehören immer zwei dazu.

Lass deine Arme ruhig unten.

Stillschweigend musste ich die Schläge dann ertragen, bis er mich wieder gehen ließ. Bis er zufrieden damit war, wie ich mich vor ihm anstellte. Wie ich mich für ihn schlug. Wie ich für meinen Vater sein sollte.

Die Anordnung der Strafe und ihre Ausübung, das rituelle Strafen ist fürchterlich, und vor den Augen meiner Mutter und der kleinen Schwester. Das Publikum für meinen Vater. Die Inszenierung meines Vaters. Dass er das so beherrscht hatte und jeden Schritt bestimmte, das hatte ich vergessen. Dass nichts hier Zufall war, in Ausübung der Strafe. Wenn man in Filmen etwas sieht, wie die Gewalt geschieht, abläuft und dann aufhört, denkt man doch immer auch an Strafen. An Zufall und Notwendigkeit, doch niemals sieht man die Gewalt, die sich gerade in der Inszenierung äußert. Im Schnitt und im Geräusch und in der Färbung einer Muskeläußerung. Nichts ist zufällig hier. Nichts ist zufällig hier gewalttätig. Nichts ist zufällig hier bei mir. Wie er mich immer wieder auffordert, dass ich mich nicht bewegen soll. Ich soll mich nicht verteidigen. Ich soll mich so benehmen, wie er das will. Ein Opfer das sich nicht wehren soll.

Wer sich ein Tier aussucht, das willig die Gewalt ertragen soll, die ein Mensch an ihm ausübt, der sucht Gewaltausübung. Ein Lamm ist wie ein Kind, ein Lamm kann sich nicht wehren. Es soll gerade sich nicht wehren. Es soll mit seinem so sein, mit seinem Lamm sein, fromm Gewaltausübung widerspruchslos ermöglichen und auch lammfromm erdulden.

Lass deine Hände schön an deiner Seite.

Wer sich ein kleines Tier, ein Kind für die Gewaltausübung und Bestrafung sucht, will keinen Widerspruch, der will sich schadlos halten, am wehrlos und unschuldig sein. Der kann sich schadlos halten. Wer sich ein Lamm, ein kleines Kind als Opfer sucht, der will sich schadlos halten.

Sie konnten mit mir machen, was sie wollten. An das Gefühl dabei erinnerte mich nur mein Körper. Ich hob die Schultern immer ein klein wenig an, als würde mir ein Hemd und meine Haut nicht richtig passen. Ich dachte immer auch an Angst, doch an mein nicht mehr wehren können, dass sich im Grunde jeder schadlos an meinem Körper, an mir austoben konnte, und ohne dass ich mich dagegen wehren hätte können mit meiner Wut und das nicht können sollte, solang sich jemand schadlos halten wollte, das wusste meine tiefverborgne Wut. Dass sich mein Körper wehren wollte, doch dass ich das nicht wirklich konnte, aus Angst ums Überleben.

Kannst du mir oder willst du mir nicht antworten!?

Redest du etwa nicht mehr mit uns?

Ich hatte aufgehört mit mir zu reden.

Wer sich als Sündenbock empfinden kann, beendet seine Sündensuche. Der muss nicht mehr wahllos nach Sünden, Sündern und nach Sündenböcken suchen. Der muss nicht mehr nach Sünden suchen. Der weiß um seine Wut auf Unrecht, Ungerechtigkeit. Wie unrecht und wie ungerecht das war als Kind ein Sündenbock sein zu müssen. Wie peinigend das ist, unschuldig schuldig sein und dafür noch zu büßen müssen.

Dann hört das ewig schuldig sein, sich ewig schuldig fühlen müssen auf. Das ewig sich entschuldigen und auch für nichts und wieder nichts nur schuldig sein zu müssen. Dann hört dein Schuldbewusstsein auf die Schuld nur immer bei dir selbst zu suchen.

Sie konnten mich nicht in Ruhe lassen. Das musste ich verzweifelnd lernen. Mich selbst nicht mehr in Ruhe lassen, egal was ich auch sagte und verspürte, egal was ich auch tat und einmal sein würde. Ich musste mich an mir und anderen auch schadlos halten.

Doch wenn das ehemalige Kind die Wahrheit seiner Kindheit schließlich findet, dann hört das schadlos an sich und anderen festhalten selbstredend auf.