Texte von Hugo Rupp

Verleugnung aufgeben

 

Wie Pingpong-Profis warfen sich die beiden ihre Argumente in Sachen Film zu, schnelle, trickreiche Schmetterbälle aus Vorlieben und Abneigungen, mit viel Effet bei jedem Urteil. Der Zankapfel an diesem Abend war Pasolinis posthumer Schocker Die 120 Tage von Sodom, den sie am Vorabend als Höhepunkt eines S&M-Filmfestivals gesehen hatten, über das die gesamte New Yorker Filmgemeinde sprach. Ich hatte den Eindruck, dass sie seit einem Tag ununterbrochen über den Film gestritten hatten. Eddy hielt ihn für >>das endgültige Statement des Antifaschismus<<, Clare widersprach ihm leidenschaftlich: >>Das ist er eben nicht. Faschisten würden ihn lieben, es ist eine offene Kapitulation vor ihrer Ästhetik. Die Schönheit der Grausamkeit. Noch dazu mit der Musik von Carl Orff. Im Offiziersquartier von Buchenwald wäre der Film zum Dauerbrenner geworden.<<

>>Aber du wirst doch zugeben, dass er mit einer bestimmten formalistischen Strenge gemacht ist, die eine objektive Distanz …<<

>>Eddy bitte! Unmenschen besiegt man nicht, indem man ihnen zeigt, wie sie sind – und schon gar nicht, wie sie >objektiv< sind. Sie sind stolz darauf, wie sie sind. Es gefällt ihnen. Das ist die Bedeutung von Sadismus: Schamlosigkeit. Filme wie 120 Tage appellieren nur an die niederen Instinkte in uns allen. Der einzig richtige Umgang mit Faschismus ist, dass man den Leuten immer wieder zeigt, was er nicht ist. Freude, Liebe, Unschuld. Du sollst mein Glücksstern sein – das ist der beste antifaschistische Film.<<

Aus: Schattenlichter von Theodore Roszak

Sie forderten Respekt und Zärtlichkeit und Dankbarkeit, Aufmerksamkeit von mir, wie ihnen das von ihren Eltern schon genauso abverlangt worden war.

Was schaust du mich so vorwurfsvoll nur an! Ich kann doch nichts dafür. Ich habe dich doch nicht geschlagen, sagt sie.

Was fällt dir ein mir wegzulaufen, schreit mein Vater und schlägt mir ins Gesicht.

Du warst als Kind so schrecklich anhänglich, sagt sie.

Wenn meine Eltern nicht die Aufmerksamkeit bekamen, die sie sich von mir erhofft hatten, dann schlug er mich, und meine Mutter ließ mich ganz allein.

Ein Kind das seine Wut nicht fühlen darf, muss sich nach seinen Eltern richten.

Ich übernahm Gewalt und obendrein die Ignoranz darüber. Deshalb war ich verloren. Ich musste die Gewalt und ihre Folgen ignorieren.

Die Mutter trägt im Traum ein Buch. Ein weißes Buch mit leeren Seiten. Die Unschuld meines Vaters, durch meine Mutter immer wieder angemahnt. Sie pocht auf dieses Buch.

Er sprang mir hinterher. Er fiel mich an. Er griff mich, wann er wollte. Er war handgreiflich und gemein, wann immer er mit seinen Händen nach mir griff und mich anlangte. Den soll ich respektieren, diesen Mann, bei dem soll ich mich noch entschuldigen.

Nur keine Widerrede, sagten sie.

Damit kommst du jetzt wieder an. Hast du noch immer nicht genug davon, sagt sie und lächelt spöttisch. Als sollte ich mich dafür schämen.

Kommst du noch immer mit dem Zeug!? Wie kann man sich nur so verrennen und verbeißen!?

Nur nicht Vater ärgern, dachte etwas unaufhörlich in mir weiter. Nur nicht Mutter aufwecken und Vater nicht verärgern. Nicht Vater ansprechen, wenn er schon Ärger hat. Wenn er sich schon so ärgert, dann Vater niemals ansprechen! Ich sehe sein Gesicht und darin seinen Ärger. Ich sehe seine dunklen Augen, wie Widerhaken im Gesicht, die rauen Hände mit den Schiefern.

Ich spielte mit ihm Karten, und er verlor. Ich freute mich.

Jetzt noch um Geld, rief ich.

Nur Juden spielen um Geld, sagte mein Vater, stand auf und verließ den Raum.

Kleiner als meine Hände, waren meine Schreie. Kleiner als Schreie waren meine Hustenanfälle. Mein Wimmern, kleiner noch als Hustenrufe. Aus meiner letzten Ecke. Die Vögel zwitscherten. Wenigstens Vögel, die ohne Vorwurf mit mir sprachen.

Als ich die Laute hörte, zuckte ich zusammen. Dann stand ich auf und ging nach drüben in das leere Zimmer. Im Dunkeln stand ein Mann. Cordjacke und etwas Licht war an ihm dran, am Kopf und rechts in seinem Nacken. Sonst stand der fremde Mann nur da. Ich kam ihm immer näher. War nah an ihm jetzt dran. Ich hielt jetzt sein Gesicht in meiner Hand und hatte Angst vor ihm. Die Haare und die Brille und der ganze Mann, sie hielten meinen Zustand an und fest. Hielt mich an diesem Fremden fest. Dann dachte ich daran, dass ich auch schreien könnte. Ich kann doch einmal schreien. Ich dachte an die Fähigkeit und schrie plötzlich aus vollem Hals. Hilfe! Ich schrie tatsächlich Hilfe! Mit einem Mal war auch ein Fenster auf. Ich wachte auf.

Plötzlich war meine Angst vorüber. Ich wachte ohne Angst und ohne Atemnot in meiner Brust, von mir geweckt dann auf. Ich wachte wegen meiner Hilfeschreie auf und nicht aus Angst. Die Hilfeschreie hatten mich geweckt und nicht die Angst. Das hatte ich noch nie erlebt. Für mich um Hilfe rufen.

Hatte mein Vater Angst vor mir?

Die Frage taucht jetzt wirklich auf. Hat Vater Angst gehabt, vor mir als kleinem Kind?

Er hatte niemals wirklich Angst vor mir.

Doch das versuchte ich als Kind andauernd zu verstehen. Hat Vater Angst vor mir? Hat meine Mutter Angst vor mir gehabt? Hat Mutter wirklich Angst vor mir gehabt?

Mein Vater machte mich erst wehrlos, weil er mich hassen konnte, wann er wollte. Wehrlos wurde ich wegen ihm. Die Angst vor ihm war immer da bei mir, in allen Spiegelbildern. Ich sah sie später nur nicht mehr. Doch sie war da. Sie lag in meinen Zügen. Wehrlos war ich auch wegen meiner Mutter, weil sie mich schrecken und alleine lassen konnte.

Solang ich wehrlos war, blieben meine Eltern unantastbar. Denn wehrlos wollten sie mich haben, dass ich mich niemals gegen sie erwehren würde. Wehrlos war ich den Eltern lieber.

Mich hat niemand vermisst als Kind. Das sagt sich jetzt so leicht und war so schwer doch zu verstehen. Denn Vater interessierten meine Wünsche nicht. Ich sollte keine eignen Wünsche haben. Er übersah vollkommen die Bedeutung, dass ich mit links etwas zustande bringen konnte. Er wollte das nicht wahr haben. Er wollte meine linke Seite nicht. Er wollte mich nicht damit haben. Ich hatte nichts gemein mit ihm. Das war es, was ich nicht verstanden habe. Dass er nicht wirklich was empfand, als ich versuchte mich zu nähern. Dass er nie wirklich etwas für mich fand. Wie hätte er mir weh tun können, wenn er etwas für mich empfand? Wie hätten mich die Eltern so alleine lassen und verraten können, wenn sie etwas für mich empfanden? Deshalb dreht sich in mir alles im Kreis, bis mir selbst schwindlig wird von mir. Ich konnte den Verstand nicht mehr von meinen Eltern lösen. Ich dachte immer nur an sie. Sie musste ich verstehen. Weil niemand für ein Kind die Antwort auf die Frage gab: Wie kann ein Vater seinen Sohn schlagen, wenn er ihn mag?

Mein Leid, das konnte ich vergessen. Ich konnte Vater nicht verraten. Das war für ihn Gold wert. Ein wahrer Goldsegen. Ich zahlte mit Verschwiegenheit, dem Schweigen über Vaters Untaten. Ich sollte nie mehr leiden, solange alles Leid von mir verschwiegen blieb. Was ich auch nach und nach vergaß: Ich konnte nur mehr dann verschweigen. Ich trug das Gold in mir. Ich musste es in mir verschwiegen und verstohlen aufbewahren. Und so verlor das Gold, die unterdrückte Wut und Angst, die ganzen nie gefühlten Schmerzen, mein Kinderleid, vollkommen auch an Wert. Ich konnte es, ich sollte es doch niemals ausgeben. Mein Schweigen war doch mein Besitz, das einzige, was mir vom Leid noch übrig blieb. Doch niemand wollte später etwas davon haben. Sie wollten nichts mehr davon wieder sehen. Das ganze Gold. Es sollte doch soviel wert sein, dachte verzweifelt etwas in mir weiter. Das Schweigen und Verstummen. Doch niemand wollte davon etwas abhaben. Sie wollten gar nichts davon mitbekommen haben, dass ich soviel Verschweigen für sie gebunkert hatte. Die Leute wollten nichts mehr davon wissen. Sie wollten gar nichts mehr damit zu tun haben. Sie wollten die Verschwiegenheit, doch das Verschwiegene, das sollte ich für mich behalten.

Bis Alice Miller kam. Sie wollte etwas davon wissen, kennenlernen und auch haben. Vom wahren Gold des Kinderleidens. Sie wusste, dass ein Kind das retten kann, wenn es Verleugnung aufgibt und sein Schweigen.

Mein Vater nahm mir meine Unbefangenheit; den Kreiselkompass meines Lebens. Er nahm mir die Normalität, natürliches Vermögen. Ich war tatsächlich sein Gefangener. Er schlug mich immer wieder auf dieselbe Stelle, meine rechte Wange. Wo ich mich später auch befand, wie ich mich auch bewegte, was ich auch tat und auch anschließend tun wollte, da war auch immer ein bezweifeln. Ein Zweifel hing in mir an allem Möglichen. Er nahm mir meine Unbefangenheit, das zeigen alle Bilder immer wieder. Die Freude am Erleben hatte er zerstört. Unvoreingenommenes Empfinden. Mir fehlte schließlich die Natürlichkeit, naturgemäß zu handeln.

Wer ein Kind schlägt, macht es gewaltbereit. Es kann sich nicht dagegen wehren. Er nahm mir meine Möglichkeit, ohne Gewalt, ohne die Grausamkeit zu überleben. Wer ein Kind schlägt, macht dieses Kind gewaltbereit. Ich musste später grausam sein, mit Grausamkeit auch reden und Grausamkeit verbreiten. Wer ein Kind schlägt, macht es für die Gewalt erträglich. Mein Vater machte mich empfänglich für Gewalt. Ich war dafür verfügbar. Die Klapse machen ein Kind für Gewalt von Anfang an so mürbe und für Gewalt dann zugänglich. Ein schon so früh geschlagenes Kind, kann sich nicht anders sehen, als mit Gewalt versehen, denn seine Haut spürt immer schon Gewalt und die Bereitschaft dazu. Ich konnte keine Freude mehr erleben. Mir fehlte dazu Unbefangenheit. Wer ein Kind schlägt macht es gewalttätig. Ein geschlagenes Kind lernt lügen und betrügen, weil es die Wahrheit nicht ertragen kann, dass seine Eltern es nicht lieben, wenn sie es schlagen und seine Unschuld dafür opfern.

Kein Kind kann sich von der Gewaltbereitschaft selbst wieder befreien. Das ist die schlimmste Lehre die es gibt, so früh mit der Gewalt zuhause aufzuwachsen. Von der Bereitschaft zur Gewalt, deswegen kann ein Kind sich davon nicht entfernen und befreien, wenn es mit der Gewalt zuhause lebt. Zuhause war ja die Gewalt. Es braucht dagegen einen Zeugen. Es braucht für das, was es nicht gab, ein Zeugnis oder Gutachten. Einen Beweis dafür, dass seine Kindheit auch tatsächlich Aufmerksamkeit verdient.

Gewaltbereitschaft ist Abwehr, um sich gegen drohendes Unheil, heimliche Wut und unheimliche Schmerzen zu erwehren. Gewaltbereitschaft gegen sich und andere, ist Krieg gegen die Gespenster.

Und jetzt ist alles wieder gut!

Mutter wischt meine Tränen weg. Mit Taschentuch und ihrer Spucke.

So, jetzt ist alles wieder heil. Und tut auch nicht mehr weh.

Die Reinigung.

So, jetzt bist du auch wieder ganz.

Als wäre nichts mit mir passiert, als wäre nichts in mir geschehen.

Was ich erst jetzt begreife und erleben kann und was mich damals schier verrückt gemacht hatte. Die Fröhlichkeit, scheinbare Freundlichkeit, mit der sie mich und mein Gesicht behandelte. Die Augen mir ganz nah und wie sie lächelte, dabei verwischte sie mir meine Tränen und redete auch unaufhörlich weiter. Sie nahm nichts von mir wahr. Gar nichts, was mich ergriffen hatte. Alles war reinste Ablenkung. Nur der Geschmack von ihrer Spucke in meinen Mundwinkeln, war bitter und einfach ekelhaft.

Was sie da tat, das war auch ihre Art, wenn sie geschrien und gebrüllt hatte, wenn ihre Fetzen flogen. Dann war sie plötzlich wieder nett, von einem Augenblick zum andern fröhlich, munter, nachdem sie mich bedroht hatte. Sie lachte, machte Späße. Sagte: Warum lachst du nicht. Nun lach doch wieder!

Daher kommt also lachen über Schmerzen. Das Lachen als Abwehr. Verrückt sein und verrückt spielen, um Leid zu leugnen.