Texte von Hugo Rupp

Vergeblichkeit

 

Der Sonnenbrand hatte ihm den Rücken aufgefressen. Ich kannte zum Glück ein afrikanisches Hausrezept und bestellte frische Tomaten, mit denen ich ihm den Rücken einrieb. Fritz Bauer erzählte, daß es das dritte Mal in seinem Leben sei, daß er von einem Menschen berührt werde. Die erste Berührung sei ein Kuß seiner Kinderfrau gewesen, die, als er fünf Jahre alt war, entlassen wurde, weil sie ihn zu sehr liebte. Die zweite Berührung war ein Druck auf die Schulter in der Zelle des Kopenhagener Stadtgefängnisses, in die ein Hüne getreten war, ein Wachmann, der ihm die Flucht vor den Deutschen nach Schweden ermöglichen sollte. Die dritte Berührung war die meine. Ich habe oft darüber nachgedacht, wie ein Mensch sich auch nur zu ernähren vermag, dessen Erinnerung aus nicht mehr als drei Berührungen besteht. Es muß, dachte ich, immer eine Berührung zuwenig gewesen sein, die die Katastrophe begründet. …

Aus: Thomas Harlan, Hitler war meine Mitgift; Ein Gespräch mit Jean Pierre Stephan

Ich wachte auf und fror. Ich lag da neben ihm, gerade neben ihm. Er hatte mir erlaubt so spät noch ausnahmsweise fernzusehen, weil Muhammad Ali im Fernsehen boxen würde, zu einer Zeit, wo sonst nur Rauschen, wildes Schneegestöber über den Bildschirm ging. Er hatte mich geweckt. Ich war nach einer Runde schon wieder eingeschlafen. Ich lag neben ihm und mir war kalt.

Die Phantasie, die ich als Kind hatte, ich würde durch den Türschlitz schauen und meinen Vater dort beobachten, wie er alleine fernsehen würde. Dann würde ich einschlafen. Er würde das bemerken und mich dann in mein Bett zurücktragen.

In Wirklichkeit hat er mich am Ende des Boxkampfes geweckt, mit seinem Finger angestoßen und mir gesagt, ich solle mich gefälligst wieder in mein Bett legen, der Kampf sei schließlich auch vorbei.

In Träumen war ich immer klein vor ihm. Ich fror und machte mich noch kleiner. Ich bückte mich. Ich zitterte, ich zog die Beine unentschieden hin und her. Ich tat etwas für ihn. Versuchte doch zu starten. Ich gab mir immer Mühe.

Ich fror in seiner Gegenwart und wusste nicht warum. Er zeigte mir, wie man die Hände reibt, damit die Hände nicht erfrieren. Die Hände halten zum Gebet. Sich seine Hände selber wärmen.

Die Hände meines Vaters. Die Finger waren zierlich.

Ich zuckte später bei Berührung. Ich schreckte weg. Ich wich der Nähe aus. Ich setzte mich dann immer so, dass mich niemand berühren würde können. Wenn doch, dann ging ich weg. Ich wurde augenblicklich wütend. Ich wusste nicht warum ich mich so setzte und benahm, dass mich niemand berühren würde können.

Ich steckte meine Hände in die Hosentasche.

Wie leer ein Körper sein kann. Wie leer an Zärtlichkeit und an Berührungen, wie er als Kind an Liebe, die nicht kommt, die sich nicht rührt, auch leidet. Dass jedes Kind das Finger sieht, mit diesen gleich vom Spielen träumt. Dass jedes Kind vom Spielen träumt, vom sich erfreuen.

Deshalb sind auf so vielen Bildern keine Hände. Mich hat doch niemand angerührt. Natürlich fehlen dir die Hände im Gesicht. Auch das kannst du als Kind nicht fassen. Wenn niemand deine Sicht beschützt. Wenn niemand dein Gesicht vor seinen Schlägen schützt. Natürlich keine Hände. Die Bilder lügen nicht. Die Hände kleiner als der Regen. Das Bild als Vorstellung, das kann doch gar nicht sein, dass wirklich keine Hand für dich gehoben wurde, dass wirklich dein Gesicht vollkommen ungeschützt dem Bild, dem Angriff ohne Blende ausgesetzt war und geliefert. Weil deinen Bildern Zärtlichkeit abgeht.

Die Finger, die mich anfassten, die habe ich gehasst. Die meine Haut berührten, um mir zu zeigen, dass ich schmutzig bin, wie sie mir das Gesicht abwusch, als wäre ich aus Stein und mein Gesicht eine Fassade. Sie rieb mir meine Wangen wund, um meinen Mund mit Spucke stinkend.

Rühr das nicht an! Tu deine Finger weg. Mach mich nicht damit schmutzig!

Die Finger waren einfach schlecht, egal was ich mit ihnen tat. Ich konnte ihre Liebe nicht erwidern. Die Finger waren ganz allein. Sie kamen ohne mich zurecht. Mit ihren eignen Wünschen. Ich konnte ihre Wünsche nicht erfüllen, sie drehen, wenden, fliegen lassen. Sie waren viel zu klein und schlecht für meine Eltern.

Rühr das nicht an! Tu dir ja nicht weh!

Die Finger waren schlecht. Zu blöd um gut zu sein, um gutes auch zu zeichnen.

Mein Vater konnte das nicht fassen, dass ich den rechten Daumen nicht mehr fand. Den rechten nicht und auch nicht meinen linken. Nichts scheint bei mir am rechten Ort. Ich selbst sei nicht ganz richtig.

Wie soll ein Linker Schreiner werden, sagt er überdrüssig.

Ich habe nicht verstanden.

Was soll ein Kind mit diesen Händen werden. Doch ganz bestimmt kein Handwerker, sagt er noch müder.

Nichts zärtliches kam zu mir. Nichts was mich haben wollte. Nichts wollte er von meinen Fingern halten. Nichts davon war im gut genug.

Dass Fehler Sünden sind, ist das verheerendste was einem Kind passieren kann, wenn es sich selbst als minderwertig sieht, begreift, im Angesicht des Vaters. Nichts von mir konnte seinem Bild standhalten. Nichts sollte seinem Bildnis gleichkommen. Sein Gleichnis war einmalig. Nichts war ihm gut genug und reichte ihm von mir.

Mein Vater mied nicht nur die Unschuld, er kannte überhaupt keine. Es gab für ihn nichts ohne Sünde und Verfehlungen. Deswegen war ihm alles nur verhasst, was nicht auf seine Worte folgte, was nicht in seinem Sinne war. Es gab nichts was mein Vater wirklich mochte. Wie sollte es auch anders sein, wenn nicht einmal mein Finger meinen Vater überzeugen konnte, um ihn damit zu rühren.

Und dann die bösen Hände. Die Schlägerhände, die mir schadeten. Die Hände, die mich töten und ersticken hätten können, zu jeder Zeit, egal wofür.

Da ist ein Bild von meiner Haut, als unberührte Landschaft. Als Kind allein in einer Wüste ohne Erde. Die Sonne schien hier unbarmherzig. Ich konnte mich nicht mal verstecken. Ich konnte nur verbrennen.

Das hast du dir selbst zuzuschreiben, wenn du nicht aus der Sonne gehst, sagt er zu mir.

Es gab bei mir kein kleinstes Sein, das nicht von ihm beschuldigt werden konnte. Es gab kein ohne Sünde sein. Kein ohne Sünde sein können. Der Sonnengott, mein Vater brannte jedem Zweifel an sich ein. Aus seiner Sicht blieb jeder andere sich selbst und ihm vollkommen unverständlich. Mein Vater wusste alles besser. Ich war sein idealer Depp und Tor. Denn meine Sicht, mein Augenlicht, war ganz von seinem Glanz, von seinem Licht geblendet.

Den Vater nicht anhimmeln, war eine Sünde. Ich musste ihn anhimmeln. Solange ich das tat, solange konnte mir vergeben werden. Solange ich zum Himmel aufschaute und meinen Vater dabei sah, solange konnte ich auf Hoffnung und Vergebung warten. Solange ich an der Versündigung festhielt und an den Vater glaubte, solange würde mir vergeben werden können. Doch ohne meinen Vater, sein Ideal, den Sonnengott am Himmel, war diese Möglichkeit dahin. Solange ich an die Versündigung selbst glauben musste, vergab ich mir selbst keinen Kratzer.

Unmöglich ist es für ein solches Kind, sein Wünschen und sein Hoffen zu erklären. Ich redete mit Händen und mit Füßen. Ich zeigte mit den Fingern klar und deutlich. Ich langte mir an meine Nase. Ich kratzte mich und wischte meine Augen. Ich steckte meine Finger in den Mund. Niemand von meinen Eltern merkte, dass ich Berührung nötig hatte, mich nach der Haut der Mutter und des Vaters sehnte und verzehrte. Ich konnte meinen Mund nicht küssen. Ich konnte meine Haut statt meiner Eltern nicht anfassen und liebkosen. Ich hatte keinen Trost in mir, der seinesgleichen suchen und auch finden hätte können. Es war kein Gott in mir, der sich so selbst genügte wie mein Vater. Da war gar keine Herrlichkeit und auch kein Glück am Leben, da war niemand der meinen Schmerz beherzigte, und sich selbst retten und erlösen hätte können. Da war nur ich, ein Kind, das darauf wartete, dass seine Einsamkeit verginge. Der Schmerz in diesem Warten ist enorm. Es liegt alle Vergeblichkeit darin mit der ein Kind die Eltern ändern wollte.

Kein Mensch kann ohne Ideal nur warten. Das Ideal ersetzt den Schmerz, in Wahrheit darauf warten, dass jemand zärtlich dich berührt; ein Kind muss darauf warten, mit jeder Faser seines Körpers. Es muss ein Ideal erschaffen, sonst stirbt es in der Einsamkeit. Nur Trost beseitigt diese Wüste, und damit jedes Ideal, Luftspiegelung des ungerührten Geistes.

Wie soll ein Kind sich ohne Wut begreifen? Wie sollte es denn ohne Durst so wütend sein? Wie soll ein Kind denn ohne Wut solange durstig bleiben können?

Die Wut ist Trost, Verzeihung an und für sich.

Jetzt weiß ich erst, was das für mich bedeutet hat. Was das für jedes Kind bedeutet, das keinen Trost bekommt und keine Liebe, wenn es leidet. Es kann sich von den Schmerzen nicht befreien, es kann nicht ohne Schmerzen wirklich sein, wenn sein Empfinden immer nur beschuldigt wird und nie bestätigt. Wenn sein Empfinden immer nur vergeblich bleibt. Es kann sich selbst die Schmerzen nicht vergeben, dass es sie in sich spürt. Es kann sich selbst nicht mal verstehen, weil es nie ohne eine Drohung und Bedrohung fühlt. Es kann sich nicht einmal verzeihen, wenn ihm vollkommen unschuldig was Böses widerfährt. Es kommt aus Schuld, aus jenem Schmerzbereich nicht mehr heraus, der alles nur verurteilt und nichts wirklich sieht, solange es die Wut nicht spüren darf, die jede Anhäufung von Schmerz begleitet.

Ein Kind, das nicht geliebt wird von den Eltern, das leidet an Vergeblichkeit, die Liebe nicht zu finden. Es kann nicht merken, dass es dafür doch überhaupt nichts kann. Lieblosigkeit vergeblich immer nur vergeben müssen und sich selbst zu beschuldigen.