Texte von Hugo Rupp

Verfolger des Lebendigen

 

Ich wollte, man würde einsehen, dass die Grenzen des Mitleids nicht dort liegen, wo die Welt sie zieht.

Vincent van Gogh, Briefe

Wenn ich lebendig wurde, hat sie mich bestraft. Wenn ich lebendig war, wurde ich bestraft. Wenn ich ihr zu lebendig wurde, hat sie mich bestraft. Übermütig sagte sie dazu. Werde bloss nicht übermütig.

Sei nicht so lebendig, sagte sie.

Ist er wieder so lebendig, sagte Vater.

War er wieder so lebendig, fragte er.

Wenn ich wütend wurde, als ich noch nicht stumm war, war ich zornig ohne Furcht.

Wenn ich so lebendig war, wurde ich bestraft, wurde ich beschuldigt.

Sei nicht so lebendig. Pass gefälligst auf.

Sie verfolgten meine Schritte. Sie verfolgten mich. Sie verfolgten die Lebendigkeit. Sie verfolgten alles ohne Reue. Sie verfolgten reuelos, mich, ein Kind. Sie verfolgten und bekämpften meine Liebe. Sie bekämpften mich. Sie bekämpften meine Liebe. Sie bekämpften meinen Hass. Sie bekriegten alle mir bekannten Äußerungen, die nach Liebe, Wut und Hass aussahen. Schmeckten und auch danach rochen. Meine Angst. Sie verfolgten meine Angst.

Heute hast du sauber Angst. Gell, da hast du sauber Angst, sagt sie.

Gründlich, sauber. Saubere Angst. Sauberkeit und Angst. Meine Mutter liebte sauber sein. Sauber, sauber, sauber sein. Sauberkeit ist nicht ansteckend. Mit der Sauberkeit hat sich noch keiner angesteckt und ist krank geworden, sagt Vater. Von zuviel Sauberkeit ist noch niemand krank geworden.

Wenn ich sie mit meiner Furcht berührte, mit den Tränen in der Hand. Wer wird denn da weinen!? Strafe für die kleinste Regung. Strafe, Schuld, wenn ich mich festhalten wollte. Sagte, dass ich so anhänglich war. Nicht einmal alleine kann man auf die Toilette gehen. So anhänglich! Ich verfolgte sie. Sie verfolgte meine Rührung. Sie verfolgte mich, mit den Strafen in der Hand. Schau was ich für dich hier habe, sagte sie, und die offenen Schalen ihrer beiden Hände hatten nichts. Nichts hab ich für dich. Nichts, nur solange du hier schreist. Leere Hände. Leerer Sinn.

Tropf an ihren Beinen ab.

Schau mich nicht so an! Schau mich bloß nicht wieder an. Sonst bekomme ich noch Angst vor dir, sagt sie und bestraft mich mit dem Blick.

Schau mich nicht so an.

Sie verfolgten meine Äußerungen. Sie bestraften meinen Gehalt. Meine kleinen Schritte immer wieder.

Komm, beeile dich jetzt endlich. Mach doch größere Schritte. Wenn ich lief, war dann alles wieder anders. War dann alles wieder nur verkehrt. War ich dann zu schnell. Hör doch endlich auf zu laufen. Lass dir doch nur einmal Zeit!

Merkst du den Zerfall?

Nichts darf ohne sie lebendig sein. Nichts darf unabhängig leben. Nichts darf für sie unabhängig sein. Alles soll nach ihrem Willen nur geschehen. Nur nach der Bedeutung, die sie selbst vergeben. Nach der Mutter und dem Vater, nach den Worten ihres Geistes, nach den Wünschen meines Vaters.

Die Verfolgung und Ermordung der Lebendigkeit des Kindes, meiner Seele. Die Ermordung meiner Seele und das Umbringen der Freude.

Die Zerstörung der Lebendigkeit ist die Zerstörung einer Freude.

Mein Gott bist du wieder lebhaft! Musst du immer gleich so sein. Immer gleich so lebhaft. Mein Gott ist der Junge lebhaft. Ist das noch normal? Musst du immer gleich so lebhaft sein? Kannst du nicht einfach mal still sitzen bleiben!? Musst du immer gleich aufspringen, wenn du mit dem Essen fertig bist. Musst du immer gleich wegrennen?

Das Laufen angehalten.

Warum läufst du mir schon wieder weg?

Du bleibst auf der Stelle stehen. Hörst du mich! Du bleibst jetzt bei mir. Auf der Stelle hörst du auf. Hör jetzt auf hier rumzuspringen. Sei jetzt endlich still. Lang mich nicht so an. Muss ich das denn immer wieder sagen. Wenn du was gegessen hast, fasst du mich danach nicht an.

Laufen angehalten. Gehen angehalten. Gehen.

Kannst du nicht gerade gehen? Musst du immer Kurven machen, wenn du gehst. Wenn du dich nur sehen könntest, wie du gehst. Geh doch einmal nur gerade! Das ist doch nun wirklich nicht zuviel verlangt. Schau nicht immer in die Luft dabei. Pass doch einmal auf, wo du hintrittst, wenn du gehst. Pass gefälligst auf.

Warum läufst du immer weg?

Wie oft bin ich nicht vom Fleck gekommen, wenn ich träumte? Wie oft konnte ich nicht weg? Wie oft kam ich nicht vom Fleck? Wie oft habe ich die Züge nicht erreicht? Wie oft stand ich auf dem falschen Bahnsteig? Wie oft war ich in der falschen Stadt? Wie oft kam ich nicht vom Fleck. Wie versäumte ich die Flüge, ein ums andre mal?

Weil ich nicht von meinen Eltern wegkam. Weil ich nicht wegkommen konnte.

Meine Eltern waren beide hungrig auf Gefühle. Vater wie ein Bluthund, der sofort Lebendigkeit angriff und wie nichts bekämpfte. Mutter hatte ihre Märchen und in jedem eine Strafe und in jedem die Beschuldigung. Immer wurden Kinder weggeschickt, mussten ganz alleine sein. Beide waren machthungrig, beide waren herrschsüchtig. Beide stürzten sich auf meine Kindlichkeit, beide wünschten mich zum Teufel, beide hassten die Lebendigkeit. Beide hassten, wenn ich ziellos war, absichtslos im Verhalten. Ohne Sinn, Verstand, sagten sie dazu, wenn ich einfach ging. Wenn ich in die Luft schaute. Wie Hanns Guck-in-die-Luft. Sollte mir etwas passieren? Schau gefälligst in den Boden. Achte auf die Straße. Schau gefälligst erst bevor du gehst.

Ihre Machtbesessenheit. Alles war für sie verdammenswert. Alles war für sie verächtlich. Alles Kindliche verdammenswert.

Hungrig nach Bestrafung. Hungrig mich für meine Kinderäußerungen zu bestrafen. Hungrig, heißhungrig. Gierig, süchtig nach Bestrafung. Strafen ohne Ende.

Später hasste ich es, wenn mich jemand anrempelte, wenn mich jemand zufällig ansprach, wenn sich jemand in den Weg stellte, wenn jemand mir nicht auswich.

Was stehst du hier im Weg, sagte Vater immer wieder. Warum stehst du mir im Weg, wenn ich nur da stand. Warum gehst du mir nicht aus dem Weg. Muss man dir tatsächlich alles vormachen? Muss man bei dir immer laut werden? Muss man dir alles zweimal sagen?

Immer Krieg. Immer alles nur verhassen, jede Kleinigkeit, zum Trotz.

Wie viel Worte hassen mich dafür? Wie viel Worte sind in mir, die mich immer nur verhasst haben? Wie oft hasste ich mich dafür, dass ich selbst mit Vaters Stimme sprach und mit Mutters Heiligkeit antwortete. Wie oft hasste ich mich selbst, für den Hass der anderen. Nicht mehr aus dem Hass entkommen. Keine Worte mehr sind übrig.

Worte ohne Hass? Keinerlei Beachtung. Wenn sie mich nicht mehr ertragen konnten, wie sie sagten, wollten sie mich nicht mehr sehen. Nicht mehr sehen, nichts mehr von mir hören. Das war stummer, stiller Hass, der mich in die Einsamkeit begleitete. Hassend war ich überall.

Ganz allein in einem Zimmer und die Welt nur hassend. Jeden auf der Straße hassend, schon beim Anblick, schon vom ersten Augenblick an nur noch hassen. Hassen war die Sucht. Süchtig nach Erlösung, etwas Ruhe, nur nicht immer Hass. Nur nicht immer hassen, nur nicht wieder Hass. Nur ein wenig nicht hassen. Nur ein wenig Ruhe. Pause, Ruhe, Stille, Hass. Immer nur in dieser Reihenfolge. Immer nur der Hass. Jeden Morgen nach dem Aufstehen. Jede Nacht vor einem Traum. Immer nur gehasst werden.

Wie viel Hass verträgt ein Kind?

Irgendwann ist Schluss mit Fühlen. Irgendwann ist nur mehr Hass. Wenn kein Mensch mit Liebe kommt, wird der Hass konstant. Wird die Form gegossen. Wird das Herz verformt. Wird die Liebe bleiern, wird die Liebe stumpf, wird das Kind im Kind vergessen.

Freude wurde immer nur erschreckt. Meine Freude löste sich im Schrecken. Meine Freude wurde so erschreckt. Immer nur erschrocken, immer wieder haben sie mich so erschreckt. Immer wenn ich meine Mutter suchte, wurde ich von ihr erschreckt. Niemals eine Wiedersehensfreude. Immer nur erschreckt. Schrecken ohne Ende, für ein Kind, das sich nicht mal freuen darf, wenn es seine Mutter wieder findet. Wenn ich meine Mutter wiederfand, lachte meine Mutter, oder schloss ganz einfach ihre Augen. Weg war sie, verbrannt, weg war ihre Nähe, weg war sie, verbrannt.

Willst du mir was sagen? Wenn du etwas sagen willst, sag doch einfach, was du willst. Sonst halt deinen Mund.

Sie verfolgten meine Sprache. Sie verfolgten meinen Körper. Ignorierten jedes Wort. Für sie war ich, so als würde ich nicht einmal sprechen können. Für sie war mein Wort, meine Laute, Schreie, meine Muskeln, meine Schlenker, meine Art zu stehen, meine Art war nichts.

Halte dich gerade!

Sprache meines Körpers war für meinen Vater einerlei. Wie ich sprechen konnte, interessierte meinen Vater nicht. Er verfolgte meine Sprache, drehte sich, schaute einfach weg.

Warum tust du uns das an?

Hast du uns denn überhaupt nicht gern?

Dabei war ich fraglos unglücklich.

Warum tust du uns das an? Schlaf doch endlich einmal! Gib doch endlich Ruh!

Sie forderten mich auf, mein Tun zu erklären, meine Körperfunktionen in ihrer Sprache, die ich noch nicht einmal sprechen konnte, zu erklären. Ich lernte ohne Unterlass von ihren Lippen lesen, aus ihren Augen sprechen, von ihrem Kinn zu ahnen, die Zähne und ihr Beißen zu begreifen, den Umstand ihres Hin und Her-Wanderns, den Grund für ihre Augen, die drohten, zu ergründen. Ich fragte mich nach ihren Gründen. Als könnte das für mich von Nutzen sein.

Warum bin ich nur so wütend?

Ich verfolge jetzt die Einsamkeit. Immer weiter mich verfolgen, immer weiter kontrollieren. Machtsüchtig und machthungrig, bin ich wie die Eltern, um den großen Hunger zu begreifen, größte leere Stelle auszufüllen, mit der Unterdrückung eines Kindes.

Wut dagegen ist ein Nein. Wut löst das Kind von seinem Hunger, der sich in Eigensucht verwandeln musste, sonst hätte dieses Kind nicht überlebt, allein mit seinem Hunger. Machtsüchtig und machthungrig ist schließlich jedes Kind, das von seinen Eltern nur verfolgt wurde und Durst nach Liebe leiden musste.

Im Grunde ist jede Ablenkung, Verfolgung von Lebendigkeit in einem Kinde, irrsinnig. Gefühle geben doch nur einen Sinn und nicht die Unterdrückung und Verfolgung und Verhinderung von ihnen. Das tut doch immer wieder weh!

Ein Kind, das Irrsinn lernt und ohne Unterbrechung speichert, verbindet sein Empfinden schließlich mit der Angst und seiner unterdrückten Wut. Ein Kind, das Irrsinn lernt, Verfolgung von Lebendigem, wird auch zu einem Wiedergänger, wie seine Eltern. Es wird dann schließlich ganz von selbst, auch ganz allein, Lebendigkeit auslöschen und unterdrücken; an sich und jedem anderen.

Bis es die Wut ergreift, gegen die Verfolger des Lebendigen, gegen die Totsteller und Totmacher. Gegen die Erziehung zum tot sein. Gegen die Erzieher.