Texte von Hugo Rupp

Verdeckte Wut

 

»Ich werde bald meine Eltern wiedersehen, Mrs. Vincent.«
»Das freut mich.« Mit einem Hauch von Ironie fragte sie: »Meinst du, sie werden mir eine Belohnung geben?«
Verlegen senkte Jim den Kopf. Während seiner Krankheit hatte er törichterweise versucht, Mrs. Vincent mit der Zusicherung einer Belohnung zu bestechen, aber es verblüffte ihn, daß sie ihre eigene Weigerung, auch nur einen Finger für ihn zu krümmen, mit soviel Humor betrachtete. Jim zögerte, bevor er den Raum verließ. Er hatte fast drei Jahre mit Mrs. Vincent zusammengelebt und merkte, daß er sie immer noch mochte. Sie gehörte zu den wenigen Leuten im Lager Lunghua, die die Komik des Ganzen zu schätzen wußten.
In dem Versuch, ihr Paroli zu bieten, sagte er: »Eine Belohnung? Mrs. Vincent, vergessen sie nicht, Sie sind Britin.«

J.G. Ballard Im Reich der Sonne

Unter Menschen bin ich aufgewachsen, die nicht den kleinsten Finger rührten für ein Kind. Ich wollte sein wie sie, genauso kalt und gleichgültig, genau so stumm und lautlos wie ein Vogel, dem man den Schnabel abgebrochen hat; und kaltschnäuzig.

Beim Zahnarzt, wie ich da verzweifelt war, und Jahre vorher schon im Krankenhaus, da war ich zweieinhalb. Sie lachte mit dem Zahnarzt, der mir so weh getan hatte und mit der Krankenschwester, die grob war und gemein zu mir. Sie lachte mit den Monstern.

Schämst du dich nicht! So redet man nicht vor den Eltern.

Wieder am Trainingsplatz. Wie ich vor Vater knie und weine und von ihm wegschaue. Das Starten übe ich. Beim Startschuss aus dem Startblock rennen.

Das eine will ich dir noch sagen!

Im Kampf, der alle Übereinkunft vom Menschen reißt wie die zusammengeflickten Lumpen eines Bettelmannes, steigt das Tier als geheimnisvolles Ungeheuer vom Grunde der Seele auf. Da schießt es hoch aus verzehrender Flamme, als unwiderstehlicher Taumel, der die Massen berauscht, eine Gottheit, über den Heeren thronend. Wo alles Denken und alle Tat sich auf eine Formel zurückführt, müssen auch die Gefühle zurückschmelzen und sich anpassen der fürchterlichen Einfachheit des Zieles, der Vernichtung des Gegners.

Ernst Jünger Der Kampf als inneres Erlebnis

Vater rührt keinen Finger, wenn ein Leid zum Vorschein kommt. Wenn jemand traurig ist, verläßt er gleich den Raum.

Am Sportplatz vor ihm knien. Immer wieder nur verstohlen heulen. Beten und mir nichts anmerken lassen. Üben, dachte ich mir immer wieder. Üben, starten üben. Dabei übte ich gar nicht.

Du musst deiner Mutter wieder gut sein. Hörst du!?

Nicht mal, wenn ich kuschte, nicht einmal am Boden, weinend, gab der Vater Ruhe. Ratschlag, wieder nur ein Ratschlag, gab er mir zur Klärung. Noch am Boden, klein und kleiner, gab er mir den Rest, dass ich ihm zu folgen hätte. Vater rührte keinen Finger. Vaters, NEIN, zu allen meinen Klagen, spüre ich wie einen Stachel. Vater würde mir den Stachel auch entfernen. Mit dem Messer, mit der Schere. Vater würde mir ihn ziehen, wie die Schiefer, die er sich aus seinen Fingern schneidet. Dabei darf ich aber nicht mal zucken. Keine Feder meines Vogelkopfes darf sich rühren. Keine Regung. Nichts darf Vater schrecken. Sonst beschäftigt er sich nicht mit Wunden. Nur wenn nicht geweint wird. Nur wenn meine Augen trocken sind, nichts mehr an mir zittert, will sich Vater darum kümmern.

Wie der Zahnarzt mir den Zahn zog, ohne eine Art Betäubung. Mutter saß daneben, lachte. So erzählte sie es Vater dann am Abend.

Er hatte gelernt, daß es ein und dasselbe war, ob man jemanden hatte, den man umsorgte, oder ob man von jemand anderem umsorgt wurde.

J.G. Ballard Im Reich der Sonne

Meinem Vater zu gefallen, dachte ich nicht länger an die Schmerzen.

Und da Jesus getauft war, stieg er alsbald herauf aus dem Wasser; und siehe, da tat sich der Himmel auf über ihm. Und er sah den Geist Gottes gleich als eine Taube herabfahren und über ihn kommen. Und siehe, eine Stimme vom Himmel herab sprach: Dies ist mein lieber Sohn, an welchem ich Wohlgefallen habe.

Bibel, Matthäus 3, 16-17

Furcht mich ungeliebt zu machen, wenn ich meine Wünsche äußern würde, und Gedanken und Gefühle. Meine Furcht mich ungeliebt zu machen, wenn ich Vater gegenüber etwas äußere. Meine Furcht mich ungeliebt zu machen.

Unter Wasser leben, atmen.

Das Gute kann nicht durch Einsicht allein gewonnen werden, es will durch Schmerz und Irrtum, durch Schuld und Opfer erobert sein.

Ernst Jünger Heliopolis

Mutter spielte tote Frau, Vater kam als Schwarzer Mann nach Haus.

So konnte er die Angst des Kindes manipulieren und sich dabei stark fühlen.

Alice Miller Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst

Deshalb wollte ich von einem Kind, das seine Schmerzen noch wahrnahm, nichts hören und nichts merken.

Du wolltest nicht ins Krankenhaus, jetzt brauchst du auch nicht zur Beerdigung. Geh ruhig in die Schule und lern recht schön, während wir den Sarg mit deiner Großmutter ins Grab senken.

Ich sollte nicht am Friedhof sein. Ich sollte dafür büßen, dass ich nicht zu der Sterbenden ins Krankenhaus gegangen bin.

Ich war gewohnt, dass man mich wegschickte, alleine ließ und vorher schimpfte oder schlug. Wie Vater mich in seiner Not, bei seinem Blinddarmdurchbruch nur verschrien hat. Der tote Junge, den ich mir im Leichenschauhaus angeschaut hatte, der hatte mich verfolgt, in seinen Zügen Folter, Farben, ein Auge zu, das andere weit offen. Wie sein Gesicht mich jagte und verfolgen konnte. Vom Fenster weg, geh weg von mir und scher dich weg. Geh mir gefälligst aus den Augen.

Dass mich wer haben wollte in der Not, das war für mich ganz ausgeschlossen. Mich wollte in der Not nie jemand sehen.

Die Oma hat mich weggeschickt, als ich beinah ertrunken wäre. Sie war nicht nett, als ich so eine Angst hatte. Sie hat mich nicht mal abgetrocknet oder in den Arm genommen. Sie hat mich nur gewarnt, dass sie das Vater sagen muss. Dass ich gesprungen bin, und nur ein Ast von einem Baum am Ufer mich gerettet hat.

Ich geh nicht hin ins Krankenhaus. Ich kann es nicht. Wem hätte ich das sagen können? Die Oma hat mich zugedeckt. Sie hat mir meinen Kopf gekrault. Sie hat mich aus der Badewanne rausgeholt und in ein Tuch gehüllt. Sie hat mich abgetrocknet und in Schutz genommen.
Wem hätte ich das sagen können? Nie wieder will ich so verraten sein. Ich geh nicht hin. Nicht in ein Krankenhaus. Ich will nie wieder dort verlassen werden.

Ich war lammfromm. Ich war sanftmütig wie ein Lamm. Ich war das, und sie rührten keinen Finger. Ich war, was immer sie von mir erwünschten, und dennoch rührten sie kein Bein. Kein Fuß, kein Zeh, zeigte in meine Richtung. Ich konnte gar nichts anderes, als lammfromm, widerstandslos und sanftmütig zu sein. Ich war nichts anderes für meine Oma je gewesen. Ich war nie anders als lammfromm. Deswegen hatte ich so eine Angst. Ich wollte nicht zu meiner Oma gehen, ich konnte da nicht hin, und alle waren gegen mich und alle machten mich gleich schuldig und schickten mich im Grunde weg, dorthin wo nur mehr Pfeffer wächst.

Ich war lammfromm und ohne Widerstand, ich war ergeben wie ein Lamm, ich war sanftmütig ohne Ende, und dennoch liebten sie mich nicht.

Ich erinnere mich an keine Sekunde, wo sie wirklich mich gesehen und gemeint hat. Ihre Kinder waren keine Menschen für sie, ich weiß nicht, was wir waren.

AM: Sie haben recht, Sie meinte nicht Sie. Sie sah in Ihnen niemals die
Person, die Sie waren, wenn sie Sie hätte sehen KÖNNEN; hätte sie Sie nicht umbrigen wollen. Ein Krimineller sieht in seinem Opfer nicht die Person, die er quält oder umbringt. Wenn er dies könnte, würde er seine Taten nicht begehen. Er ist getrieben von seinem unbewussten Hass auf seine Eltern oder andere Primärobjekte und vervolgt die Sündenböcke. Ich las kürzlich über einen Serienkiller, der hunderte von Frauen umgebracht hatte und erst als er den „Mut“ hatte, seine Mutter, deren Blick ihm furchtbar angst machte, im Schlaf umzubringen, mit seiner kriminellen Tätigkeit aufhörte.

Aus Leserbrief an Alice Miller Sie sah NICHT das gequälte Kind Thursday 18 February 2010 © 2015 Alice Miller – all rights reserved.

Dass Vater das nicht böse meint, und Mutter nur zum Spaß. Das brachten sie mir bei. Dass sie das nicht so meinten. Ich sei auch wirklich nie damit gemeint gewesen, so dachte ich dann später weiter.

Wie soll ein Kind auf seine Peiniger je wütend werden, wenn es nicht einmal fühlen und erkennen und sich merken darf: Ich bin das, war das, war damit gemeint. Ich bin der, den sie schlugen und zu Tode ängstigten und quälten.

Am Sportplatz kniete ich vor ihm, ihn um Verzeihung bittend. Ich will nie wieder ängstlich sein. Nie wieder will ich meine Angst ihr zeigen. Wie ängstlich ich doch wirklich war. Wie ängstlich ich durch meine Mutter wurde; zum Muttersohn geworden bin. Als Muttersohn jedoch, war ich in seinen Augen wertlos. Ich will kein Muttersöhnchen sein. Denn einem Muttersöhnchen wird er niemals helfen. Solang in meinen Augen Angst zum Vorschein kommt.

We don’t have to be survivors of trauma to be traumatized. All we have to do is to witness trauma.
Um traumatisiert zu sein, müssen wir nicht erst ein Trauma überleben. Es genügt Zeuge eines Traumas zu sein.

Robin Karr-Morse with Meredith S. Wiley Scared Sick

Einsam ein Kind, das seine Angst nicht zeigen darf.

Die Oma hat zu Mutter gesagt: Sie jagen ihm doch Angst ein, wenn sie ihm so was erzählen. Sie machen ihm doch Angst mit dem Gerede von den Geistern und den Toten!
Es gab niemanden außer ihr, die sagen konnte: Sie tun doch ihrem Jungen weh!

Jesus geht auf dem Wasser

22Gleich darauf drängte Jesus die Jünger, ins Boot zu steigen und ans andere Seeufer vorauszufahren. Er selbst wollte erst noch die Menschenmenge verabschieden. 23Als er damit fertig war, stieg er allein auf einen Berg, um zu beten. Als es dunkel wurde, war er immer noch dort. 24Das Boot mit den Jüngern war inzwischen weit draußen auf dem See. Der Wind trieb ihnen die Wellen entgegen und machte ihnen schwer zu schaffen.
25Im letzten Viertel der Nacht kam Jesus auf dem Wasser zu ihnen. 26Als die Jünger ihn auf dem Wasser gehen sahen, erschraken sie und sagten: »Ein Gespenst!«, und schrien vor Angst.
27Sofort sprach Jesus sie an: »Fasst Mut! Ich bin’s, fürchtet euch nicht!« 28Da sagte Petrus: »Herr, wenn du es bist, dann befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu kommen!«
29»Komm!«, sagte Jesus.
Petrus stieg aus dem Boot, ging über das Wasser und kam zu Jesus. 30Als er dann aber die hohen Wellen sah, bekam er Angst. Er begann zu sinken und schrie: »Hilf mir, Herr!«
31Sofort streckte Jesus seine Hand aus, fasste Petrus und sagte: »Du hast zu wenig Vertrauen! Warum hast du gezweifelt?« 32Dann stiegen beide ins Boot, und der Wind legte sich.
33Die Jünger im Boot warfen sich vor Jesus nieder und riefen: »Du bist wirklich Gottes Sohn!«

Bibel Matthäus 14, 22-33

Wie gehe ich, dass Mutter sich nicht stört. Fällt mir beim aus der Dusche steigen ein. Wie gehe ich, wie trete ich, was muss ich tun, dass meine Mutter mich nicht schlägt und schimpft und wieder schüttelt. Was muss ich tun, dass sie nicht wieder kommt. Wie muss ich auftreten, dass Mutter aufhört, mir so weh zu tun. Was muss ich tun, dass mich die Mutter nicht bestraft.

Wenn ich nur aus der Badewanne stieg, schrie sie: Jetzt pass gefälligst auf, du machst ja alles nass. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich richtig abtrocknen!? Bevor du aus der Wanne steigst! Hab ich das nicht gesagt!?
Die Oma hat das einmal mitgekriegt und hat gesehen, was ich für Augen machte voller Angst.

Es ist doch schließlich ganz alleine deine Schuld, wenn dich die Tante und der Onkel Martin schief anschauen. Du hast den letzten Wunsch deiner Oma nicht erfüllt. Sie ist doch so oft dagewesen und hat an deinem Bett gesessen. Sie ist erst wieder aufgestanden, als du schon eingeschlafen warst. Sie ist auch oft an deinem Bett selbst eingeschlafen. Sie hätte dich nur einmal noch vor ihrem Tod lebendig sehen wollen. Hast Du vergessen, wie sie dir den Kopf gekrault hat. Selbst als ihr schon der Arm so weh getan hat, ist sie noch zu uns gekommen.

Ich habe meine Wut im Grunde nie verraten. Ich habe mir den Zorn auf meine Oma nicht gestattet. Ich habe meine Wut und meinen Zorn verklärt. Mit Liebe, die mir meine Eltern immer wieder vor die Nase hielten. Wir haben alles nur für dich getan. Mit Schuld und mit verkehrter Anteilnahme. Geheuchelt immer wieder Mitgefühl. Das Beste ist, es geht ganz schnell. Ich habe meinen Zorn auf meine Großmutter und meine Eltern als Kind niemals ausgelebt, nie wirklich artikuliert. Ich habe meinen Zorn als Kind auf meine Oma nicht verraten. Genau so habe ich die Liebe dann verklärt. Sie trug mich nicht auf Händen, auch sie hat Wut und Widerrede niemals wirklich haben wollen.

Unglücklich ist der, dessen Erinnerung an die Kindheit nichts als Angst und Traurigkeit birgt.

H.P. Lovecraft

Wenn meine Mutter, sich am Boden kriechend, angeschlichen hatte. Wenn sie, ich schlief noch, dann neben mir, vom Boden unvermutet rauf geschossen kam, schier aus dem Nichts, so wie aus einer andren Welt. Mit ihrem irren Lächeln auftauchte, und ich mich so erschrak, dass ich die Luft anhielt, und husten wollte und nicht konnte.

Jetzt sind wir wieder gut! Das war doch gar nicht bös gemeint. Hörst du!?

Was ich in mir so lange schon verzweifelt suche.

Bild dir nur ja nicht ein, dass dir wer hilft. Du hast nur mich! Und niemand sonst.

Ich habe nicht gewagt, mich mit ihr anzulegen. Ich habe das auch später nicht gekonnt, mit mir nicht und mit keinem anderen. Ich habe das, wie meine Mutter mir das beigebracht hatte, genauso zelebriert, nichts sagen, wenn überhaupt etwas bemerken, dann vorwurfsvoll. Mitleiderregend, wie angefressen wirken. Beleidigt sein und nicht ein Widerwort vergeben können.

Die Oma weinte vor uns noch, am nächsten Tag ging sie ins Krankenhaus und kam nie wieder heim. Mein Vater ging nach Omas erster Träne weg, und Oma hörte auf zu weinen. Die Mutter schaute zu, als würde sie das gar nichts angehen. Ich stand nur da, im Eis, und niemand hat ein Beil geschwungen.

Jetzt spüre ich ihr Lächeln und ihr gewinnen müssen wieder. Besiegen der Gefühle.

Warum wollen Sie, dass Ihnen Grausamkeiten nicht wehtun und Sie kalt lassen sollen?

Alice Miller

Ich kanns nicht fassen und nicht loslassen. Ich halte an Verwundung fest. Die Narben schau ich immer wieder an. Beweise nur für mich. Dass ich nie wieder ohne eine Ahnung bin. Ich halte an Symptomen fest, an meinen Geistern aus der Kindheit. Sie sind mein Trost. Ich halte fest, was mich gepeinigt und gepiesackt hat. Ich halte meine Eltern fest. Ich halte an Beweisen fest, auch nach Jahrzehnten noch, um nicht die Wut zu wecken, die mich als Kind verraten hat, an meine Mutter und den Vater. Ich halte an Symptomen fest.

Ich halte an Symptomen fest, als wären meine Eltern noch lebendig. Ich halte an Beweisen und Symptomen fest, wie an Reliquien. Als könnten mir Beweise nicht weh tun. Ich halte an den Toten und den toten Dingen fest. In Not nicht angefasst und nicht berührt zu werden. Nie mehr berührt und angefasst zu werden. von Wut und Zorn und Angst und Schmerz.

Ich halte an Reliquien fest, an den Symptomen in den goldnen Schreinen.

War alles schlecht?

Ihr wart das doch, ihr habt doch alles schlecht gemacht. Ihr habt doch alles an mir schlecht gemacht.

Das war nicht so gemeint!

Ihr lügt die Lügen eurer Väter, Mütter. Ihr lügt und merkt das nicht einmal.

So geht ein Kind im Grunde unter.

Im Reich der Klopfgeister. Im Reich der Stille und der Einsamkeit. Im Reich der absoluten Leere, in dem ein Klopfen schon ausreicht, um Todesangst zu wecken. Im Reich der ersten und der größten Not.

Ich konnte meine Einsamkeit gut hören. Ich konnte das, was scheinbar niemand sonst zu Kenntnis nahm, mich fürchten und selbst die Angst davor verspüren. Deswegen dachte ich, ich sei selbst schuld. Und später dachte ich: Ich sehe die Gespenster.

Jetzt sei gefälligst still und schlaf. Da ist doch nichts. Ja siehst du schon Gespenster?

Solang ich denken kann mit meinen Ohren, war meiner Mutter und dem Vater nichts so sehr verhasst, als wenn ich mit den Augen und dem Mund was von mir gab und mich nach einer Antwort und nach Nähe sehnte. Nach einem Laut, nach einem kleinsten Hinweis auf Verständnis aus. Dafür hielt ich die Ohren hin. Und nichts, nicht mal in tiefer Nacht ein Laut, war mir so zugetan, dass er mich trösten hätte können.

Ein Kind wie ich, war nicht aus Angst allein. Ich war allein mit mir und jeder Angst. Ich blieb allein mit meiner Angst. Ich wachte damit auf und blieb den ganzen Tag damit allein. Ich hatte Angst vor Strafen, und wieder vor der Nacht. Ich war allein im Schlaf, allein mit meinen Träumen. Wenn ich aufschreckte, sagte sie: Da war gar nichts. Das hat du nur geträumt. Schlaf weiter still jetzt! Gute Nacht. Ich war allein mit meiner Angst

Ich habe nie gewusst, dass mich die Klopfgeister und die Gespenster gar nicht meinten. Sie wollten mich nicht holen und nicht mitnehmen. Sie suchten, wie ich selbst, nach meinen unbewussten Qualen.

Dem Brenner ist es so vorgekommen, als ob die Wut vom Andi herumwandert, so wie wenn du heute Zahnweh hast und morgen Halsweh, und übermorgen ist es eine Mittelohrentzündung.

Wolf Haas Auferstehung der Toten

Selbst angelockt von Schmerz und Leid und höchster Not. Selbst Not und Schmerz dann später immer wieder nachspielend, vorgeblich leidend, Hilfe suchend und vorspiegelnd, jetzt sind wir wieder gut, jetzt wird doch alles wieder gut, es war doch niemals bös gemeint, da war doch nichts, jetzt sind wir wieder gut. Und Wut vermeiden wie ein körpereigenes Gift, das wie die Mutter nur zum Bösen treibt.

Wenn Mutter weinte, dann war alles krank. Der Tod lockt mich jetzt wieder an. Der Tod will mich jetzt wieder anlocken, erschrecken und bestrafen. Weil ich auf einen Tod nichts sagen kann. Gar nichts dagegen tun, nicht schreien und nicht weinen, und mich nicht fürchten soll. Ich soll mich doch nicht fürchten. Auch wenn der Tod mich selbst mitnimmt, darf ich darauf nichts sagen und erwidern. Ich kann nichts tun, das lernte ich. Dass ich nicht reagieren kann, wenn ich durch Elend, Unglück, aus Liebe und Zuneigung, schaue. Erschrocken, stumm, so muss ich bleiben, immer wieder bleiben. Dem Tod selbst soll ich ehrfürchtig begegnen. Das hat mir Mutter beigebracht. Mit ihrer Grausamkeit, die ich als solche nicht verstand.

Als Lockmittel, sie selbst und ihre Not. Wenn Mutter weint, dann gehen alle Lichter aus und alles wird mit einem Mal ganz still. Nur ihre Tränen geben sich noch Mühe, sonst steht die Erde still. Wenn Mutter weint, dann bin ich ohne Welt und Anteilnahme. Sie weint und danach ist sie still.

Jetzt kommen ihre Todesspiele wieder.

Sie spielt mit Leid und Tod und meiner Zuneigung und Sehnsucht. Sie spielt mit Liebe und dem Trost, und das sind ihre Lockmittel. Sie spielt mit meiner Freude, meinem Leid. Verräterherz, jetzt endlich fühl, versteh ich dich. Was in mir später ganz genauso schlug. Mit ausbeuten, verfügen, Manipulierung von Gefühlen.

Die höchste Not des Kindes wird mit Grausamkeit bestraft. Die Empathie und Liebe ausgenutzt und ausgeraubt. Als Köder, Tod und Unglück, und Versehrtheit und Verwundung. Bedürftigkeit. Sie lockte mich, sich tot stellend, so immer wieder an, und als ich kam und helfen wollte und schon weinte, machte sie ihre Augen auf, stand auf und lachte, so als wäre nichts gewesen.

Zum Lockvogel wird so ein Kind wie ich gemacht. Agent Provocateur. Verräterherz. Zum Sündenbock gemacht, sich Sündenböcke später suchend. Zum immer gleichen anstiften, zur blinden Wut, zum Bruch, zur Aufhebung von Freundlichkeit und Freundschaft, Liebe, Partnerschaft. Verdeckte Wut und blinder Hass, schafft das: Nähe und Zuneigung zerstören müssen. Zur Aufgabe der Freude und der Leidenschaft, zur Aufgabe von Empathie anstiftend.

Das unterdrückte Aufbrausen.

In mir lag ein Versprechen offen: Sie muss mir einmal in der Not doch helfen, bei mir sein und zu mir stehen! Doch das ist nie passiert. Seit meinem ersten Atemzug hab ich vergeblich nur darauf gewartet. Indem sie mich von Anfang an alleine ließ, versuchte ich es mit dem Glauben. Sie kommt, sie wird mich retten und mich trösten. Auch das ist nie passiert. Deswegen habe ich von Zahnweh gestern Nacht geträumt. In Wirklichkeit hat sie mir immer nur Geschichten voller Not und Liebesleid erzählt. Wie Opern oder Operetten oder Musicals. Wie eine Welt aus Deutschen Schlagern. Dabei war nie was anderes dahinter, tatsächlich keine Liebe. Die Sprache war ihr Lockmittel. Und ich ihr Käfigvogel. Ich fraß ihr aus der Hand. Vom einsam sein und von der Sehnsucht mich ernährend.
Nur ja jetzt keine Wut, sonst wird die Mutter wieder traurig. Dann zieht sie ihre Hand zurück, und ich bin ohne sie, allein und habe nichts zu fressen. Nur keinen Zorn, sonst schließt sie meine Käfigtür und ich kann nicht mal mehr in meinem Zimmer aus.

So konnte meine Mutter vor mir sicher sein. Denn nur in einer sicheren Umgebung kann ein Kind seine Wut, als gut empfinden lernen.

Der Tod, den ich am Friedhof dann im Leichenschauhaus im Gesicht des Jungen sah. Im Sarg, im Raum, dann beim davon laufen im Nacken, hinter mir. Die Angst, die mir doch unaufhörlich hinterherrannte. Im Haus. Im Gang. Im Traum. Die Angst vor meiner Mutter, wenn ich wütend werde, sie kommt nicht mehr. Endlich. Die Angst vor ihr, sie kommt nicht mehr. Ich wache nicht mehr auf in tiefer Nacht und frage mich, wo meine Arme sind. Ich wache nicht mehr auf aus Angst. Die Angst vor meiner Mutter ist jetzt aus; die gute Wut hat meine Angst vor ihr vertrieben.