Texte von Hugo Rupp

Unsichtbare Wahrheit

Im Traum sag ich zu einem kleinen, verdreckten und zerlumpten Jungen, der mir die Geldbörse gestohlen hat und sie mir vor die Füße wirft und mich als Hund beschimpft: Ich bin kein Hund! Bestimmt sag ich: Ich bin kein Hund, und halte meine Geldbörse. Und bücke mich zu dem zerlumpten Kind. Wir sind in einem Kriegsgebiet, in einer Stadt und auf dem Marktplatz. Schwarz-Weiß. Nur Waffen werden hergestellt und Drogen. Ich bin kein Hund, sag ich. Und du bist auch keiner!

Woher kam dieses seltsame Bedürfnis, alles, was mich mit anderen verband, auszulöschen? War auch das etwas, was ich geerbt hatte? Indem ich keinem Menschen ähneln wollte, imitierte ich auch darin jemanden?

Julien Green Der andere Schlaf

Züge, die ich verpasste. Mein Rad, das ich nicht fand. Ich konnte in den Träumen niemals pünktlich sein. Ich konnte nicht darüber reden. Ich hatte immer Angst, dass sich etwas in mir, nicht länger halten lassen würde. Dass etwas Böses und Schlechtes aus mir drängt.

Als ich ihm auf der Treppe begegnet bin, war Salamano dabei, seinen Hund zu beschimpfen. Er sagte: „Du Biest! Du Aas!“, und der Hund winselte. Ich habe, „Guten Abend“, gesagt, aber der Alte schimpfte weiter. Da habe ich ihn gefragt, was der Hund ihm denn getan hätte. Er hat nicht geantwortet. Er sagte nur: „Du Biest! Du Aas!“ Ich ahnte, daß er, über seinen Hund gebeugt, dabei war, etwas am Halsband zu richten. Ich habe lauter gesprochen. Da hat er mir, ohne sich umzudrehen, wie in einer Art unterdrückter Wut geantwortet: „Er ist immer da.“ Dann ist er losgegangen und zerrte das Tier, das sich auf seinen vier Pfoten ziehen ließ und winselte, hinter sich her.

Albert Camus Der Fremde

Vater ging mit mir gemeinsam nur am Sonntag aus dem Haus.

Und Mutter sagt: Jetzt hast du es verdorben. Jetzt hast du es genau beinand. Jetzt hast du ihn verärgert. Du weißt doch, dass er das nicht mag, wenn du ihm nicht gehorchst.

Ich dachte später wirklich, ich würde jede Art Beziehung und Verbindung nur verachten und zerstören können.

Was weinst du denn?! Reiß dich gefälligst jetzt zusammen!

Liebster Vater,

Du hast mich letzthin einmal gefragt, warum ich behaupte, ich hätte Furcht vor Dir. Ich wußte Dir, wie gewöhnlich, nichts zu antworten, zum Teil eben aus der Furcht, die ich vor Dir habe, zum Teil deshalb, weil zur Begründung dieser Furcht zu viele Einzelheiten gehören, als daß ich sie im Reden halbwegs zusammenhalten könnte. Und wenn ich hier versuche, Dir schriftlich zu antworten, so wird es doch nur sehr unvollständig sein, weil auch im Schreiben die Furcht und ihre Folgen mich Dir gegenüber behindern und weil die Größe des Stoffs über mein Gedächtnis und meinen Verstand weit hinausgeht.

Franz Kafka Brief an den Vater

Jetzt gib ihm schön die Hand, sagt Mutter.

Dann lacht mein Vater wieder und hat Spaß.

Was hast du denn!? Er tut doch nichts.

Da hörte der Reisende einen Wutschrei des Offiziers. Er hatte gerade, nicht ohne Mühe, dem Verurteilten den Filzstumpf in den Mund geschoben, als der Verurteilte in einem unwiderstehlichen Brechreiz die Augen schloss und sich erbrach. Eilig riss ihn der Offizier vom Stumpf in die Höhe und wollte den Kopf zur Grube hindrehen; aber es war zu spät, der Unrat floss schon an der Maschine hinab. „Alles Schuld des Kommandanten!“ schrie der Offizier und rüttelte besinnungslos vorn an den Messingstangen, „die Maschine wird mir verunreinigt wie ein Stall.“ Er zeigte mit zitternden Händen dem Reisenden, was geschehen war. „Habe ich nicht stundenlang dem Kommandanten begreiflich zu machen gesucht, dass einen Tag vor der Exekution kein Essen mehr verabfolgt werden soll. Aber die neue milde Richtung ist anderer Meinung. Die Damen des Kommandanten stopfen dem Mann, ehe er abgeführt wird, den Hals mit Zuckersachen voll. Sein ganzes Leben hat er sich von stinkenden Fischen genährt und muss jetzt Zuckersachen essen! Aber es wäre ja möglich, ich würde nichts einwenden, aber warum schafft man nicht einen neuen Filz an, wie ich ihn seit einem Vierteljahr erbitte. Wie kann man ohne Ekel diesen Filz in den Mund nehmen, an dem mehr als hundert Männer im Sterben gesaugt und gebissen haben?“

Franz Kafka In der Strafkolonie

Wie meine Mutter mich hinstellte, als wäre ich Verbrecher, Ungeheuer, und trotzdem nur ein Clown. Und später dachte ich, es hätte etwas Komisches an sich, wenn man sich selbst verletzte.

Der Offizier aber hatte sich der Maschine zugewendet. Wenn es schon früher deutlich gewesen war, dass er die Maschine gut verstand, so konnte es jetzt einen fast bestürzt machen, wie er mit ihr umging und wie sie gehorchte. Er hatte die Hand der Egge nur genähert, und sie hob und senkte sich mehrmals, bis sie die richtige Lage erreicht hatte um ihn zu empfangen; er fasste das Bett nur am Rande, und es fing schon zu zittern an; der Filzstumpf kam seinem Mund entgegen, man sah, wie der Offizier ihn eigentlich nicht haben wollte, aber das Zögern dauerte nur einen Augenblick, gleich fügte er sich und nahm ihn auf. Alles war bereit, nur die Riemen hingen noch an den Seiten hinunter, aber sie waren offenbar unnötig, der Offizier musste nicht angeschnallt sein. Da bemerkte der Verurteilte die losen Riemen, seiner Meinung nach war die Exekution nicht vollkommen, wenn die Riemen nicht festgeschnallt waren, er winkte eifrig dem Soldaten, und sie liefen hin, den Offizier anzuschnallen. Dieser hatte schon den einen Fuss ausgestreckt, um in die Kurbel zu stossen, die den Zeichner in Gang bringen sollte; da sah er, dass die zwei gekommen waren; er zog daher den Fuss zurück und liess sich anschnallen. Nun konnte er allerdings die Kurbel nicht mehr erreichen; weder der Soldat noch der Verurteilte würden sie auffinden, und der Reisende war entschlossen, sich nicht zu rühren. Es war nicht nötig; kaum waren die Riemen angebracht, fing auch schon die Maschine zu arbeiten an; das Bett zitterte, die Nadeln tanzten auf der Haut, die Egge schwebte auf und ab. Der Reisende hatte schon eine Weile hingestarrt, ehe er sich erinnerte, dass ein Rad im Zeichner hätte kreischen sollen; aber alles war still, nicht das geringste Surren war zu hören.

Franz Kafka In der Strafkolonie

Ich wusste nicht, woher das kam, dass ich mir selbst leidtun und andern dafür wehtun wollte.

Dein Vater ist gerecht!

Es war mein Schreien, immer nur allein, was mich so schmerzte und verletzte, dass ich die Wut und meine Tränen schließlich mied, weil ich sie nicht verstand.

Schau dich doch einmal an, wie du nur wieder aussiehst!?

Und Vater lächelte. Dann schlug er mir, noch immer lächelnd, ins Gesicht.

Du machst nur immer wieder böses Blut! Willst du es dir denn unbedingt mit ihm verscherzen!?

Da vorn spielt die Musik.

Du wirst dein blaues Wunder noch erleben.

Geduldig und verständnisvoll nahm ich schließlich die Strafen an, die sie mir fortwährend verabreichten; als würde ich nach dieser Nahrung fragen. Als würde jedes Kind nach der Verabreichung von Strafen fragen, und schließlich heißhungrig, sich danach sehnen und verzehren.

Du bettelst förmlich danach, dass ich dir eine runterhaue!

Verängstigt, glaubte ich, dass meine Wut vergeblich sei, nur sinnlos wäre.

Jetzt kannst du schreien, wie du willst!

Was regst du dich so künstlich auf!?

Bist du jetzt endlich fertig!?

Du wirst noch an uns denken!

Wenn man nicht früh genug weggeht, sagte Karrer, ist es auf einmal zu spät und man kann nicht mehr weggehn. Auf einmal ist klar, man kann tun, was man will, man kann nicht mehr weggehn. Dieses Problem, nicht mehr weggehn zu können, nichts mehr verändern zu können, beschäftigt einen dann das ganze Leben, soll Karrer gesagt haben, und mit nichts anderem beschäftigt man sich dann. Dann wird man immer hilfloser und immer schwächer und sagt sich nurmehr immer, man hätte früh genug weggehn sollen, und fragt sich, warum man nicht früh genug weggegangen ist. Wenn wir uns aber fragen, warum wir nicht weggegangen sind und zwar früh genug weggegangen sind, was heißt, weggegangen sind in dem Augenblick, in welchem es die höchste Zeit gewesen ist, wegzugehn, verstehen wir nichts mehr, so Karrer zu Oehler.

Thomas Bernhard Gehen

Du steigerst dich in was hinein, sagt Mutter. Was dir nicht gut tun wird!

Das steht auf meiner Stirn.

Du bist kein kleiner Junge mehr! Du bist doch schon ganz groß!

Die sprachlose Verwirrung und Verzweiflung.

Ich bilde mir das doch nicht ein!?

Mein Traum vom Kinderkrankenhaus. Ich ganz allein auf leeren Gängen und dann sehe ich ein Grauen in einem abgelassenen Schwimmbad, wie ein Kind unter dicken Federbetten liegt und sich nicht rührt, obwohl es voller Kot ist und verdreckt. Und ein Kind ohne Nase, ohne Mund und atemlos, mit einer Maske, und roten, blutenden Augen, und neben ihm ein Mädchen, vielleicht zehn, mit leerem Blick, toten Augen, das etwas zieht, sieht aus wie ein alter Leiterwagen. Und auf dem Gang geht eine Tür auf, dort lauert auf mich Lachen, und eine Schwester, ganz in Weiß, strahlendes Weiß und ohne einen Makel, schaut mich von oben an und sagt, das kann doch wohl nicht wahr sein, jetzt hat sich dieses Drecksschwein schon wieder nass gemacht.

Da wird sich deine Mutter aber freuen!

Noch heute spür ich meinen Kniefall, mit Vater an der Hand, Sonntags vor über 60 Jahren, in meinem rechten Knie. Ich konnte mich von ihren Strafen nicht erholen und befreien. Auf meine Knie bin ich dafür gegangen. Deswegen fing ich immer wieder an zu weinen. Vor der Bestrafung fiel ich auf die Knie. Deswegen fiel ich immer wieder auf die Knie.

Und wenn du jetzt nicht ruhig bist, dann gibt es wieder etwas auf den Hintern.

Ich litt, weil meine Eltern grausam waren. Doch hassen konnte ich sie nicht.

Wenn du nicht ruhig bist, dann gibt es wieder Popobritsch, sagt er und meine Mutter lacht.

Und wie es mich zusammenzog, wenn ich nur daran dachte. Die Wut in meinen Beinen, die Krämpfe in der Nacht, wie meine Schmerzen ausstrahlten, und wenn ich strampelte, dann schlugen sie mich wieder auf meinen Hintern, rechts. Wenn ich auf meinem Bauch lag, später, dann krampfte sich mein rechter Fuß, ein anderes mal mein rechter Oberschenkel. Wenn ich auf meinem Bauch lag, dann mochte ich die Füße nicht anheben. Ich mochte die Bewegung nicht, wenn ich auf meinem Bauch lag. Ich mochte weder meine Füße, noch meinen Kopf heben. Mein Rücken sperrte mich von jeder weiteren Bewegung aus.

Jetzt lächle endlich wieder. So schlimm ist das auch nicht!

Sonst gibt es Popobritsch!

Jetzt wird’s gleich richtig scheppern.

Halt deinen Mund! Sei still! Zu niemandem ein Sterbenswörtchen! Du bist schließlich kein Kind mehr!

Wenn ich mir einrede, ich sei kein Kind mehr, verkrampft sich meine Seele.

Vor was hat dieses Kind nur eine solche Angst?!

Im Traum lieg ich mit ihr im Bett, daneben liegt mein toter Vater. Ich bin schon ausgewachsen. Ich liege in der Mitte und unter Decken, verdreht. Ich muss nur einen Millimeter von ihr weg sein, nur einen Millimeter von ihr abrücken, schon werde ich bestraft, beschuldigt, angekeift, was ist denn jetzt schon wieder los. Und plötzlich rutsch ich aus dem Bett. Ich stemme mich mit eigner Kraft tatsächlich aus dem Bett und laufe weg. Ich schreie und ich schüttle mich.

Es war gar nicht mein Schmerz, es war gar nicht die Wut, es waren nicht die Tränen, oder Verzweiflung, oder die Freude, oder ein anderes Gefühl, es war nicht Angst, was ich am meisten fürchtete, vor der ich als Kind Angst hatte, es war damit allein zu sein, nur immer wieder ganz allein zu sein.

Wovor hat dieses Kind nur eine solche Angst?!

Ich merkte gar nicht, dass sie mich bestrafte. Endlich begreife ich, woher mein Hunger nach Bestrafung kam, woher die Angst in mir tatsächlich kommt, bestraft zu werden, immer dann, wenn ich mich äußere.

Wenn ich mich nur bewege, dann wird die Mutter wach und trampelt an und zwickt mich in die Wade oder in meine Hüfte.

Du lässt uns keine andere Wahl!

Niemals kann man ein Kind verlassen, ohne sich selbst ins Verderben zu stürzen, niemals, das ist eine Regel, gegen die man selbst nichts ausrichten kann.

Peter Hoeg. Der Plan von der Abschaffung des Dunkels

Die Banane, die sie mir in den Mund gestopft hatte, damit ich nicht mehr schreien kann. Das Trampeln. Meine Mutter kommt die Treppe runter, schreit und stopft mir die Banane in den Rachen. Ich liege da, am Vorsprung bei der Tür. Die ganze Treppe bin ich runter, und meine Mutter schreit mich an und schimpft mich und schiebt mir eine Banane in den Mund.

Was redest du denn da!?

Dabei schrie ich in mir. Nicht schuldig und nicht gleichgültig.

Und sie schrie lauthals: Schuldig!

Jetzt weiß ich auch, nach was ich Ausschau hielt, wenn ich am Fenster stand, nach links, nach rechts, geradeaus zur Straße schauend, auf was ich wartete, dass Mutter nicht mehr kommt. Dann lief ich wieder Treppen rauf und runter und dachte mit Bestürzung über mein Verhalten. Ich dachte, meine Mutter wäre leer, ich müsste sie auffüllen, mit einem Lachen, albern sein und Späße machen. Ich dachte immerzu, es muss doch etwas geben, was meine Mutter ändern kann, was ihr gefällt, damit sie mich nicht länger quält. Es muss doch etwas geben. Ich muss nur etwas lachen, ihr Recht geben, sie unterhalten und dann auch einmal nichts mehr sagen. Ich habe schließlich alles ausprobiert. Nichts hat geholfen. Deswegen dachte ich, sie wäre leer. Doch meine Mutter war nicht leer. Sie hatte kein Gefühl und kein Gespür, nicht weil sie dumm und grausam zu mir war. Sie machte mich nicht feige, indem sie mich dressierte und bestrafte. Sie machte mich gleichgültig gegenüber den Empfindungen, weil sie gleichgültig war. Das konnte ich als Kind nicht merken und verstehen. Weil es für mich so ein Gefühl nicht gab. Ich konnte als Kind nicht gleichgültig sein. Ich musste weinen, wütend werden.

Ich lieg in einem kleinen, schönen, hellen Zimmer. Mein Bett steht vor dem Fenster und geht von Wand zu Wand. Es gibt auch einen weißen, das Sonnenlicht durchlassenden Vorhang. Ich liege ausgestreckt und angezogen in einem Bett von Wand zu Wand. Und plötzlich kommt die Mutter, lautlos und ohne anzuklopfen. In einem Nachtgewand. Der Geist meiner verstorbenen Mutter. Der weht mich an. Und ich beginn zu schreien. Ich schrei so laut ich kann. Ich schrei den Geist der Mutter an. Ich schrei den Geist der Mutter in mir an. Und sie verschwindet augenblicklich.

Ich zieh dir deinen Stecker raus, fällt mir beim Augen öffnen ein. Ich zieh dir deinen Stecker, wenn du nicht gleich abhaust!

Die Angst allein mit ihr. Die Angst allein mit ihr als Kind zu sein. Allein mit ihr zu sein, mit meiner Angst vor ihr. Allein mit dem Gefühl zu sein. Allein mit meiner Angst vor ihr und ihrer Wut und ihrem Wahnsinn. Weil ich allein war mit der Angst vor ihr. Weil scheinbar niemand etwas davon wusste oder wissen konnte oder was davon wissen wollte. Allein als Kind mit seiner Angst vor einer Verrückten. Verrückt vor Angst. Allein mit Angst.

Ich muss so schnell als möglich auf den Friedhof, sagte ich mir, ich weiß nicht, aus was für einem Grund aufeinmal mit einer entsetzlichen Entschiedenheit. Ich bestellte noch vor sieben Uhr ein Taxi und fuhr zum Friedhof. Dort hatte ich keinerlei Schwierigkeiten, die letzte Ruhestätte des jungen Härdtl zu finden. In wenigen Minuten war ich dort. Aber zu meiner Verblüffung standen jetzt auf der betreffenden, in den Beton eingelassenen Marmortafel nicht mehr, wie vor eineinhalb Jahren noch, die Namen Isabella Fernandez und Hanspeter Härdtl, sondern, beide schon eingemeißelt in den Marmor, Anna und Hanspeter Härdtl. Ich drehte mich augenblicklich um und ging rasch zu dem neben dem Leichenkühlhaus Dienst versehenden Friedhofspförtner. Nachdem ich diesem meine Frage ganz deutlich und wie ich sehen konnte, selbst auf spanisch sehr gut verständlich machen hatte können, sagte der Portier nur mehrere Male das Wort suicidio. Ich lief zum Irrenhaus hinüber, um mir ein Taxi kommen zu lassen, was vom Friedhof aus nicht möglich gewesen war und fuhr sofort ins Hotel zurück. Ich zog die Vorhänge meines Zimmers zu, schreibt Rudolf, nahm mehrere Schlaftabletten ein und erwachte erst sechsundzwanzig Stunden später in höchster Angst.

Thomas Bernhard Beton

Wenn ich die Augen schließe oder wieder öffne. Allein mit meiner Angst. Dass es das gibt. Dass es das wirklich gibt, auch wenn das niemand weiß, dass es das dennoch gibt, weil ich das endlich weiß.

Gleichgültig alles an mir hassend, was ich lebendig rief und schrie.

Mein Traum vom See. Mutter geht in einem Meer aus Flammen unter, während ich sie vom Ufer aus betrachte, ohne Rührung.

Ich habe keine Angst um sie.

Ich habe Angst vor ihr.

Ich habe Angst um mich.

Des Herzens stummes Ticken, das vor der Uhr versagt,

sein Schlag allgegenwärtig und langsamer noch:

jedoch noch nicht das Ticken, das Ticken des wirklichen Todes,

nur das Ticken der Zeit – noch immer nur das Geläut des Herzens

wenn der Körper Alarm schlägt und ins Entsetzen schwirrt.

Aus: Malcolm Lowry Fünfunddreißig Mescals in Cuautla

Wie sie mich angezogen hat, wie sie an Ostern alles schmückt. Nur nichts davon berühren sollte ich, nur ja nichts anfassen. Damit nichts schmutzig wird, damit ich nichts berühren kann. Damit ich mich nicht rühre. Schön feierlich, penibel sauber und steril. Ihr Schmuck und ihr Gehabe, wenn sie sich präsentiert, nach außen hin, in feinem Tuch. Verlogenheit. Denn nichts von ihrer Bosheit und Gemeinheit und Gleichgültigkeit und Eiseskälte wurde sichtbar. Ich hasste Feierliches später. Das Inszenierte und Maskierte, die Theatralik der Verachtung.

Ich musste ihr gefallen. Sonst hätte ich nicht überlebt.

Schau mich gefälligst an!

Ich musste ihr gefallen. Das steht auf meiner Stirn. Egal wie es mir geht. Ich muss einfach gefallen.

Hab ich mich selbst verachtet später, wenn ich jemanden mochte?

Verachte ich, wenn ich jemanden mag?

Ihr Lächeln um den Mund und ihre Lippen. Die Falte in der Stirn und ihre spitzen und lackierten Fingernägel, die andauernd was glatt oder herausstrichen. Dabei war da kein Dreck, kein Staub, kein Spritzer im Gesicht.

Warum schreist du denn so?! Ich tu doch nichts! Da ist doch nichts.

Sie hat verachtet, was ich wünschte, was ich empfand, was immer ich zum Ausdruck brachte, von Anfang an. Deswegen dachte ich, ich hätte nur Verachtung in mir. Das aber ist nicht wahr. Ich war auf meine Mutter wütend, und sie hat mich dafür bestraft.

Was willst du denn?! Warum schreist du denn so herum?!

Ich musste etwas Falsches über meinen Hunger und meine Wünsche als Kind äußern lernen. Dass meine Wünsche und Bedürfnisse und alle meine Anliegen, im Grunde falsch und böse waren. Dass mein Gefühl schlecht sei und ich nicht gut, sondern damit nur immer böse. Was folglich gut für meine Seele sei, wenn ich nur auf sie hörte, wäre Verachtung und Bestrafung.

Ich musste etwas Falsches tun. Ich musste Falsches lernen. Ich musste Falsches tun, um Fehler machen zu verlernen. Um einen Fehler nicht zu tun, muss man sich selbst mit seiner Neugier und Phantasie verleugnen und verneinen. Um keinen Fehler mehr zu machen, muss man sich selbst verachten und selbst hassen, damit nichts mehr nach außen dringt von dem, das ein Kind nur begreift, das Fehler machen darf und kann, welch eine Freude das doch ist, etwas zu tun, etwas zu machen und zu denken, das einem keine Angst und Furcht bereitet. Was einen freut.

Die Freude wurde abgeschafft, endlich begreife ich. Die Freude schaffte meine Mutter ab, die reine Lebensfreude. Die reine Freude wird doch immer abgeschafft, wenn ein Kind keine Fehler machen darf und alles nur vermeiden muss, aus Angst, jetzt wird es gleich bestraft, und angeschrien und geschimpft. Die Freude wurde abgeschafft. Darum ging es im Grunde immer meiner Mutter. Dass sie mir meine Freude nahm, wie man sie ihr als Kind genommen hatte. Die Freude abzuschaffen, indem man keinen Schrei und keinen Fehler und keinen Schmerz und keine Liebe, und keine Wut, indem man gar nichts an Gefühlen jemals wieder duldet, bei sich nicht und bei keinem anderen.

Endlich kann ich den Blick an ihr, den einer Fehlerlosen, wieder sehen.

Ich suchte immer wieder nur nach Fehlern, das hatte sie mir beigebracht. Ich suchte schließlich immer nur nach Fehlern. Ich konnte gar nicht anders. Ich konnte mich als Kind gar nicht verstehen und verstehen lernen, weil meine Mutter mich so quälte, mit ihrer Schimpferei. Ich musste mich mit Fehlern auseinandersetzen, sonst hätte ich nicht überlebt. Ich wusste aber nicht, dass ich gar keine Fehler an mir hatte. Ich konnte mich ja gar nicht fehlerlos verstehen lernen. So suchte ich und suchte immer weiter nur nach Fehlern, und schließlich nach dem alles entscheidenden Fehler. Ich wusste aber nicht, dass es den Fehler an sich gar nicht gibt. Und suchte deshalb immer weiter. Ich suchte nach einer Fehlerquelle und wusste nicht, dass es die gar nicht gab. Ich suchte nach Fehlern, die es in Wirklichkeit niemals gegeben hatte. Nach Zügen, die es niemals gab. Nach Wünschen, die ich niemals hatte. Die Züge, die in meinen Träumen niemals fuhren. Ich stand zur falschen Zeit am falschen Gleis. Am falschen Tag. Und immer wieder fälschte mein Gehirn, oder verdammt nochmal, wer war denn das, die Abfahrtszeiten. Verpasste Züge, Flüge. Verdammt nochmal. Verdammt, was habe ich denn nur verpasst?! Ich quälte mich mit meiner Fehlersuche. Solange ich nach Fehlern an mir suchte, nach Fehlern in Gefühlen, Emotionen und selbst in den Empfindungen, nach Fehlern in geträumten Daten. Ich suchte selbst in meiner eigenen Phantasie nach einer Fehlerquelle. Ich quälte mich damit. Und dabei merkte ich nicht mal, dass dies doch die Verachtung war, die meine Mutter mir einst beigebracht hatte; damit ich ihr gefiel. Damit sie nicht mehr einsam war und über mich herfiel. Damit wir unsere Einsamkeit und unsere Schmerzen und unsere Wut auf eine Mutter, die ihr Kind verlässt, alleine lässt, alleine schreien lässt, in höchster Not alleine lässt, nicht länger äußerten.

Die Wut gegen die Einsamkeit. Die blinde meiner Mutter gegen die meinige. Verachtung von Einsamkeit, das brachte sie mir bei. Die Einsamkeit verachten. Und damit brachte sie mir die Verachtung meines Lebens an sich bei.