Texte von Hugo Rupp

Über Verbundenheit zur Unterwerfung

Und ich hörte – ihn – sie – diese Stimme – andere Stimmen – sie alle waren so wenig mehr als Stimmen und die Erinnerung an die Zeit selbst umgibt mich, unfassbar, wie ein ersterbendes, ungeheures Geschnatter, dumm, grausam, schmutzig, wild, oder einfach gemein, ohne jeden Sinn.

Joseph Conrad Herz der Finsternis

Das wirst du mir noch büßen!

Wenn ich mich wehre.

Du wirst noch an mich denken.

Bereuen heißt für mich, ich soll was büßen. Bereuen müssen, traurig sein. Für einen Fehler, einfach so. Für eine Geste, für ein Lachen. Für traurig sein. Jemanden büßen lassen müssen.

Streng dich nur einmal an. So schwer ist das doch nicht. So schwer kann das doch gar nicht sein!

Ich lerne mit der rechten Hand zu schreiben. Auch etwas lesen lerne ich.

Was ich für eine schöne Handschrift hatte. Und die von deinem Vater solltest du mal sehen. Wie schön der schreiben kann und auch Altdeutsch. Und du stellst dich so an.

Ich weine nicht und strenge mich so an.

Und wenn du in die Schule kommst, dann werden deine Lehrer staunen, woher du so eine schöne Handschrift hast. Und dass du auch schon schreiben kannst. Wie du nur wieder deinen Stift hältst.

Ich bin Linkshänder.

Dein Vater sagt, ein Linker kann kein guter Schreiner werden. Einen Linken kann man in der Werkstatt nicht gebrauchen.

Ich bin nicht zu gebrauchen.

Jetzt hast du wieder alles ausgewischt. Ja passt du denn nicht richtig auf. Du musst doch einfach nur das machen, was ich dir vormache. Das kann doch nicht so schwer sein!

So sprach ich später auch.

Was fehlt dir denn?

Nichts fehlt mir ohne Vorwurf.

Hast du dir wehgetan!?

Ja schämst du dich denn nicht!?

Schon wieder weinen!

Wie lange soll das noch so weitergehen?

Du hast doch alles, was man braucht!

Das bildest du dir doch nur ein!

Das stimmt doch gar nicht!

Hab dich doch nicht so!

Jetzt hab dich doch nicht so!

So schlimm ist das doch nicht.

Und finde dich gefälligst damit ab.

Jetzt kommst du mir nicht wieder aus.

Jetzt hab ich dich!

Jetzt sind wir wieder gut.

Jetzt hat es dir die Sprache wohl verschlagen.

Jetzt fällt dir scheinbar nichts mehr ein!

Ich bin die einzige gewesen, die dich vor ihm in Schutz genommen hat.

Wer hat ihn denn gefragt, wenn du was wolltest?!

Solange ich nach jemand rufe, muss ich mich schämen und bereuen.

Jetzt hör endlich zu schreien auf!

Benimm dich jetzt gefälligst und sei still.

Du weißt doch gar nicht, was du an uns hast.

Du weißt doch gar nicht, was du sagst.

Ich habe das Gefühl, dass Liebe wehrlos macht. Dass wenn ich mich verlieben würde, dass ich dann wehrlos bin.

Was ist denn jetzt. Weinst du vielleicht?! Zeig her. Lass mich gefälligst deine Augen sehen. Hast du heimlich geweint!? Was ist denn jetzt schon wieder los?!

Freu dich nur nicht zu früh.

Jetzt sind wir quitt! Was schaust du denn so komisch?! Das amüsiert dich wohl. Hast du noch immer nicht genug!?

Sei still, sonst kommt der Schwarze Mann!

Dann klingelt es, und ich erschrecke.

Jetzt steht er vor der Tür. Gleich reißt er dir den Kopf vom Hals, wenn du so weiter schreist. Dann schneidet er dir deine Gurgel durch und deinen Zipfel ab, wenn du so weiter schreist. Du weißt doch, was mit dir passiert, wenn du nicht brav bist und immer nur an deinem Ding herumspielst. Die Haare wachsen dir auf deinen Fingern. Und Warzen kriegst du darauf auch. Und schließlich fallen dir die Zähne aus und blind wirst du und ganz zum Schluss fault dir dein Zipfel ab.

Schau, dass du in dein Zimmer kommst. Und sei gefälligst still! Sonst kommt der Schwarze Mann.

Was fehlt denn diesem Kind?! Wovor hat dieser Junge eine solche Angst?!

Ich weiß es nicht, sagt sie und lächelt meinen Lehrer an.

Hab ich es nicht gesagt. Hab ich das nicht gesagt, das wirst du noch mal büßen. Hab ich das nicht gesagt?! Doch du, hast nur das nicht geglaubt. Hab ich das nicht gesagt, freu dich nur nicht zu früh. Das hast du nun davon.

Und plötzlich rieche ich an mir, wie meine Mutter roch, mit dem Parfüm, am Sonntag, wenn wir rausfuhren und irgendwo dann einkehrten, und wie sie war und wie der Vater war, und wie ich immer dachte, so möchte ich nicht sein, nur alles abschätzen, beschimpfen, kritisieren und bemängeln, und dabei selbst so dumm, und wenn der Ober kommt, dann wieder unterwürfig und stets darauf bedacht, dass man ihr schön tun würde.

Das wirst du mir noch büßen!

So habe ich mich aus der Wut selbst immer wieder rausgeredet.

Ein großes Maul und nichts dahinter.

Was redest du. Was willst du immer von den anderen. Schau lieber selbst, dass du was auf die Reihe kriegst.

Kehr erst vor deiner eigenen Haustür!

Was bildest du dir ein.

Kümmere dich gefälligst um deine eigenen Angelegenheiten!

Hat es dir nicht gefallen?

Du bist ja ganz weiß im Gesicht. Hast du dich vielleicht erschrocken.

Die Wut an diesem Tag, dem ersten Schultag, ich ohne eine Schultüte, weil Vater keine kaufen wollte, für einen Tag. Ich war das Kind, das keine hatte. Ich war der Junge, den die anderen nicht anschauten. Ich wusste nicht, was ich mit meinen Händen machen sollte. Ich war das Kind, das keine Schultüte in seinen Händen hielt. Mich schauten sie nicht an. Sie schauten weg. Sie schauten mich nicht an, weil mein Gesicht verbissen war.

Jetzt mach nicht so ein Gesicht!

Beim Mittagessen Erdbeeren.

Du kennst ihn doch!

Du weißt doch, wie er ist!

Hab ich dir nicht gesagt, freu dich nur nicht zu früh!?

Wenn du nicht still bist, kriegst du nichts.

Er will doch nur dein Bestes! Merkst du das nicht!?

Nur keinen Fehler machen jetzt!

Wenn sie mich aus dem Fenster hält und dabei lacht und immer wieder lacht, nachdem ich still geworden bin und nichts mehr von mir gebe.

Jetzt mach ein freundliches Gesicht. So schwer ist das doch auch nicht!?

Ich wollte doch kein Feigling sein.

Jetzt hör endlich zu schreien auf. Du weißt doch, dass dir das nichts nützt!

Stell dir nur vor, wer jetzt gestorben ist!?

Für jeden Widerspruch lässt sie mich büßen.

Was denkst du denn? Brütest du vielleicht schon wieder etwas aus?!

Wenn sie im Laufschritt kommt, um mich zu schimpfen. Dann haut sie ihre Fersen ins Parkett, dass alles wackelt. Endlich verstehe ich, was ich vor dem geschüttelt werden, hörte. Weswegen ich dann später so erschrak, vor lautem Treten und Poltern über mir. Warum ich schon zusammenzuckte, wenn jemand nur fest auftrat.

Denn wer zuletzt lacht, lacht am Besten!

Mein Kotzen und mein Schwindel und mein ängstlich sein. Ich habe die Gewalt dabei vergessen, wie sie von außen kam, wie eine Ausscheidung.

Jetzt lassen wir dich liegen!

Denn alles, was ich an ihr rieche und was mir ihre Stimme beibringt, ist Ablehnung, Verneinung, Unterwerfung. Du bist hier nicht willkommen. Du bist mir nicht willkommen, solange du so bist und immer nur so schreist. Solange du nur weinst, will ich dich nicht haben.

Du machst aus allem ein Theater.

Ich lüge auch.

Was führst du dich so auf. Was machst du nur für ein Theater.

Das ist ja meine Rettung.

Was bildest du dir ein?!

Vor aller Augen.

Genet: Die Wahrheit ist nur möglich, wenn ich ganz allein bin. Die Wahrheit hat nichts mit einer Beichte zu tun. Sie hat nichts mit einem Dialog zu tun. Ich spreche von meiner Wahrheit. Ich habe versucht, Ihre Fragen so genau wie nur möglich zu beantworten. In Wirklichkeit war ich aber weit weg.

Fichte: Das ist aber hart, was Sie da sagen.

Genet: Aber sehr hart für wen?

Fichte: Für jeden, der sie ausspricht.

Genet: Ich kann einem anderen nichts sagen. Anderen nichts sagen als Lügen. Wenn ich ganz allein bin, sage ich vielleicht ein bißchen Wahres. Wenn ich mit jemandem zusammen bin, lüge ich. Ich bin daneben.

Fichte: Aber die Lüge ist eine doppelte Wahrheit.

Genet: O, ja. Entdecken Sie die Wahrheit, die sich darin befindet. Entdecken Sie, was ich verbergen wollte, indem ich gewisse Sachen sagte.

Hubert Fichte, Jean Genet

Die Stimme meiner Mutter. Wenn sie sich von mir wegbewegt, tauche ich unter. Und wenn ich mich von ihr entferne, taucht meine Mutter auf. Deswegen folgte ich ihr. Wie einer Stimme aus der Unterwelt.

Das Grauen und der moralische Terror sind deine Freunde. Falls es nicht so ist, sind sie deine gefürchteten Feinde.

Colonel Walter E. Kurtz, im Film, Apokalyse Now

Die einzige, die zu mir sprach in meiner Einsamkeit. Deswegen habe ich mich dieser Stimme unterworfen, als spräche Gott, oder ein Heiliger, ein Prediger, ein Therapeut, ein Heiler, oder ein Freund, oder ein Vater, oder ein netter Mensch zu mir. Ich hörte auf die Stimme und habe mir vom ersten Laut an, alles von ihr in mir gemerkt, ohne die Möglichkeit des Widerspruchs. Denn meine Mutter legte mich ganz einfach ab und kam erst wieder, wenn ich erschöpft, von meiner Wut und meinen Tränen, nicht länger weinen konnte.

Erst wenn ich nicht mehr weine, kommt wieder eine Stimme für mich an. Erst wenn ich nicht mehr weine, kommt für mich etwas an. Erst wenn ich nicht mehr weine, werde ich jemandem gefallen.

Ich hatte gar nicht Angst vor Fehlern. Ich hatte Angst, dass ich nur wieder etwas büßen müsste. So machte ich mir selbst, wie beigebracht, die Zukunft schon im Vorhinein kaputt, indem ich mir die Freude am Erleben nahm. Ich dachte mir schon vorher aus, wie etwas wieder für mich enden würde.

Das war vorherzusehen, dass das nicht klappen wird. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst dich nicht zu früh freuen?!

Vorhersagen. Ewige Vorhaltungen. Vorwegnahmen und Schuldgefühle, um alles vorher schon zu simulieren. Sie nahm mir das Versprechen ab, dass ich mich bessern würde. Sie nahm mir meine Freude und den Stolz. Sie raubte mir den Stolz, deswegen konnte ich nicht wütend werden.

Ihr Lachen. Und Vaters Lachen auch. Sie lachten über mich. Sie lachten über mich. Sie lachten mich ununterbrochen aus. Wie lächerlich das sei, zu weinen und zu schreien. Wie lachhaft und wie lächerlich und unbedeutend, klein. Wie klein ich damit sei. Wie dumm ich damit sein würde. Wie unbeschreiblich lächerlich und klein und dumm und schwach.

Sie lachten über meinen Stolz, dass ich mich wehrte, solange ich mich wehrte. Solange ich mich wehrte. Bis mir mein Stolz verging.

Endlich verstehe ich die Unterwerfung, um was es dabei geht. Warum ich später andere auslachte. Alles und jeden im Grunde lächerlich dann fand. Ich wollte anderen auch ihren Stolz nehmen. Ich wollte ihnen nicht nur ihre Freude und ihre Lebenslust und Wut wegnehmen. Ich wollte ihren Stolz. Den wollte ich. Ich wollte ihren Stolz. Genau dieselbe grauenhafte Arroganz und Gleichgültigkeit, mit der mich meine Eltern folterten und quälten, als Preis und Anerkennung für meine Unterwerfung.

Jetzt hast an Dreck im Schachterl!

Ich konnte meinen Eltern mein Leid nicht mitteilen. Sie waren nämlich die Verursacher. Sie waren die, die mich mit Dreck bewarfen und meinen Stolz verletzt hatten und immer weiter nur verletzten; an jedem Tag. Ich konnte niemandem was davon mitteilen, weil niemand etwas davon spüren wollte. Deshalb bewarf ich schließlich andere dann auch mit diesem Dreck. Ich warf den Dreck, mit dem mich meine Eltern einst beworfen hatten, auf andere. Verletzte ihren Stolz. Verletzte andere. Ließ schließlich andere für mich und meine Eltern büßen. So unterdrückte ich die Wut auf meine Mutter und den Vater.