Texte von Hugo Rupp

Über die Feigheit

 

Who knows what true loneliness is—not the conventional word, but the naked terror? To the lonely themselves it wears a mask. The most miserable outcast hugs some memory or some illusion.

Joseph Conrad

Gib es doch endlich zu. Und hör endlich auf zu lügen. Hör endlich auf mich anzulügen, sagte sie. Ich log sie an, dass ich gute Noten hätte. Ich log sie an, wenn sie mich fragte, wie es mir gegangen sei in der Schulaufgabe, dann log ich wieder, wenn ich die korrigierte Arbeit hatte. Ich log, weil es mir schlechter ging, als es mir gehen sollte. Es sollte mir nicht schlecht gehen. Vater wollte das nicht. Es sollte mir gut gehen. Ich sollte gute Noten haben. Es sollte mir gut gehen. Es ging mir nicht gut. Ich war furchtbar einsam und allein, aber es sollte mir doch gut gehen, weil ich im Gymnasium war. Ich sollte froh sein, dort zu sein. Ich sollte froh sein, hier unter all den Privilegierten. Ich sollte froh sein, dass mir meine Eltern die Möglichkeit geboten hatten, dass sie mich unterstützten und jetzt auch noch Nachhilfe gaben, in Deutsch bei einem Abiturienten und in Englisch bei meiner Tante, dass ich diese Möglichkeiten überhaupt hätte, darauf sollte ich stolz sein und froh, dass sie mir diese Möglichkeiten anbieten würden, das werde nicht jedem Kind zuteil, das könnten sich nicht alle Eltern leisten, und dass die eigene Tante eine Dolmetscherin sei, das würde nicht jedem in den Schoß fallen.

Jetzt lügst du mich hier an, sagt sie. Wir haben schließlich auch ein Recht, die Wahrheit zu erfahren, zumindest dass du uns nicht anlügst wegen deiner Noten, das sei doch nicht zuviel verlangt. Das ist doch wirklich nicht zuviel verlangt, sagt sie. Mein Vater hält sich da heraus, er schaut nur grimmig, böse, wenn ich ihn enttäusche und mit einer schlechten Note heim komme, das ist dann wieder schlecht, dass ich ihm seine gute Laune nur verderbe, am Abend, wenn er nach Hause kommt, von der Arbeit, dass er dann auch noch hören muss, dass ich gelogen habe und schlecht in der Schule sei, dass er sich dann, wie er sagt, deswegen auch noch Sorgen machen müsse, wo er doch gerade davon wirklich genug hätte. Meine Mutter sah, dass es mir schlecht ging in der Schule, sie sah, dass ich viel weniger aß, dass ich mir sagte, meine Beine wären zu dick, dass ich jetzt weniger aß. Ich brauchte einen Grund zum weniger essen, ich suchte tatsächlich einen Grund, warum ich weniger essen würde, weil ich das sonst nicht klären, nicht einmal mir selbst erklären konnte, weil es mir nicht schlecht gehen durfte, wusste ich nicht mal, wie schlecht es mir ging, und wie allein ich mich tatsächliche fühlte. Sie wollten nicht, dass es mir schlecht ging in der Schule. Sie wollten meine Schlechtigkeit nicht haben. Sie wollten nicht, dass es mir schlecht ging. Sie wollten das nicht sehen und begreifen, sie wollten nicht, dass es mir schlecht ging. Dass ich nur log um zu verstecken, dass es mir wieder schlecht gegangen war in einer Schulaufgabe, log ich sie an. Ich suchte immer schon nach Möglichkeiten, dass es mir nicht schlecht ging, dass meine Eltern nichts davon erfuhren, wie es mir ging, wie ich mich fühlte, bei ihnen, überhaupt, im Haus, in meinem Elternhaus, auch in der Stadt, in meiner Straße, unter den Freunden, den Fremden und Bekannten, ich schaute immer darauf, dass niemand etwas sah, dass es mir nicht gut ging. Ich sagte nichts, ich log, ich zeigte nichts, ich achtete darauf, dass niemand etwas sah, dass niemand etwas sehen würde, können, dass niemand davon etwas merkte, wie es mir ging, wie es tatsächlich in mir ausschaute. Es wollte niemand sehen, dass es mir nicht gut ging. Sie wollten nicht, dass ich nicht gut war und dass es mir schlecht ging, das wollten sie nicht sehen, hören, wissen, nicht erfahren. Sie wollten nicht, dass ich vor ihnen litt. Sie sahen lieber weg. Ich sollte nicht vor ihnen weinen. Ich sollte nicht mein Leid ausheulen. Ich sollte nicht schlecht sein. Mir sollte nichts weh tun. Sie wollten keinen schlechten Schüler. Sie wollten nur mein Bestes. Ich suchte nach den Ecken und verlassenen Orten innerhalb der Stadt. Ich setzte mich auf die Holzstöße im Lager der Schreinerei. Ich saß da und wollte nichts mehr von mir hören. Ich saß da und versuchte mich zu ändern. Ich saß allein und nahm mir vor ein Besserer zu werden. Ich nahm mir vor nicht länger traurig auszusehen. Ich wollte nicht mehr traurig sein, dass ich auf einer Schule war, wo ich niemanden kannte, wo ich verloren war, und ohne ein vertrautes Gesicht.

Es ging ja immer nur den andern schlecht. Dem Vater einmal, dann der Mutter, doch niemals mir. Ich war doch schließlich nur ein Kind? Wie sollte es mir denn schlecht gehen? Ich hatte doch auch alles. Dir geht es doch nicht schlecht. Wenn ich als Kind soviel gehabt hätte, dann hätte mich das sehr gefreut. Ich hatte, was ich hatte. Ich brauchte keinen Trost. Dass ich keinen bekam, weil die Eltern gar nicht wussten, was das war, wusste ich natürlich nicht.

Ich hatte keine Möglichkeit, den Kummer jemals auszudrücken, der mich befallen hatte, dass ich niemals beschützt war und nie wurde, dass ich niemals wen an der Seite hatte, der mich gehalten hat, gehalten hätte und beschützt.

Mein Vater wollte Trost, Verständnis und geliebt werden, wenn er nach Hause kam und meine Mutter gab ihm das mit ihren Mitteln. Er wollte das von mir. Respekt und Achtung und Beachtung seiner Regeln, und dass ich tue was er sagte, und dass ich seinem Vorbild folgte. Er wollte nur das beste für mich und die Mutter. Dass das das beste für ihn war, das konnte ich als Kind nicht wissen. Ich nahm ihm etwas davon weg, wenn ich ihn indirekt mit meinem Unglück konfrontierte, dass wenn ich traurig aussah und noch lernte, wenn er nach Hause kam. Wenn ich ihn fragte, nach seiner Hilfe. Es ärgerte ihn, dass er mir helfen musste, das ärgerte ihn am meisten, dass ich nicht von allein, die Hausaufgabe machen hatte können, jetzt musste er noch ran, mit mir am Abend etwas machen. Dass er dabei nicht wirklich wusste, was er tat, das merkte ich, doch durfte das nicht zeigen, dass er nicht wusste, wie man einen Erlebnisaufsatz schreibt, dass er nicht wusste, wie man schrieb, dass er nicht schreiben konnte wie gefordert, das machte ihn dermaßen wütend, dass er nur aufstand, sich hinsetzte und dann fluchte, er fluchte immer wieder, und ich saß da und schrieb, ich schrieb, was er mir sagte und diktierte, dann nochmal und nochmal, die Finger taten wir schon weh, da redete er nochmal und nochmal, die ganze Zeit nur wütend und nie freundlich. Nie freundlich bei der Hilfe, nie sicher dabei. Er wusste nicht, was er da tat. Er konnte nur angeben. Er war der schlauste Mensch der Welt. Er konnte nur angeben. Er schimpfte immer über andere. Und wenn ich dann das gleiche tat, dann schimpfte er mich aus. Er war der Schlauste der Welt. Der Alleswisser, der recht hatte. Das war das schlimme, immer wieder, der schlauste der Welt, der klügste und der stärkste, der Alleskönner, Alleswisser. Der Mann, der alles konnte, war ein Idiot. Wer alles kann und alles weiß, muss ein Idiot sein. Mein Vater war ein Eigenwerber, er warb für seine Fähigkeit, besser und klüger zu sein als alle anderen. Als alle, die er kannte. Als alle, die er mir vorstellte. Mein Vater stellte mir nie schlaue Menschen vor. Nur immer wieder die Idioten. Er sagte dann, nachdem wir auf der Straße einem begegnet waren, dass das in Wirklichkeit nur ein Idiot sei. Was der nur von sich denken würde, wie der nur wieder gehe, was sei das doch für ein Idiot. Für meinen Vater gab es nur Idioten. Idioten und ganz schlaue Menschen. Doktoren, Professoren. Sonst nur Idioten weit und breit.

Glaubst du, die anderen sind Deppen. Wenn ich mich lustig machte, wenn ich nun selbst von den Idioten sprach, dann warf er mir das vor. Glaubst du, die anderen sind alle blöd? Was glaubst du denn, wer du bist, um dich so aufzuführen und über andere lustig zu machen? Wer glaubst du, wer du bist? Dass nur du recht hast und die anderen Unrecht? Glaubst du, du hast die Weisheit mit Löffeln gefressen? Glaubst du vielleicht, die anderen, die wären dümmer? Sieh dir nur deine Noten an. Wenn du so schlau bist, wie du meinst, warum bist du dann nicht besser in der Schule?

Mein Vater hatte immer recht. Das machte jede Möglichkeit zunichte, um mich zu wehren. Ich konnte nur Recht haben lernen. Das lernte ich von ihm. Recht haben müssen lernen. Und später dann auch lehren. Dass immer jemand Recht hat, dass jemand immer auch Recht haben muss. Dass niemand ohne damit ist. Dass ein Gefühl nichts mit dem Recht zu tun hat, wusste ich doch nie. Dass ein Gefühl nicht richtet, konnte ich bei ihm nie lernen. Dass ein Gefühl im Gegenteil sich nicht hinrichten lässt, das konnte ich nicht wissen. Dass ich das alles in mir trug, mitschleppte und mitschleifen musste, vom recht haben, vom alles wissen und auch alles können müssen, das wusste ich auch nicht. Ich lernte nur das immer recht haben und dabei überhaupt nichts fühlen. Dass wer recht haben muss, nichts fühlen kann, kann kein Kind wissen. Recht haben müssen, schließt fühlen aus.

Denn die Gewalt gab meinem Vater recht, verlieh ihm auch das Recht des Stärkeren, und meine Mutter auch, sie widersprach ihm nicht, sie gab ihm Recht, was jeder wie mein Vater damals machen konnte mit seinem Kind, was er gerade wollte, antun, da gab ihm auch der Staat vollkommen recht. Niemand von den Erwachsenen, die ich wie meinen Vater kannte, gab einem Kind das Recht auf ein Erlebnis seines Lebens.

Mein Vater war nie für mich stärker, nur immer gegen mich. Ich ahnte nie, dass das ein Maß für Feigheit ist: Der Starke tritt nicht für den Schwachen ein. Er kommt gar nicht auf den Gedanken, weil er die Schwäche nicht mehr fühlen kann, weil er im Grunde feige ist, weil er die eigne Schwäche nicht mehr fühlt, nur mehr sein Recht haben und Recht behalten müssen. Wer ein Kind richtet, der schreibt Gewalt nur gegen Schwache und hinterlässt in einem Kind die eigne Forderung, nach Rache an dem Unrecht, das er einst selbst ertragen hatte müssen, weil niemand ihm geholfen hat, gegen den Stärkeren, den Peiniger.