Texte von Hugo Rupp

Tränenwege

 

Weil mir ans Herz was Totes hingewachsen ist.

Weil mir was Totes in mein Herz gestochen hat.

Weil mir was Böses in mein Herz gewachsen ist.

Weil mir was Böses an mein Herz gefasst hatte.

Wenn ich mein Herz nicht länger hören und nicht fühlen kann. Was ich nicht loswurde. Weil niemand Abschied nehmen kann von einem toten, kalten Teil; ohne die Wut des kleinen und verworfenen Kinderherzens.

293. Wenn ich von mir selbst sage, ich wisse nur vom eigenen Fall, was das Wort »Schmerz« bedeutet, – muß ich das nicht auch von den Andern sagen? Und wie kann ich denn den einen Fall in so unverantwortlicher Weise verallgemeinern?

Nun, ein Jeder sagt es mir von sich, er wisse nur von sich selbst, was Schmerzen seien! – Angenommen, es hätte Jeder eine Schachtel, darin wäre etwas, was wir »Käfer« nennen. Niemand kann je in die Schachtel des Andern schaun; und Jeder sagt, er wisse nur vom Anblick seines Käfers, was ein Käfer ist. – Da könnte es ja sein, daß Jeder ein anderes Ding in seiner Schachtel hätte. Ja, man könnte sich vorstellen, daß sich ein solches Ding fortwährend veränderte. – Aber wenn nun das Wort »Käfer« dieser Leute doch einen Gebrauch hätte? – So wäre er nicht der der Bezeichnung eines Dings. Das Ding in der Schachtel gehört überhaupt nicht zum Sprachspiel; auch nicht einmal als ein Etwas: denn die Schachtel könnte auch leer sein. – Nein, durch dieses Ding in der Schachtel kann ›gekürzt werden‹; es hebt sich weg, was immer es ist.

Das heißt: Wenn man die Grammatik des Ausdrucks der Empfindung nach dem Muster von ›Gegenstand und Bezeichnung‹ konstruiert, dann fällt der Gegenstand als irrelevant aus der Betrachtung heraus.

Ludwig Wittgenstein Philosophische Untersuchungen

Mein Traum vom Vater und Mutter für immer verlassen. Die Frau im roten Kostüm. Sie weint. Der alte Mann im Rollstuhl, oder Beichtstuhl, der überrascht und voller Unverständnis auf Berührung, auf mein Abschied nehmen, nicht reagieren kann. Ich lege meine linke Backe an die Brust des Vaters. Und Vater lächelt unbedarft. Die Mutter weint und dreht sich weg. Sie von der Seite, weint, sie spielt mir ihre Rührung immer wieder vor. Sie spielt mit ihren Tränen, ihrer Rührung. Ich soll nicht Abschied nehmen. Sie hat sich kostümiert, mit ihrer Rührung will sie mich festhalten. Sie ist bekleidet mit dem Blut. Und ihr Gesicht ist bleich. Blutleer. Sie trägt ihr Kleid, wie Blut nur zur Fassade. Dass ich nicht von ihr Abschied nehmen kann. Das wünscht sie sich. Ihr wahrer Todeswunsch für mich. Das viele Blut ist nur Bekleidung. Sie kostümierte wirklich alles. Selbst ihre Angst vor meinem Abschiedswillen.

Schau dass du weiterkommst! Ich will dich nicht mehr länger sehen!

Deswegen konnte ich mich nicht verabschieden. Von einer Toten, weit Entfernten. Mich konnte ich dabei nicht sehen. Und von ihr konnte ich mich nicht entfernen. Ich konnte weder weg, noch bei ihr sein. Ich konnte weder bleiben, noch gehen, oder mich entfernen.

Geh doch! Dann hau doch ab. Ich kann dich nicht mehr sehen. Um 5 Uhr bist du wieder da!

Ich rede mit mir selbst. Verhöhnte Nähe, Abschied, Bleiben. Verhöhnte alles miteinander.

Umarme ich die Mutter? Jetzt!? Auch das ist nur gespielt. Kann ich von meinem toten Herz nicht Abschied nehmen?

Verdorben und verkommen fühlte ich mich selbst, weil ich von ihr nur wegwollte. Nur weg und nie mehr wieder kommen wollte. Das traut sich niemand sagen. Das wagte niemand wirklich. Weg von der Mutter geht doch nicht. Das darf doch niemand sagen, geschweige denn auch tun.

Die Angst vor einem toten Herzen. Die Angst vor einem eignen toten Herz. Die Schlechtigkeit schlechthin. Ein Sohn, der seine Mutter nicht mehr sehen will. Das ist doch schier unmöglich. So viel an Schlechtigkeit. Ein Kind das seine Mutter nicht mehr mag.

Das ist doch unerhört!

Wenn ich nur etwas gegen meinen Vater und die Mutter sagte, war ich von Grund auf schlecht. Nur schlechte Kinder machen nicht, was ihre Eltern ihnen sagen.

Die Sünde. Mich versündigen. Wenn ich nicht gleich wieder vergebe. Tatsächlich war das immer wieder Religion, was meine Mutter mit mir übte. Vergiftung um Vergiftung, verkauft mit Lügen und Belehrung. Bekehrung meiner Kinderseele.

Verdorben fühlte ich mich. Als würde Schlechtigkeit aus Blut durch meine Adern jagen. Verkommenheit in meinem Blut. Ich musste Sünde in mir tragen.

Wie sollte ich die Schlechtigkeit ablegen?

Mit Hohn und Spott. Mit Missgunst und mit Neid. Die andern sollen auch so schuldig sein und sich genauso schuldig auch betragen.

Wenn ich so bin, so wie ich mich nicht mag, bleibt nur mehr Feindschaft für mich übrig.

Ich hing an meinem Neid. Ich selbst missgönnte mir die Freundschaft. Ich neidete, was ich gar nicht verstand. Dass ohne schämen und Beschämung bei mir gar nichts zustande kommen konnte. Dass nichts an mir nicht schamlos sein konnte. Weil nichts an mir für meine Mutter schuldlos war. Da meine Mutter und mein Vater alles, was ihnen nicht an mir gefiel, mit Hohn und Spott bestraften und verklagten. An mir hing Scham und Schuld, mit Spott und Hohn an mich geheftet. Ich selbst beschwerte schließlich alles selber mit Missgunst, mit Neid und Spott. Ich spottete im Grunde jeder Art Beschreibung.

Dabei hing ich an ihrem Rock. Ich klebte doch an ihren Fersen. Ich klebte doch an jeden Schritt, an jede Art Bewegung, die mir missfiel, die Scham und Neid und Spott und Hohn, Missgunst. Ich klebte selber fest. Ich hing an meiner Mutter Hohn und Spott. Das war doch unsre einzige Beziehung, die sie mit mir, und ich mit ihr, zustande bringen und herstellen hatte können.

Dass alles in mir nach Verspottung und Beschämung sucht, um mich davor zu schützen und zu warnen. Dass Missgunst nach Beschämung sucht und Neid nach mehr Erniedrigung. Noch kleiner musste ich für meine Mutter sein, noch kleiner als der kleinste Schrei. Aus Furcht vor Wiederholung der Bestrafung. Aus reiner Furcht verspottete ich später auch. Aus meiner Furcht heraus vor der Verspottung durch die Mutter.

Jetzt bist du endlich still, du nichtsnutziges, dreckiges Wesen. Man hätte dich an deiner Nabelschnur aufhängen sollen. Dann wär uns dein Geschrei erspart geblieben. Dann müssten wir nicht jede Nacht nur wegen dir aufwachen und aufstehen. Jetzt halt endlich dein Maul, sonst stopfe ich es dir mit deiner vollgeschissenen Windel.

Wie meine Mutter meine Schreie nicht ertrug.

Tränenpassage

Wie konnten sie so tun, als wären sie unschuldig? Wie konnten sie so tun, als würden sie sich nicht mal schämen? Wie konnten sie mich schuldig machen und selbst nicht schuldig werden? So unschuldig wie meine Mutter und mein Vater waren, wie Gott und scheinbar alle Religionen und Vorfahren.

Sie wollten, dass ich meine Schuld hinnahm. So konnte ich die Eltern nicht verlassen, nicht in Gedanken und im Ernst. Solange ich mich schuldig fühlen musste. Ich war bei ihnen ganz alleine schuld und niemand sonst. Ich war so einsam ohne meine Wut. Ich war so einsam ohne meine Unschuld in Gedanken. Ich war so einsam ohne jede Art Unschuldsvermutung. Ich war so einsam mit der Schuld.

Solange ich die Unschuld für das Kind, das ich mal war, nicht fühlen und nicht wagen konnte, blieb jener Hass in mir erhalten, den meine Mutter in mich gesteckt hatte, mit Missgunst und mit Neid.

Unschuldig konnte sie mich doch nicht lassen. Sie brauchte für sich selber und ihren Hass doch einen Grund.

Bevor sie mich alleine ließ, verschwand und ging und mir den Schwarzen Mann noch an den Hals gewünscht hatte, sprach sie von Schuld, als würde sie die Sünde in mich beten; nach schuldig sein sich sehnen

Wenn du jetzt weinst, dann bist du ganz allein dran schuld. Was bist du auch so böse und gehässig. Warum, verdammt, schreist du denn sonst?

Niemand kann mit Wahrheit von sich selbst sagen, daß er Dreck ist. Denn wenn ich es sage, so kann es in einem Sinn wahr sein, aber ich kann nicht selber von dieser Wahrheit durchdrungen sein: Sonst müßte ich wahnsinnig werden oder mich ändern.

Ludwig Wittgenstein

Ich durfte nicht um mich und meine Schmerzen weinen. Ich musste schuldig sein und schlecht. Ich sollte nicht unschuldig sein. Sie wollte und sie konnte mich nur schuldig haben. Mir Schuld einheizen, jeden Tag.

Ich musste später immer jemand schuldig machen. Ich konnte Unschuld nicht mehr annehmen. Ich konnte Unschuld nicht mal denken. Ich konnte jemand schließlich nur mehr schuldig haben und ertragen und merkte nicht, dass ich das ganz genau so wie die Mutter machte. Die Schuld los werden und abladen. Verwerfen und bestrafen und belasten, ein Kind mit seiner Schuld und Scham alleine lassen und bestrafen.

Ich fühlte mich wie Dreck. Ich musste dreckig sein.

Wenn du nicht brav bist, kommst du auf die Hobelbank. Das treibe ich dir aus, bei jedem Wort nur widersprechen. Das treibe ich dir aus. Ich zieh dir deine Hammelbeine lang und reiß dir deine Zehennägel aus. Wenn du so weiter schreist. … Und wisch dir endlich diesen Dreck aus deinen Augen. Und diesen Rotz. Wer soll denn so ein Kind wie dich noch mögen. Schau dich nur an! Wie du nur wieder ausschaust!

Ich war nicht einmal mehr was wert für meine eignen Augen. Ich war nichts wert und konnte daran auch nichts ändern. Ich bin nichts wert und war auch dafür noch verantwortlich. Ich war nur Dreck in meinen und in ihren Augen. Ich war nichts wert, aus Schlechtigkeit, Verderbtheit und Verdorbenheit; Verkommenheit.

Ich träumte gestern Nacht von meiner linken Hand. Von meiner kleinen linken Hand, die ich niemandem nahe bringen konnte. Mit der ich ihr Gesicht und Mutters Haare fangen wollte. Die kleine linke Kinderhand, die meine Eltern nur beschuldigt hatten, als wäre darin Schlechtigkeit und ich damit gefangen.

Jetzt merke ich, wie früh ich anfing mich zu hassen. Und dass ich nichts dagegen tun konnte. Weil nur der Hass berechtigt war und niemals Wut und Trauer gegen meine schlechten und verkommenen Eltern. Ich schämte mich, und meine Eltern kamen ohne Schämen aus. Selbsthass stumm zu ertragen, das brachten sie mir bei. Tränenkanäle trocken legen. Die Wege zu sich selbst verwüsten. Die Trauer und die Wut verwerfen und sich selbst verwehren.

Meine Mutter arbeitete im Laden. Sie war zu beschäftigt, um mich zu erziehen“, sagte sie, wobei sie nach jedem Satz etwas atemlos eine Pause machte. „Ich wurde von unserer schwarzen Haushälterin erzogen. Sie war auch die Köchin. Ich nannte sie Mammy. Ich weiß, dass es sich damals nicht gehörte, jemanden Mammy zu nennen, aber es war mir ernst damit. Sie war für mich wie eine Mutter, meine wichtigste Bezugsperson.“

Sollte meine Mutter jemals dagesessen und mich als Kind gehalten haben, so erinnere ich mich nicht daran, wohl aber erinnere ich mich an den Trost auf Mammys Schoß, hatte sie (Mary Ward Brown) in ihren Erinnerungen Fanning the Spark geschrieben. Obwohl sie klein von Wuchs war – ihr Herz war groß und wuchs nur immer noch mehr und konnte jeden Schmerz aufnehmen. Mammys Schoß roch nach Gingan-Stoff und einer verrauchten Hütte und wiegte sich sanft, wenn ich Tränen vergoss. Sie verstieß mich nicht mit falschem Trost, sondern war so lange da, wie sie gebraucht wurde. Sie war reiner Seelenfrieden.

Aus: Paul Theroux Tief im Süden

Warum ich wütend und verzweifelt war?!

Ich denke, dass die Fähigkeit zur Empathie angeboren ist, sie wird aber (fast) zerstört, wenn das Kind lernen muss, seine Gefühle und Bedürfnisse zu missachten und Grenzüberschreitungen zu tolerieren. Dann hat es keine Empathie mehr mit sich selbst. Doch diese ist die Voraussetzung der echten „Nächstenliebe“. Die Aufopferung aus Gehorsam und aus dem Bedürfnis nach Anerkennung, die mit Selbstverleugnung dahergeht, lebt nicht aus dieser natürlichen Empathie.

Alice Miller

Dass man die Empathie an sich und auch von anderen erwarten kann. Das habe ich gelernt. Dass man die Empathie von einem Kind verlangen kann. Das brachten mir die Eltern bei.

Ich schrie nach ihrer Zuneigung. Und später schrie ich in mir selbst danach. Ich schrie schließlich nach meiner eignen Zuneigung. Doch nicht aus Empathie, voll Selbsthass schrie ich mich und alle andern an. Die Mutter hatte mich so angeschrien, um mein Verständnis zu bekommen. Deswegen tat mir meine Leiste in der rechten Hüfte weh. Sie zog so sehr an meinem rechten Bein, um mein Geschrei aus mir herauszukriegen, auszureißen.

Sie wollte nichts mit meinem Schmerz zu tun haben.

Sie riss an meinem rechten Schenkel.

Und immer wieder meine Überlegung. Die Fehlersuche bei mir selbst. Was ist, was habe ich nur an mir; falsch gemacht. Aus Fehlersuche wurde Hass. Aus Selbsthass suchte ich nach Fehlern für die Schmerzen.

Wie ihre bösen Augen leuchten. Sie drückt mich in den rechten Oberschenkel. Sie tat mir immer wieder damit weh. Damit ich aufhören würde so zu strampeln.

Jetzt drückt sie wieder zu.

Jetzt hör zu strampeln und zu schreien auf.

Ihr Drücken tat mir immer weh.

Jetzt hör endlich mit deinem Schreien auf.

Jetzt hoit endlich dei Mei!

Ihr Dialekt! Jetzt ist es wirklich ganz die Mutter.

Wer Empathie besitzt, sucht nicht nach Schuld und Fehlern. Aus Unschuld sucht man nicht nach Schuld und Sünde. Weder bei sich, noch bei den andern. Der Selbsthass aber tut das endlos, und ohne Unterbrechung. Aus Selbsthass kommt ein Kind nicht mehr zur Ruhe. Die Tränenflüsse waren ausgetrocknet. Mit blinder Wut, so wie mit Kalk gelöscht. Bis nur mehr Neid und Missgunst darauf wuchsen.

Ich musste mich für meine Tränen schämen. Für meine Empathie. Ich nahm mich davor dann in Acht. Ich musste mich vor meinen Tränen fürchten.

Nimm dich in Acht!

Und freu dich nicht zu früh!

Und sieh dich vor!

Das waren immer wieder ihre Worte. Dass ich mich selbst vor Freudentränen fürchten sollte, wird mir jetzt endlich klar.

Da ich den damals Gambetti gegenüber mit der größten Abneigung gegen die Betroffenen ausgesprochenen Satz, Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen, jetzt ziemlich laut und geradezu mit einem theatralischen Effekt wiederholte, so, als sei ich ein Schauspieler, der den Satz zu proben hat, weil er ihn vor einem größeren öffentlichen Auditorium vorzutragen hat, entschärfte ich ihn augenblicklich. Er war auf einmal nicht mehr vernichtend. Aber ich kann die Meinigen ja nicht, weil ich es will, abschaffen, hatte sich jedoch bald wieder in den Vordergrund gedrängt und beherrschte mich. Ich bemühte mich, ihn zum Verstummen zu bringen, aber er ließ sich nicht abwürgen. Ich sagte ihn nicht nur, ich plapperte ihn mehrere Male vor mich hin, um ihn lächerlich zu machen, aber er war nach meinen Versuchen, ihn abzuwürgen und lächerlich zu machen, nur noch bedrohlicher. Er hatte auf einmal das Gewicht, das noch kein Satz von mir gehabt hat. Mit diesem Satz kannst du es nicht aufnehmen, sagte ich mir, mit diesem Satz wirst du leben müssen. Diese Feststellung führte urplötzlich zu einer Beruhigung meiner Situation.

Thomas Bernhard Auslöschung Ein Zerfall

Es blieb nur Schadenfreude übrig. Mein Neid und meine Missgunst kam daher. Die Schadenfreude war die Mutter der Empfindung.

Jetzt hast du dir schon wieder weh getan. Ich hab dir das doch gleich gesagt. Doch wer, wie du, nicht hören will, muss eben fühlen lernen. Denn wer nicht hören will, muss unter Schmerzen lernen.

Nur Schadenfreude war noch möglich. Wie meine Mutter und mein Vater lächelten, wenn ich hinfiel. Ich dachte immer nur, das wär gespielt und überspielt gewesen. Doch wenn ich das aus meiner Sicht, von meiner Stellung heute aus betrachte, bleibt immer da ihr Hohn und Spott.

So schadenfroh wie meine Eltern waren, so war ich später auch. So schadenfroh, versteckte sich mein Unglück hinter Spott. Und meine Kinderwirklichkeit verschwand. Die Schadenfreude war das einzige Gefühl mit dem ich mir Gerechtigkeit vortäuschen und vorspiegeln hatte können.