Texte von Hugo Rupp

Suche nach Empathie

 

AM: Wenn die Leute hören, wie Sie über „Kindesmissbrauch“ sprechen, können sie sich davon distanzieren und ganz entspannt bleiben. Sie meinen nämlich, dass sie selbst nicht missbraucht worden sind (natürlich nicht!), und denken daher, dass man über „andere“ spricht, aber nicht über sie. Wenn Sie aber das Thema Prügelstrafe anschneiden, so können sie nicht länger ignorieren, dass sie sehr wohl bestraft worden sind (selbst wenn sie diese Strafe nur als harmlosen Klaps bezeichnen) – und zwar jeder einzelne von ihnen, und dass es schmerzhaft war. Daher meiden sie lieber die Erinnerung an die Schläge und werden sich auch kaum bemühen, dieses Thema gemeinsam mit Ihnen offenzulegen. Sie meiden den Schmerz. Können Sie mir bei diesem Gedankengang folgen?

Aus Leserpost: corporal punishment Saturday April 15, 2006 © 2016 Alice Miller – all rights reserved. (Übersetzung: Sebastian Krause)

Wie er schreit. Immer wieder schimpft, flucht. Immer wieder fängt er damit an. Immer wieder fängt er an zu streiten. Das und das soll ich gemacht haben. Immer wieder. Fängt zu schreien und zu toben an und zu schwitzen und sich aufzuregen. Wie es aussieht in mir mit dem Vater.

Was schreist du so!? Schimpfst wie ein Rohrspatz, sagt er und lächelt.

Wie ein kleines Tier schimpf ich, und Vater lächelt, und die Mutter schüttelt ihren Kopf, und später weiß im Grunde niemand, was ich will, wenn ich von meinem Vater etwa sage, dass er geschimpft hat Tag und Nacht. Für Vater waren Vögel nur Gesindel. Wie alles, das sich nicht nach seinem Rhythmus, seinem Willen richten wollte.

Wie mein Zittern, wenn dann seine Augen mit den Worten mich im Sitzen trafen. Wie er mich erschreckte. Wie ich später schrie.

Was schaust du denn so blöd!? Was hab ich denn getan. Fängst du jetzt schon zu weinen an, wenn ich nur mit dir spreche!

245. Wie kann ich denn mit der Sprache noch zwischen die Schmerzäußerung und den Schmerz treten wollen?

Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, ff.

Keine Fehler machen. Keine Fehler dulden. Körper täuschen.

Mach jetzt keinen Fehler!

Mach jetzt nur ja keinen Fehler!

Mach jetzt keinen Fehler.

Ich will jetzt nichts mehr von dir hören!

Und geh mir gefälligst aus dem Weg!

So rede ich in mir!

Der Apfel, meine Schwester am Ersticken. Vater dann am Abend. Mutter und die Schwester seh ich. Mein Körper hatte eine solche Angst, dass ich das gar nicht sagen kann. Was das bedeutet hat, auf der Kante meines Bettes zu sitzen. Wie ich gewartet habe, dass Mutter mit der toten Schwester kommt.

246. Inwiefern sind nun meine Empfindungen privat? – Nun, nur ich kann wissen, ob ich wirklich Schmerzen habe; der Andere kann es nur vermuten. – Das ist in einer Weise falsch, in einer andern unsinnig. Wenn wir das Wort »wissen« gebrauchen, wie es normalerweise gebraucht wird (und wie sollen wir es denn gebrauchen!), dann wissen es Andre sehr häufig, wenn ich Schmerzen habe. – Ja, aber doch nicht mit der Sicherheit, mit der ich selbst es weiß! – Von mir kann man überhaupt nicht sagen (außer etwa im Spaß), ich wisse, daß ich Schmerzen habe. Was soll es denn heißen – außer etwa, daß ich Schmerzen habe?

Man kann nicht sagen, die Andern lernen meine Empfindung nur durch mein Benehmen, – denn von mir kann man nicht sagen, ich lernte sie. Ich habe sie. Das ist richtig: es hat Sinn, von Andern zu sagen, sie seien im Zweifel darüber, ob ich Schmerzen habe; aber nicht, es von mir selbst zu sagen.

Als Martin S., ein Freund aus der Kindheit, zu mir im Traum kam, um mir vor seinem Sterben noch was vorzuweinen. Nicht vorweinen, dachte ich. Jetzt nur nicht weinen. Nicht weinen. Jetzt nur ja nicht weinen.

247. »Nur du kannst wissen, ob du die Absicht hattest.« Das könnte man jemandem sagen, wenn man ihm die Bedeutung des Wortes »Absicht« erklärt. Es heißt dann nämlich: so gebrauchen wir es.

(Und »wissen« heißt hier, daß der Ausdruck der Ungewißheit sinnlos ist.)

Verletzt war meine Schwester, Mutter, und ich selbst. Doch Vater konnte davon gar nichts wissen.

248. Der Satz »Empfindungen sind privat« ist vergleichbar dem: »Patience spielt man allein.«

Ich hielt mich selbst nicht länger aus mit der Verletzlichkeit. Mit meiner Angst.

249. Sind wir vielleicht voreilig in der Annahme, daß das Lächeln des Säuglings nicht Verstellung ist? – Und auf welcher Erfahrung beruht unsre Annahme?

(Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andre.)

Nur ja nicht mehr verletzbar sein. Nur ja nie mehr verletzt vor meinem Vater schauen und erscheinen. Nur ja nicht mehr verletzbar sein zu müssen, hab ich in mir gehofft. Ich hab mir so gewünscht, nicht mehr verletzbar sein zu müssen.

Ich will heute nichts mehr von dir sehen und hören müssen!

Dabei hab ich die ganze Zeit über nicht einen Ton gesagt.

So wie mein Vater mich als Geist besprach, hab ich dann später auch gesprochen. Voller Verachtung und Empörung über Verletzung und Empfindlichkeit. Ich wusste nie wohin das ging, die Reden in mir selbst, die ich doch unaufhörlich führte. Anklageschriften. Predigten. Als müsste ich ganz allgemein was aus der Welt schaffen; und wusste nicht wieso?

250. Warum kann ein Hund nicht Schmerzen heucheln? Ist er zu ehrlich? Könnte man einen Hund Schmerzen heucheln lehren? Man kann ihm vielleicht beibringen, bei bestimmten Gelegenheiten wie im Schmerz aufzuheulen, ohne daß er Schmerzen hat. Aber zum eigentlichen Heucheln fehlte diesem Benehmen noch immer die richtige Umgebung.

Wie meine Mutter nicht zu sein, fiel mir nicht schwer. Nicht wie mein Vater sein, nicht so erbarmungslos, herablassend, verachtend, gnadenlos und ohne Mitgefühl, cholerisch, hasserfüllt, abschätzig und verurteilend, nicht so zu sein, war für mich schier unmöglich.

Als ich ihm mit zwei Jahren weglief und zum Berg vor Omas Haus rannte. Jetzt kommen wieder Vaters Schläge auf mich zu. Mein Hut fliegt weg, mein Schock und immer wieder nur so weiter und sein Opfer sein.

Ich spürte dieses Gefühl von Beklemmung, das mich oft nachts überfiel und noch stärker war als Angst – dieses Gefühl, fortan mir selbst überlassen zu sein, ohne jede Zuflucht.

Patrick Modiano Im Café der verlorenen Jugend

Als würde ich mich selbst mit der Verletzlichkeit nur stören und verstören können. Weil ich Verletzlichkeit als einen Vorwurf an mich selbst betrachten lernte. Auch wenn ich Angst hatte, und gar nichts dann passierte, und Vater sich darüber amüsierte. Wie ich mich selbst verhöhnen lernte für meine Angst. Wie ich mir meine Angst vorwarf und mich selbst dafür noch auslachte. Als müsste ich mich für mich selbst und meine Angst nur schämen, mich über die Verletzlichkeit und Angst so lustig machen wie mein Vater.

Wenn Fotografien von Gesichtsausdrücken gezeigt werden, sehen misshandelte Kinder häufig Wut, auch wo gar keine Wut ist. Vernachlässigte Kinder sehen oft auch gar nichts. Vielen von ihnen fehlt die grundlegende Fähigkeit, in Gesichtern zu lesen! Glücklich, traurig, wütend? Sie sind einfach nicht sicher, was ihnen ein Gesicht zu sagen hat. Natürlich geben diese Befunde einen Sinn. Wer hätte sie gelehrt, in einem Gesicht zu lesen? Die Mutter, die an ihnen nicht interessiert war? Der Vater, der nicht da war? Niemand war da, um ihnen beizubringen, wie man mit anderen Menschen interagiert.

Deborah Blum Die Entdeckung der Mutterliebe

Was suchte ich?

Ich werde dich nicht schlagen, sagt er. Du bist es mir nicht wert, dass ich mich an dir vergreife. Und hör gefälligst auf, mich immer nur so anzustarren.

Wenn er mich nicht schlägt, nur beschimpft, ermahnt, dann ist das kein Versehen und auch keine Gnade. Nichts rutscht ihm an Vergebung oder Gnade aus. Nur seine Hand, wie Mutter immer wieder sagt. Ich werde nicht von ihm geschont. Deswegen wollte ich dann später auch Versagen und Versehen nur bestrafen.

Ich selbst, der jede Empathie verachten lernte. Und hatte mir wie jedes Kind nichts sehnlicher gewünscht, dass man mich nicht daran gewöhnen würde.

Ich habe nicht gewusst, dass jemand nicht verletzt und eifersüchtig schauen kann auf die Beziehung unter Menschen. Dass man nicht neidisch sein muss auf die Liebe. Selbst auf der Suche nach der Liebe habe ich Gesichter nur verstanden, die wie meine Eltern schauen konnten. Nach Eifersucht und Neid und unterdrückter Wut hab ich gesucht. Nur Eifersucht und Neid auf jede Art von Empathie und jede Form von Liebe, hat mir mein Vater beigebracht. Selbst eifersüchtig sein auf die Verletzlichkeit, auf ein Bekenntnis für mich selbst als Kind.

Verantwortung / Wahl

Ich wollte irgendwann auf mich und keinen andern Rücksicht nehmen, selbst dann nicht, wenn ich es gekonnt hätte. Das schlimmste was ich von mir sagen kann und was mir dennoch Hoffnung gab, dass ich tatsächlich eine Möglichkeit, tatsächlich eine Wahl für mich noch fühlen hatte können. Wie Empathie versöhnlich wirkt, – die mich mit meiner unterdrückten Wut und meinem Schmerz, mit meiner Art Verletzlichkeit versöhnt, – die Vater immer nur verhöhnt hatte.