Texte von Hugo Rupp

Selbstverständnis

 

Ich werfe den ersten Stein. Den Schuldstein. Ich soll meine Eltern nicht beschuldigen. Sie tun aber nichts anderes, vom ersten Moment an, wie mich beschuldigen. Meine Äußerungen, meine Schmerzen, meine Laute, mein Schreien, meine Bewegungen. Nichts ist ohne ihre Schuldzuweisung. An allem bin ich schuld. An ihrer Schlaflosigkeit, an ihren Träumen, an ihrem Kummer, an ihren Schlägen, an allem. Ich soll sie nicht beschuldigen. Alle anderen kann ich ruhig beschuldigen, aber sie nicht. Wenn ich nicht schlafen will, oder kann, kommt der schwarze Mann, sagt sie. Ich soll schlafen. Sonst kommt er und wird mich holen. Meine Schuld, wenn ich nicht schlafe, wird er eben kommen. Pass auf, fall nicht hin, habe ich dir das nicht gesagt! Jetzt ist es soweit. Jetzt schreie ich. Wer nicht hören will, muss fühlen. Du brauchst dich nicht beschweren, habe ich dir das nicht gesagt. Gott ist gnadenlos. Vater ist gnadenlos. Mutter ist seine Braut und ist heilig. Aus ihrem Mund wachsen Blumen. Dem Vater geweiht. Den Herrscher zu kränzen, zu schmücken seine Taten. Ich bin schuld. Das Kind ist schuld. Der Junge ist selbst schuld. Ich bin selbst schuld an meinem Zustand. Schon immer schuld. Von Anfang an. Keine Schritte ohne Berichtigung. Berichtigung ist Beschuldigung der eignen Schritte, meines Spiels meines Körpers. Keine Ahnung habe ich von Schuld. Spüre nur, dass ich immer dann allein gelassen werde, wenn ich Schmerzen habe, wenn ich einsam bin, wenn ich nach den Menschen schreie, werde ich allein gelassen. Es gibt keinen Moment der Stille und des Tun ohne Schuld. Immer ist das Auge meines Gottes offen. Mein Vater sieht den Fehler, ohne Zweifel, immerfort. Meine Mutter ist der Engel, der den Schmerz verkündet, der den Fehler, den der Vater sieht, mit verkündet und erträgt, dass der Vater strafen muss und die Schuld erwirken. Vater, Gott, macht mich schuldig, dass ich seine Macht begreife, seine Fähigkeiten, mich zu finden überall. Mit der Schuld in meinem Sinn, hänge ich am Vater. Nur er kann mir meine Schuld vergeben, nur er kann mich reinwaschen, nur er kann mich von der Schuld erlösen. Ohne Schuld bin ich nie gewesen. Schreit denn der schon wieder? Ist schon wieder was? Was ist nur mit diesem Kind los? Keine Schritte ohne Vater. Keine Atmung ohne ihn. Keine Finger ohne Mutter. Nicht sie anlangen. Wenn sie sich die Nägel macht, darf ich sie nicht anfassen. Wenn sie ihre Haare macht, darf ich nicht nach ihren Haaren langen. Wenn ich sie anfasse, müssen meine Hände sauber sein. Frag mich doch, wenn du etwas willst! Frag mich und du wirst schon sehen.

Wenn ich einen, der die Schuld verteilt, schuldig sprechen will, was muss ich dann tun?

Finde einen, der die Schuld erkennt. Der die Schuld auch anerkennt!

Bin ich dann wie Vater?

Wenn du dich verteidigst?

Ist das verteidigen? Wehren gegen seine Anschuldigungen. Wehren gegen seine Worte?

Ja.

Das wusste ich als Kind nicht. Dass es das gibt. Keiner sagt etwas gegen Vater. Keiner!

Du kannst dich auch selbst finden und ihn selbst beschuldigen. Kannst auch sie beschuldigen.

So was tut man nicht, sagt sie.

Weil sie das nicht tut.

Wenn ich das getan hätte, hätte mich mein Vater tot geschlagen, sagt der Vater.

Vater droht immer mit dem Tod. Dass er hier mit seinem Tode droht. Sagt er doch zu mir. Dass ich ruhig bleiben soll, sonst muss Vater für mich sterben. Wenn ich jetzt nicht ruhig bin, muss mein Vater für mich sterben. Wenn ich nicht ruhig bleiben will. Reden ist den Vater sterben lassen. Vater widersprechen, ist den Vater seinem Vater ausliefern. Vater ist der Nachsichtige, dass er mich nicht tot schlägt, wenn ich ihn angreife. Vater ist der wirklich Unschuldige. Vater kann nicht schuldig sein. Vater ist im Namen seines Vaters unschuldig. Vater hat niemals seinem Vater widersprochen. Vater hat niemals Widerrede geübt. Ich soll ihn nachahmen, dann passiert auch mir nichts mehr. Keine Widerrede jetzt. Schluss damit. Schuld ist endlich installiert. Wer mich schuldig macht, macht mich zur Maschine. Schuldmaschine. Steh ich morgens auf, habe ich die Schuld bei mir. Rede mir nur einmal aus, dass ich keine Schuld anhabe. Habe keine Schuld. In der Haut ist Schuld. Deshalb sagen sie: aus der Haut fahren. Die Schuld ist die Haut. Ich bin mit der Schuld bekleidet. Wer die Schuld abstreifen will, wie die Schlange ihre Haut, muss sich häuten. Wer sich häutet, ist sich seiner Schuld bewusst. Wie schlau die Menschen sind, diese Erwachsenen, dass sie einem Tier, das sich häuten kann, Schuld zuweisen; größte Schuldverursacherin. Schlange. Wer sich wandeln und verwandeln will, ist sich seiner Schuld bewusst. Will die Schuld abstreifen. Will sich selbst verwandeln. Schuldig sein, schuldig fühlen, kennt die Schuld von innen her. War ich schon als kleinstes Kind beschuldigt? Ja. Immer schon. Immer schon beschuldigt. Keine Äußerung war gut genug um die Schuld auch zu vermeiden, um nicht zu beschuldigen. Lassen wir es gut sein. Lassen wir Gnade vor Recht ergehen, sagt er und sie und alle Schuldiger, Beschuldiger. Gnadenlose führen jetzt die Gnade ein, dass wir Kinder sie beknien, dass wir ihnen dankbar sind, dass wir ihnen huldigen, dass wir nicht beschuldigen, dass wir einmal nicht beschuldigt werden und bestraft. Schuldigkeit ist in jedem Stein. Jedes Tier ist schuldig für die Götter meiner Eltern. Jeder Dreck ist mit schuld an der Schuld. Jeder Fingernagel mehr wert als ein Kind. Jedes Fühlen ist mit Schuld beladen, jeder Schmerz mit Schuld. Jedes Achselzucken, Schulternheben, jede Geste meiner Abwehr, jeder Widerstand. Alles was ich tue, was mein Körper auch vermeidet, was ich auch vergessen will, ist mit ihrer Schuld befrachtet. Alles in mir ist mit Schuld versehen. Jeder Finger den ich hebe, meine Füße, die ich stelle. Meine Nase, wenn sie juckt, meine Ohren, wenn sie etwas hören, das sie doch nicht hören sollen. Meine Sinne sind beschmutzt, mit der Schuld der Eltern. Mund ist auch mit Schuld beschmiert, ungewaschenes Maul, sagt er, soll ich mir gefälligst waschen. Alles was ich sage, tue, ist mit Schuld versehen. In den kleinsten Dingen ist die Schuld. Auch in kleinen Kieseln. Wie der Gott in allen Dingen ist, sagt der eine und die andere. Wo Gott ist, scheint auch Schuld zu sein. Ist Gott schuld? An der Schöpfung und den Menschen? Ist er an der Sünde schuld? Oder etwa nicht? Wenn Gott/Vater tötet, ist er dann nicht schuldig? Weil er das darf? Weil er das darf. Darfst du dich nicht wehren? Nein. Warum. Weil er es so sagt. Wer hat Gott/Vater gesagt, was er sagen soll, was er tun soll, was er tun kann? Er selbst? Vater ist allwissend und allmächtig. Er ist mein Herrscher über mein Leben. Er kann mit mir tun und lassen was er will. Tun und unterlassen. Vater leistet keine Hilfe, wenn die Schuld eindeutig ist. Wenn ich selbst schuld bin, leistet Vater keine Hilfe. Selbst schuld ist das Kind, bin ich immer dann, wenn ich nicht das tue, was er einmal sagte, wenn dann was passiert, bin ich selber schuld und der Strafe, meinen Schmerzen ausgeliefert, selber Schuld, jetzt mit meinen Schmerzen ausgeliefert sein, nur den Schmerzen ausgeliefert, ohne einen Trost. Selber Schuld ist immer ausgeliefert sein. Wenn ich meine Schuld begreife, bin ich mir selbst ausgeliefert, mir und meinen Schmerzen. Meiner und der Schuld der anderen. Bin ich ausgeliefert. Keine Rettung vor den Schmerzen. Wenn ich Schmerzen fühle, ist es Schuld. Selber schuld, schließlich hätte ich doch auf mich hören müssen, sollen, sagen sie schon immer, habt ihr immer schon gesagt. Schuld und Schmerz ist in meiner kleinsten Kammer, ist in meinem Haus, ist in meinem Schrank, liegt auch zwischen alten Tüchern. Schuld ist überall verwahrt, wartet nur auf mich, dass ich mich erschrecke. Schreckt uns mit der Schuld, macht uns ein Gesicht, schneidet die Grimasse, eure Art Befriedigung, dass ich falle, falle, immer nur hinfalle, wenn ihr nicht da seid.

Weil ich doch ein Kind bin, kann ich nicht Gefahr erkennen. Kann das doch nicht wissen. Lernen kann ich nur mit fallen und mit einem Blick, der mich aufhebt in Gedanken, der mich nicht mit Schuld ansieht, wenn ich hingefallen bin, der mir keinen Vorwurf macht, der mich aufhebt und mich lässt. Der die Schuld nicht sieht.

Jener, der neben mir kniet und mich anschaut und mich fragt, ob ich Schmerzen habe und mir ansieht, dass ich erschrocken bin, und mir zeigt, dass er vor mir keine Angst hat, ist der erste, der meinen Schmerz ohne Schuld begreift. Dieser erste, ist mein Zeuge für die Unschuld. Dieser Kniefall bezeugt die Unschuld, die im Schmerz liegt. Dass derjenige, der meinen Schmerz empfindet, unschuldig ist. Dass jeder Schmerz unschuldig ist. Der Mann, der vor mir kniete und meinen Schmerz erkannte, nachdem ich von der Mauer gefallen war, bezeugte meine Unschuld. Dieser Zeuge, mein Lebensretter, kniete um zu helfen. Dieser Mann, bezeugte damit seine Unschuld, dass er einem Kind mit Schmerzen begegnen kann, ohne Schuld selbst zu zuweisen. Ohne Schuld im Blick. Dies war keine Geste, dies war kein Symbol, dies war eine Hilfe, die für mich die Schuld für den Augenblick der ersten Liebe in mein Herz einbrannte, dass ich immer noch, vierzig Jahre später, von der Tat ergriffen bin, dass mein rechtes Knie diese Tat begreift, die mir damals meine Seele rettete. Das Verständnis, das in jenem Augenblick bestand, für mich und mein Leid, war auch Rettung meiner Unschuld.

Ohne diesen Zeugen, wäre ich nicht auf den Gedanken gekommen, dass meine Äußerungen als Kind unschuldig gewesen sind, und dass die Schuld in mich erst von außen kam. Von außen ist sie in mich, mit dem Wort und dem Blick und den Taten, die dann folgten. Ohne diesen Zeugen hätte ich wahrscheinlich ewig denken und fühlen müssen, dass die Schuld immer schon in mir gewesen sei.

Wer ein Kind beschuldigt, hinterlässt in diesem Kind das gleiche Gift, das sein eignes Leben einst mit Schuld vergiftete.

Mein Tun durfte als Kind nie unschuldig sein. Nicht die kleinste Bewegung sollte unschuldig sein. Sie hatten an allem etwas auszusetzen. Ich hatte kein Körperteil, das in ihren Augen nicht schuldig gewesen wäre. Jede meiner Äußerungen war für meine Eltern schuldhaft, so beschaffen, dass eine Schuld automatisch daraus entstehen muss. Ich konnte als Kind nicht erkennen, dass ich nicht schuldhaft bin und nicht Schaden und Unheil bringe. Sie behandelten mich so, als wäre ich so beschaffen, dass mit mir, in allem was ich äußerte, Schuld inbegriffen sei. Mein Fühlen war, dass meine Existenz, mein Dasein selbst, mit Schuld versehen sei, dass ich nur schuldig sei, von Anfang an. Als wäre ich zur Unschuld gar nicht fähig. Sie behandelten mich als Unheil. Ich, der ich auf die Welt kam, sollte ihr Unheil sein und schuld an ihrem Leid. Ich sollte als Kind nur immer wieder mit meinen Eltern mitfühlen, für sie ein Mitleid haben, für sie und nie für mich. Die Schuld ist so vermessen, dass ich mich nicht sehen kann. Ich soll mich im Spiegel nicht erkennen. Ich soll immer nur die Eltern sehen, mit ihrem Vorwurf auf SICH selbst. Ich soll nichts vorwerfen, ich soll immer nur der Vorwurf sein. Ich soll mich versteinern, bei ihrem Anblick soll ich versteinern, weil ich in ihrem Blick doch immer nur den Vorwurf sehen muss, den Vorwurf meiner Schuld; geboren sein und schuldig Kind. Sie müssen mir die Schuld eintreiben und meine Unschuld aus der Seele löschen, damit sie niemals selbst erkennen können, woher die Schuld einst kam, woher sie stammt aus ihrer Seele. Sie blicken immer vorwärts und ich für sie zurück. Sie fordern schon von Anfang an, immer nur Abbitte, für eine Schuld, die niemals in mir war.

Was hätten wir denn tun sollen?

Wir haben nichts gewusst!, sagt sie.

Ich musste auch Verständnis haben wollen lernen. Das spürte ich bisher noch nicht. Es treibt mir Kohlen in die Augen und meine Backen glühen. Es macht aus mir den Schneemann, der erfrieren will, der nur mehr frieren will, um nicht zu wissen, wie aussichtslos und qualvoll alles war, gewesen ist, mich zu verständigen, mich und mein Kinderleid verständlich machen. Sie wollten immer nur Verständnis für sich selbst. Ich wollte immer nur Verständnis für mich selbst, das habe ich gelernt. Sich selbst verständigen. Ihr Selbstverständnis lernte ich, vollkommen ohne Zugeständnis, vollkommen ohne Mitgefühl für einen Anderen. Sie wollten mein Verständnis, das heißt, ich sollte meine Wut und meinen Zorn aufgeben. Dass ich für ihr Verständnis meine Wut aufgebe, den Zorn, die Weißglut, die ich fühle, weil niemand mich begreifen kann. Sie will, dass ich aufgebe, weil niemand mich begreifen will. Sie will, dass ich begreife, das was sie sagt, und was der Vater tut, selbst unbegreiflich bleibt. Ich soll, wie sie mir, unbegreiflich bleiben und ohne eigene Gefühle. So wurde Zorn und Wut erstickt.

Doch ohne meine Wut und meinen Zorn, muss ich mir unbegreiflich und auch unverständlich bleiben. Sie nahmen mir die Wut, den Zorn, und damit mein Verständnis für mich selbst.

Nur Zorn und Wut bringt mich zu mir zurück; jetzt ohne Schuld und Eingeständnis.