Texte von Hugo Rupp

Selbstbestimmung

 

Sind wir vielleicht voreilig in der Annahme, daß das Lächeln des Säuglings nicht Verstellung ist?-Und auf welcher Erfahrung beruht unsre Annahme?

(Das Lügen ist ein Sprachspiel, das gelernt sein will, wie jedes andre.)

Warum kann ein Hund nicht Schmerzen heucheln? Ist er zu ehrlich?

Aus: Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen

Ich messe und das Messen ist sehr schwierig, weil ich immer wieder zu einem anderen und neuen Ergebnis komme, und das macht mich fertig und dass ich immer wieder nachmesse. Immer kommt ein anderes Ergebnis heraus. Ich lege mir zwei Latten hin und messe und beim nächsten Mal kommt wieder ein anderes Ergebnis heraus und deswegen messe ich ja nach. Dabei bin ich der einzige, der nachmisst. Mein Vater misst nie nach. Der legt seinen Meterstab hin, sagt so und so, und dabei bleibt es dann, und ich versuche von Anfang an, auf ein anderes Ergebnis zu kommen, obwohl ich gar nicht weiß, ob es ein richtiges Ergebnis überhaupt gibt.

Merkst du nicht, wie sich dein Vater mit dir plagt!? Damit aus dir mal etwas werden kann! Was deinem Vater wirklich Sorgen macht, wenn du nicht zuhörst und nicht richtig lernen willst, was er dir zeigt und immer wieder beibringt. Denn er versucht dir nur zu helfen. Dir soll es einmal besser gehen. Versteh das doch endlich!?

Die alten Schmerzen. Dass mir die linke Seite weh tut, wenn ich renne, und in der Leiste, wie das zieht. Wenn ich versuche, richtig zu laufen. Wenn ich das nur versuche. Als würde etwas falsch sein können, wenn ich mich so bewege.

Geschüttelt von den Fieberträumen, die meine Not ernst nahmen.

Ich schaute in die Wand, am nächsten Tag. Am Morgen nach den heißen Träumen und den Krämpfen, war ich nun wieder klar. Doch war da eine Einsamkeit und Traurigkeit in mir, die ich nicht mehr verstand.

Als Vater voller Schmerzen lag mit einem Blinddarmdurchbruch und voller Schweiß, und meine Mutter bei ihm war, ging ich zu ihm. Ich kam und wollte in der Nähe sein und in der Nähe bleiben und ihm helfen, da haben sie mich weggeschickt, da war ich neuneinhalb.

Mein Vater kam nie an mein Bett. Er kam nicht, als ich fiebrig war und schwitzte, schwitzte, nur noch mehr schwitzte. Ich badete in Schweiß und phantasierte von den nassen Schlangen.

Als ich in Schweiß gebadet war, da blieb mein Vater fern. Er schaute nicht nach mir. Er fragte nicht mal nach.

Wie oft hab ich den Vater liegen sehen? Ich habe ihn auf seinem Sterbebett gesehen, nur einmal noch vor seinem Tod. Wie oft hab ich den Vater liegen sehen, auf seiner Couch, nach seinem Mittagsschlaf?

Ich kann im Traum nicht schlafen gehen, dabei bin ich so müde.

Der Junge, tot im offenen Sarg, im Leichenschauhaus, den ich allein besucht habe, das war nach Vaters Blinddarmdurchbruch. Der keine Schönheit war, wie Mutter später sagte.

So tritt man seinem Schöpfer doch nicht gegenüber! Man macht ein fröhliches Gesicht, wenn man den Herrgott trifft.

Was ich vergessen habe, nachdem ich so erschrocken war vom Angesicht des toten Jungen. Der schrie voll Zorn. Das eine Auge offen und das andere geschlossen, der Mund, ein Loch, das schier unendlich war und schrie, noch stumm, als wäre Sturm und Blitz und Donner und ein Fluch aus diesem Mund gestiegen und immer noch im Raum anwesend.

Man schaut nicht zornig, wenn der Vater kommt, sagt meine Mutter. Mach doch ein freundliches Gesicht, sagt sie, wenn wir beim Abendessen sitzen und auf den Vater warten.

Die Mutter und der Vater; ich.

Gefangen sein, Gefangenschaft, und stets verfügbar sein zu müssen, für meine Eltern.

Gefangen sein, ohne zu wissen, was das heißt, gefangen sein und festgehalten werden. Ohne Bewusstsein sein, nur ohnmächtig zu bleiben müssen, in der Gefangenschaft. Und ohne Hoffnung sein, bewusstlos ohne Hoffnung sein zu müssen. So ist das ohne Zorn.

Und noch früher?

Ich tobte und ich freute mich, ich strampelte, ich schlug mit meinen Beinen aus, wie Schwimmer auf dem Trockenen, wie frisch geschlüpfte Schildkröten sich ihrem Element, dem Wasser nähern, nähern, nähern, so schnell wie möglich schwimmen und lebendig fühlen, so schlug ich einst auf meinen Vater an, wenn er nach Hause kam. Ich wollte doch wie jedes Kind, das sich nach einem Menschen sehnt, von diesem Menschen auch gerettet werden. Ich wollte doch in Wirklichkeit gerettet werden. Ich wollte nicht mit meiner Sehnsucht nur vertröstet und vertrieben werden. Ich wollte doch nicht immerzu nur innerlich wegrennen müssen.

Jetzt fängt der Junge wieder an zu trenzen. Hab ich es nicht gesagt!? So wird er ohne Trenzen nie zu Bett gehen. Er wird mir wieder nicht einschlafen. Hab ich es nicht gesagt!

Mein Vater lachte dann.

Jetzt will er wieder nicht ins Bett!

Sie war die Besserwisserin, die mich dann später immer wieder mit dem Wort, der Besserwisserei, beschämte.

Sie wollte alles ganz genau von meinem Vater wissen, wenn er nach Hause kam. Woher er kam, wo er gewesen war, wo er sich aufgehalten hatte, was los gewesen war. Sie führte ein Verhör. Sie fragte meinen Vater aus, während wir beide spielen wollten, wollte die Mutter nur etwas von ihm.

Es ging darum, dass sie der Mittelpunkt der Unterhaltung war und niemand sonst. Das lernte ich. Der Mittelpunkt der Unterhaltung sein zu müssen.

Dass Vater nie etwas davon verstand und nie etwas zu meiner Mutter sagte; wie nichtssagend er für uns war. Ich habe dann jahrzehntelang etwas von anderen erwartet, was mir mein Vater niemals gab, die Stimme gegen meine Mutter.

Stumm bleiben und stillschweigen, und lächeln war Betrug; Verrat an meiner Liebe.

Für mich war jede Stimme lebenswichtig, die nicht von meiner Mutter kam. Für mich war jede Unterhaltung lebensnotwendig. Mit meiner Mutter konnte ich nicht reden. Ohne die Stimme meines Vaters, ohne die Laute irgendwelcher Vögel, ohne die Stimme eines anderen Wesens, hätte ich nicht überlebt. Nur mit der Stimme meiner Mutter, die unablässig in mich Angst pumpte und meinen Zorn, als Reaktion, nicht haben wollte, ohne die Stimme meines Zorns und ohne eine andere, wenigstens anfänglich noch aufrichtige, wäre ich abgetaucht und niemals wieder für mich selbst erschienen. Ich hätte den Verstand, allein mit meiner Mutter, schließlich ganz verloren; und wäre dann, die eigne Stimme unaufhörlich repetierend, im eigenen Gebet, am eignen Mittelpunk, an meiner eignen kalten Stimme, letztendlich ganz erfroren.

Das Ideal, in unsern Gedanken, sitzt unverrückbar fest. Du kannst nicht aus ihm heraustreten. Du mußt immer wieder zurück. Es gibt gar kein Draußen; draußen fehlt die Lebensluft. – Woher dies? Die Idee sitzt gleichsam als Brille auf unsrer Nase, und was wir ansehen, sehen wir durch sie. Wir kommen gar nicht auf den Gedanken, sie abzunehmen.

Ludwig Wittgenstein, §103, Philosophische Untersuchungen

Und plötzlich weiß ich, was ich als kleines Kind nicht konnte. Was kein Kind von Geburt an kann. Ich konnte meine Eltern nicht belügen. Das hat mit Mut gar nichts zu tun. Ich konnte meine Not gar nicht verbergen. Ich wurde wütend. Jetzt wird mir endlich klar, was Eltern einem Kind beibringen, wenn sie die Wut und Zorn fortwährend unterbinden und bestrafen.

Sie brachten mir das Lügen bei, mich in der Not dann später selbst zu belügen.

Das ist doch nicht der Rede wert.

Dagegen ist kein Kraut gewachsen.

Dagegen kann man gar nichts tun.

Lügen, die meinen Zorn und schließlich meine Liebe für mich selbst gekostet haben. Notlügen.

Ich wollte über meine Not jemanden informieren, gerade weil ich meine Not noch so empfand. Und deshalb wurde ich bestraft, weil ich nicht wie die Mutter lügen konnte. Ich wurde für mein wahres Empfinden also bestraft. Womit wir alle auf die Welt gekommen sind, mit dem Instinkt, Realität für wahr und ernst zu nehmen. Der Zorn des kleinen Kindes nimmt Schmerzen wahr.

Wie schrecklich und wie grausam das doch ist, in einem Klima der Gewalt und Unterdrückung aufzuwachsen und Wut und Zorn zurückzuhalten müssen. Wenn alles nach Verwesung stinkt. Wenn es nach Feuer riecht und Brand. Wenn es aus allen Mündern, aus der Küche, aus dem letzten Winkel plärrt und schreit, und Flüche und Verwünschungen auf einen einstürmen, dann sollte ich als Kind nur ruhig und gelassen sein und freundlich dazu lächeln. Als alles um mich nur nach Lüge stank und nach Gewalt, sollte ich meine Eltern ehren, lieben und ihnen dafür dankbar sein. Meine Realität empfinden, konnte ich nicht, da meine Eltern meinen Zorn und meine Wut nie ernst nahmen.

Ein Kind, das ohne seinen Zorn auskommen muss, sucht fortwährend, verzweifelt nach der Selbstbestimmung. Mich unentwegt behaupten, das tat ich und das musste ich auch tun, doch immer gegen andere. Nie für mich selbst.

Da ist der Zwang zur Selbstbehauptung. Und dahinter versteckte sich die Wut; mein Zorn.

Der Zwang, nichts anderes als Sucht, stellt die Begrenzung der Gefühle dar; als eine eigne Art von Abgrenzung.

Die gnadenlose Selbstbehauptung meiner Mutter. Das lernte ich behaupten und ertragen. Mein Vater widerstand dem Irrsinn meiner Mutter nicht. Gegen den Irrsinn meiner frühen Mutter, war selbst mein Vater schutzlos, machtlos, wehrlos. So dachte ich, weil ich es so erlebt hatte. Mein Opfervater, der nichts gegen Mutter ausrichten hatte können.

Er kann mir gar nicht helfen, dachte ich. Wenn Vater das nicht kann, dann kann das niemand wirklich. Wehrlos die Selbstbehauptung meiner Mutter schlucken müssen. Mein Vater tat mir schließlich leid. Ich war auf seiner schwachen Seite. Deshalb ließ ich die Liebe für ihn am Leben. Ich konnte meinen Vater nicht verloren geben. Er war doch buchstäblich mein erster Zeuge; für mich und eine Zärtlichkeit. Dabei war seine Macht und seine Herrlichkeit von Anfang an Betrug. Mein Vater war ein feiger Mann. Denn meine Mutter konnte sich stets, mit ihrer Angst und ihrem Irrsinn, gegen ihn behaupten. Er kämpfte nicht um mich.

Die größte Hass von meiner Mutter fiel auf mich, wenn ich mich ohne sie wohlfühlte. Wenn ich mich ohne sie wohlfühlen konnte. Als ich mich ohne sie wohlfühlen wollte.

Deswegen also floh ich später immer dann, wenn ich mich wohlfühlte. Ich wusste nie, warum ich es nicht aushielt, warum ich mitten in der Nacht, aus heitrem Himmel floh; nach Hause rannte, wegging, noch irgendwohin anders fahren wollte; musste. Ich wusste nicht, dass ich stets in der Nähe anderer, Angst davor hatte, sie würden mich doch wieder hassen, wenn ich mich wohlfühlte, wenn ich mich amüsierte. Wenn ich mich wohlfühlte, wenn ich jemandem näher kam. Besonders dann, als ich mich noch verlieben konnte, floh ich, für mich und andere vollkommen unverständlich; so finster war die Welt in mir.

Als würde ich nicht selbst bestimmen können, was mir gefällt, was mir missfällt, wie gut, wie schlecht, wie gleichgültig ich mich auch immer fühlte. Ich war nicht selbstbestimmt. Ich imitierte unaufhörlich andere, die sich selbst unentwegt behaupten mussten; und so, wie ich, auch gar nichts davon wussten, weil sie, wie ich, gar keine Liebe von zuhause mitbekommen hatten.

AM: Sie schreiben: Wissen Sie, ich habe das Gefühl, wenn ich die Wunschvorstellung vom beschützenden Vater aufgebe, dann sterbe ich. Damit drücken Sie genau das Gefühl des Kindes aus, die Furcht des Kindes, dass es sterben würde ohne die „Liebe“ des Vaters. Sie haben so an diese Liebe geglaubt, dass Sie sie sich einverleibt haben. Doch heute fangen Sie an zu entdecken, dass das keine Liebe war, sondern ein Betrug, an den Sie glauben mussten, um neben Ihrer Mutter nicht zu verhungern. Der ständige Wechsel hat Sie ja total verwirrt, Sie mussten ihn in Kauf nehmen, weil sonst niemand für Sie da war. Heute brauchen Sie weder die Verwirrung noch die Grausamkeit Ihres Vaters zu lieben, Sie sind frei, das zu hassen, was Ihnen hassenswert erscheint. Sie brauchen nur Ihre Wahrheit, um nicht zu sterben, um frei zu sein, um sich wirklich lebendig zu fühlen. Ich wünsche Ihnen den Mut, den Sie brauchen, um die Liebe des Kindes loszulassen und sich erlauben zu sehen, wie sehr Sie am Verhalten Ihres Vaters gelitten haben.

Alice Miller, Antwort auf: Leserbrief
 Donnerstag 25 September 2007

Verscheuchen und davonjagen, so wie die Mutter das, mit mir und meiner Liebe, von Anfang an getan hatte. Jetzt wird mir endlich klar, wie zornig und wie wütend ich auf meinen Vater war, wie zornig und wie wütend ich auf meine Mutter bin. Jetzt aber frisst die Angst vor ihr, nicht mehr meine Seele auf. Durch meinen Zorn begreife und bestimme ich erstmals genau, was Nähe und was Wünsche sind; für mich.