Texte von Hugo Rupp

Rekapitulieren

 

Ich sollte mich was schämen, nur wegen diesem Kratzer so zu weinen, ich sollte mich was schämen. Da sei doch nichts, das könne jeder sehen, da sei doch überhaupt nichts hier zu sehen. Sie sehe nichts, das sagte meine Mutter. Sie würde überhaupt nichts sehen. Was ich denn haben würde, sagte auch mein Vater. Was würde ich denn jetzt schon wieder haben? Da sei doch nichts! Da sei doch überhaupt jetzt nichts zu sehen. Sie übersahen mich und überhörten mich. Sie lachte mich auch dafür aus. Für meine Schmerzenslaute bekam ich ihr Auslachen. Das gaben sie mir ohne Umschweife. Sie werteten mich ab. Sie werteten mich als geringschätzig. Viel, viel zu wenig und gering, sei meine Sache, da würden ja die Hühner lachen. Die Hühner lachen schon, wenn sie dich näher kommen sehen, mit jedem Dreck kommst du zu uns. Weiß Gott, ich kann mir schlimmeres vorstellen, sagt Vater, schüttelt seinen Kopf und lächelt. Weiß Gott, gibt es was schlimmeres. Wenn ich bei meinem Vater, Gott hab ihn selig, so geschrien hätte, sagt er und schüttelt seinen Kopf. Dann schaut er weg. Ich bin nicht leidenswürdig, das bin ich nicht, er schaut mich dafür nicht mehr an, wenn ich mit meinen Dingen, Sachen, wie er sagt, ankomme, wenn ich deswegen zu ihm angelaufen komme, von meiner Mutter weg und dann zu ihm, dann schaut sie wieder böse, wenn ich zu ihr nicht mehr hin laufe. Das tue ich nicht mehr. Zu ihr nicht mehr. Das kann ich längst vergessen, dass dort etwas geschehen wird. Da kommt nichts her. Dass ich gar keinen Trost empfangen habe, das wusste ich als Kind nicht wirklich. Dass sie mich jedes Mal mit meinen Schmerzen wegschickte, das konnte ich einordnen, deswegen ging ich nicht mehr hin. Stattdessen laufe ich, seitdem ich laufen kann zu meinem Vater, nur einmal noch, da fasste ich die Beine meiner Mutter an, das war ihr sofort unbeschreiblich peinlich, weil da noch jemand anders war, die Nonne, Schwester, die nicht einmal mit einer Wimper zuckte bei ihrem Vorschlag, mich einfach wegzuschicken in ein Sanatorium, allein, und ohne einen Funken Herz, mich doch allein dort hinzuschicken, wenn das doch nötig werden würde, wenn sich herausstellen sollte, dass ich tatsächlich positiv lungentuberkulös wäre. Da fasste ich die Mutter an und wusste vorher, dass sie das überhaupt nicht mögen würde, so ein Geschrei hier anzustellen und noch dazu vor einer Fremden, da müsse sich doch jeder schämen wegen mir, und ausgerechnet auch noch hier. Sie wertete die Not als etwas Scham bedürftiges, dass sich wer etwas schämen soll, der eine Sehnsucht zeigt und ein Bedürfnis auch, als Wunsch nach Hilfe. Dass Trost nie von ihr kam, das konnte ich nicht wissen. Ich suchte danach, fand aber keinen. Ich sollte sie niemals berühren und sie berührte mich auch nicht. Nur notfalls mit dem Waschlappen, wenn sie mich wusch. Nur mit dem Lappen in der Hand und mit dem Tuch an meiner Nase, Mund, niemals mit ihrer blanken Hand, sie fand Berührung ekelhaft. Ich schämte mich so sehr, als ich dann ihre Augen sah, wie sie mich abschätzten. Sie ekelte sich sehr vor mir.

Und so entwertete ich später Leid und Schmerzen, die Äußerungen eines anderen, als etwas unnötiges, als Ausdruck tiefer Scham, als Zeichen eines Schambekenntnisses, als Ausdruck Scham und Schuld. Dass wer sich leidend zeigen würde, schon gleich verdammt gehört, nur gleich schon weggeschickt um sich allein zu schämen, zu schämen, wenn er das wirklich wollte.

Du solltest dich was schämen, nur wegen diesem Zeug hier anzukommen. Wenn ich wegen jedem Scheiß bei meinen Eltern angekommen wäre, dann hätten sie mich weggegeben. Nur wegen diesem Kratzer hier. Was soll denn das? Bist du so klein, dass du deswegen einen Aufstand machen musst?

Und unbedeutend denke ich, zu unbedeutend war mein Leid. Ich hasste mich dafür. Wie ich dann später alle Leiden hasste. Wie ich die Leiden hasste. Die Krankenhäuser und die darin lagen, die Kranken, alles nur Versager. Die sollten sich was schämen, Trottel! Die Toten hatten wenigstens Respekt. Die schummelten nicht mit dem Leiden. Die kamen nicht mehr an mit jedem Dreck. Die hielten ihre Schnauze; still.

Ich wusste nie, dass ich verraten wurde mit dem Schmerzen zeigen, dass jemand, der ein Kind nicht leiden lässt, ihm seine Schmerzen nicht zugeben lässt, dass jemand, der mich zwingt, das alles nur zu schlucken, dass der mich auch zutiefst verrät, weil er mein Leiden nicht mal sehen will, dass der mich auch verraten kann, wann immer der das möchte. Dass mich als Kind jemand zutiefst verrät, dem ich vertraue, zu dem ich angelaufen kam, zu dem ich lief und rannte, raste, weil ich mich nach ihm sehnte, dass der mich doch verraten hat, wenn ich mit meinem Schmerz ankam. Dass das die Welt in Stücke haut, die Welt eines Vertrauens, wenn ich Gefühl nicht zeigen kann, wenn ich doch wirklich welches habe. Dass mich der immer nur verrät, der mich nicht fühlen sehen kann, der mich doch immer nur verrät als Kind, dem ich mich einfach zeige, egal wie ich auch bin, wenn der mich damit aber nur wegschickt, dass mich der auch zutiefst beschämt, dass ich mich selbst dann auch verraten werde, wenn irgendwann dann jemand zu mir kommt, mir vom Gesicht her ähnlich, der mich anschaut, wie ich auch einmal schaute, der mich mit Tränen ansieht und verstummt, der will nichts mehr vor mir verraten, der bin ich selber dann, der nichts von mir verraten kann. Der nichts von sich verraten sollte, weil nichts davon Beachtung fand, nur immer die Bewertung. Dass Leiden, das bewertet wird, verraten und verachtet wird, dass jemand der ein Leid und einen Schmerz und ein Gefühl bewertet, es somit augenblicklich auch verrät und somit auch entwertet. Wie er nur schaut? Sieh dir nur seine Augen an, sagt sie. Wie schaust du nur wieder aus?

Ich war ihr viel zu dreckig mit den Tränen im Gesicht. Mein Schmerz war nichts wert. Die Tränen wurden mir enthauptet. Sie wischte sie mir augenblicklich weg, damit ich wieder rein sein würde. Verraten meine Liebe, mein Vertrauen, als ich zu ihnen rannte und nicht mit Schmerz und Angst in meiner Not behütet wurde.

Trost kannte ich als Wort dann später. Ich fand das Wort, ich wusste aber nicht, was es bedeutete. Das konnte ich nicht wissen. Ich fühlte mich auch dafür später schuldig, dass ich das nicht verstand, dass ich nicht wusste, was das war, wenn jemand das von mir sich wünschte, dass ich das einfach nicht verstand, deswegen auch nichts tun konnte. Ich musste mich als Kind doch immer nur dafür entschuldigen, wenn ich mit meinem Fühlen meine Eltern „nervte“, wenn sie entsetzt waren und auch entsetzt dann schauten, dann musste ich mich dafür schämen. Sie ließen mein Gefühl nicht zu, es war für sie vollkommen unerheblich und auch ganz unerklärlich. So sollte ich das auch behalten, in meiner Art Erinnerung, dass ich nur immer unerklärlich war und unerklärliches auch machte, dass ich sie damit zur Verzweiflung brachte, so wie sie sagten, blieb immer unerklärlich. Ich blieb mir unerklärlich, solange ich die Eltern ehrte, entehrte ich mein Kinderleid, indem ich selbst mein Kinderleid verwarf und auch vergessen half, solange ich mein Kinderleid, die Kindheit selbst in mir damit betrog und Leid als Leid betrog, indem ich mich und jeden anderen damit entwertete. Ich achtete solange nicht darauf, bis mich jemand doch damit ehrte, indem mich dieser Mensch nicht damit hasste, indem mir jemand seine Hand auf meine Schulter legte, als ich den Tränen nahe kam. Ich war als Kind in mir verraten worden samt meinem Leiden. Das war es, was die Erfahrung der Berührung mich, über Jahrzehnte hin, tatsächlich lehrte. Ich konnte ihre Liebe nicht erwecken. Ich konnte Liebe nicht für mich aufwecken. Ich konnte das bei meinen Eltern nicht erreichen. Ich konnte das nicht tun. Das war nicht mein Versagen, nicht mein Verrat, nicht meine Schuld, dass sie mich nicht so lieben konnten, wie ich mir das so unbeschreiblich gern als kleines Kind gewünscht hatte. Es gab tatsächlich keine Schuld und dieses Wissen, das mir wie nichts das Herz verschloss und jetzt auch wieder öffnet, bezeugt die Lüge, den Verrat, was ich von mir doch immer denken, was ich von mir im Insgeheimen immer dachte, dass ich die Liebe nicht verdient hatte, dass ich gar keine Liebe je verdienen würde. Das ist nicht wahr. Es war nicht meine Schuld, dass meine Eltern nichts für mich empfanden.

Ein Kind, das nicht getröstet worden ist, muss Liebe zu verhindern lernen und wird das später dann genauso wiedergeben. Es trägt die Liebe niemals aus, solange es nicht jemand trifft, der sein Vertrauen nicht bewertet.