Texte von Hugo Rupp

Reines Denken

 

Ich spürte dieses Gefühl von Beklemmung, das mich oft nachts überfiel und noch stärker war als die Angst – dieses Gefühl, fortan mir selbst überlassen zu sein, ohne jede Zuflucht.

Patrick Modiano Im Café der verlorenen Jugend

Mein Elternhaus ist wirklich niemals abgebrannt, doch habe ich geträumt, es wäre so. Im Keller ist das Feuer ausgebrochen, habe ich geträumt. Dabei hat unser Haus gar keinen Keller. Was heißt, ein Kind von Brandstiftern zu sein. Ich hab an meinen Fähigkeiten immer nur gezweifelt, mit meiner Angst etwas zu sagen und zu tun, was zu vermelden und zu fragen.

Die geistigen Brandstifter.

Am Sportplatz. Gestern, neuer Traum. Ich ziehe mir die Nägel, Schrauben aus dem Bein.

Ich konnte mich als Kind Gewalt nicht widersetzen.

Ich zieh mir Nägel aus dem Fuß und weine und ich sehe Blut. Ich sitze auf dem Boden, im Hintergrund ist alles Rot. Ich schwitze und ich schreie vor mich hin. Ich seufze und ich klage, und ganz allein bin ich. Dann ziehe ich mir einen Nagel nach dem andern aus dem rechten und dem linken Fuß. Schwarze, verzinkte Nägel. Und offen ist mein Fuß und einen Nagel habe ich erst übersehen, am rechten Rist, den zieh ich auch noch raus.

Ich war ein Kettenhund, der biss, verscheuchte und verschreckte jeden, der mir nur nahe kam. Ich bellte und beschimpfte und beschuldigte und ließ niemanden näher an mich ran. Ich schien gemacht für Unfreiheit und Angst. Ich wachte über die Gefühle und Empfindungen. Ein paar Mal bellte ich die Mutter und den Vater an. Das war nicht weiter schlimm. Sie sagten dann: Wenn du nicht spielen willst, dann bleibst du halt allein zuhause. Wir kommen ganz gut ohne dich zurecht.

Ich hätte jeden in die Hand und in den Fuß gebissen. Nur meine Mutter nicht. Sie wollte mich nicht einmal streicheln. Nur für mich Fremde wollten das.

Ich lernte an der Kette laufen, sie hielt mich fest, mein Halsband war daran befestigt. Wie das geschehen konnte, weiß ich jetzt. Weil ich mich selbst niemals befragen sollte. Wie kann das sein, dass ich im Grunde jeden nur verscheuchen und verschrecken möchte?

Der Traum vom Sportplatz. Immer wieder. Ich wollte nicht nur mir, auch Vater wollte ich was zeigen und beweisen. Wie Nägel in mein Fleisch gekommen sind. Und dass ich sie mir ziehen musste.

Wenn sie beim Hausaufgaben machen bei mir saß. Mit ihren Augen lächelte und ihr Gesicht vor Freude dann verzog, wenn ich was nicht gleich konnte, und wie sie jubelte, ja jubilieren konnte und sich freute, wenn sie schon wieder schlauer war. Wie sie mich unentwegt als dumm, nur dümmer noch hinstellen konnte.

Siehst du. Das ist doch leicht. Das ist doch wirklich gar nicht schwer. Siehst du. Genüsslich quälte sie mich munter weiter. Das konnte ich dann später auch so gut. Selbst wie im Schlaf.

Es ging darum, mich zu verändern. Mich selbst zu ändern, ist jetzt dran. Wie ich das von ihr immer wieder lernte. Wie sie mich änderte, so machte ich das später auch.

Mein Vater hatte nicht im Traum daran gedacht, mich aufzuwecken und mich von ihr wegzutragen.

Und wenn ich ganz alleine bin, spricht in mir ein Geruch. Wenn du mich ablegst zu den Blumen, zu den Veilchen. Als Grabschmuck tauge ich und ich verfüge über deine Gabe. Geruch von Blumen, die nach Abschied riechen. Auch ich verfüge über Flüche.

Mit Flüchen scheuchte ich mich auf. Ich fluchte, und so war ich nicht allein. Wenn ich alleine war, dann fluchte ich nicht ganz vergeblich. In meiner größten Einsamkeit verfluchte ich den Rauch aus den Kaminen unsrer Nachbarhäuser. Die mich allein gelassen hat, die wagte ich nicht heimzusuchen.

Verfluchtes Kind. War ich. Ich schimpfte damit jeden Tag. Und in den Träumen schimpfte ich mich wieder. Die Nägel, die in meinen Beinen stecken. Die Lügen, die ich mir aus meinen Fingern sog. Verfluchter Fluch, ich wurde ihn nicht los. Von Tränen aufgelöst, beschimpfte ich mich weiter, weiter, weiter.

Man muss ein Kind nur lang genug ausschimpfen und alleine lassen, dann wird es schon noch brav.

Auf Mutter ließ ich als Kind nie was kommen.

Jetzt lasse ich mich aber aus. Ich wein dir keine Träne nach. Ich muss mich nicht mehr länger schinden. Die Angst gibt endlich auf. Die Angst vor Händen, Nägeln und dem Mund und dem Geruch, den Flüchen, Worten und Verwünschungen. Vor Totstellung wird mir nicht länger bang.

Ich war nur dann wirklich ich selbst, wenn ich ausriss. Meine einzigen guten Erinnerungen sind Erinnerungen an Flucht und Weglaufen.

Patrick Modiano Im Café der verlorenen Jugend

Was war das doch für eine Qual, mich endlich aus mir wieder rauszukriegen. Mich aus mir rauszureißen. Wie das mein Traum beweist. Was war das doch für eine Qual, das kleine Kind in mir, doch ein ums andre mal nur zu beruhigen und zu verlieren. Was war das doch für eine Qual, mich um mich selbst nicht mehr zu kümmern können. Was war das doch für eine Qual, nicht bei mir sein zu können. Nur Ausflüchte erfinden und Befürchtungen und dabei wehrlos sein, mich ausgesetzt zu finden, nur immer ausgesetzt. Was war das doch für eine Qual, ohne Respekt und Liebe für die eigenen Gefühle da zu sein. Für mich selbst distanziert zu sein; mir selbst entfernt und ohne eigne Nähe aufzuwachsen.

Du wirst noch an mich denken!

Ich musste für mich nein sagen. Ich musste mich verdrücken und zurückweichen.

Ich konnte meine Mutter gar nicht lieben. Jetzt weiß ich auch, was dieser Fluch, Du wirst noch an mich denken, macht. Was sie damit mit mir gemacht hatte. Ohne die Wut auf sie, versuchte ich doch ständig zu verschwinden. Vor mir und auch vor allen anderen. Ich musste ihren Fluch befolgen ohne Wut. Ich musste denken, dass nur verschwinden zählt, nur immer zu verschwinden. Ich musste mich selbst zum Verschwinden bringen. Nur so bemerkte ich nicht mehr, wie unwohl ich mich immer wieder fühlte, in meiner Gegenwart und gegenüber meiner Mutter. Ich musste einfach so Verschwinden.

Du wirst noch an mich denken.

Ich konnte sie mir nicht vom Leibe halten. Das war so eine Qual, mich immer wieder der Gemeinheit meiner Mutter auszuliefern. Ihr wieder schön zu tun und zu vergeben. Doch mit Vergebung löste sich nicht meine Wut. Ich trieb sie mir nur damit tiefer in den Leib. Als würde ich mich selbst damit annageln und mit den Nägeln dann verbinden.

Mein Traum, das was sie mir getan hatte. Was das mit mir gemacht hatte. Das wollte ich ihm immer wieder zeigen, wie sehr mich das gepackt hatte, und dass ich keine Freude wiederfinden kann, solange ich Vergebung suchen muss.

Mit der Vergebung hielt ich meine Wunden offen sauber. Moral des Satzes meiner Mutter, Du wirst noch an mich denken. Ich sollte überhaupt nicht heilen. Ich sollte nach Vergebung bellen.

Ich hab dir doch nie was getan, sagt sie. Ich habe dich nicht mal angefasst. Ich hab dir nichts getan.

Vergeben müssen, macht mit einem Kind, dass es sich selbst den Glauben schenkt, da ist nichts, nein! Da ist nichts. Nein. Auf keinen Fall. Das ist nicht schlimm. Da ist nichts. Nicht so schlimm. Die Mutter hat schon recht. Nichts wird so heiß gegessen. Die Mutter hatte recht.

Vergeben müssen machte das, dass immer dann, wenn meine Mutter vor mir auftauchte, ich nach Entschuldigungen für mich suchen musste. Für etwas, das ich mir doch scheinbar immer nur selbst eingebildet hatte. Ich musste nach Vergebung suchen. Doch wenn da niemals etwas war, warum warf ich mir immerfort dann etwas vor?! Wenn da nie was gewesen ist, warum soll ich an meine Mutter ewig denken lernen?

Ob man vergeben könne?

68.

Ob man vergeben könne? — Wie kann man ihnen überhaupt vergeben, wenn sie nicht wissen, was sie tun! Man hat gar nichts zu vergeben. — Aber weiss ein Mensch jemals völlig, was er tut? Und wenn dies immer mindestens fraglich bleibt, so haben also die Menschen einander nie etwas zu vergeben, und Gnadeüben ist für den Vernünftigsten ein unmögliches Ding. Zu allerletzt: wenn die Übeltäter wirklich gewusst hätten, was sie taten — so würden wir doch nur dann ein Recht zur Vergebung haben, wenn wir ein Recht zur Beschuldigung und zur Strafe hätten. Dies aber haben wir nicht.

Friedrich Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches II

Nur immer so zu tun, als wäre da gar nichts, als würde ich mir alles immer nur ausdenken. Das war das Schlimmste für mich Kind. Als würde ich nichts fühlen. Nur immer so zu tun, als wäre nichts in mir. Als wären in mir nicht Gefühle und Empfindungen. Als wären da gar keine Emotionen. Nur reines Denken; angesagt. Und das war die Vergebung für mich wirklich: Reines denken. Damit verleugnete ich die Gefühle und wie verheerend sich das angefühlt hatte. Nur gutes, reines von der Mutter denken müssen, war geistige Brandstiftung. Damit verfluchte ich mich schließlich selbst.

Was war das doch für eine Qual das Reine denken müssen, die Chirurgie des Schmerzes wider Willen, aus mir wieder herauszukriegen; aus dem „verfluchten“ Kind. Und die Vergebung wider die Gefühle, endlich doch wieder rückgängig zu machen. Mich selbst mit Reinem denken nicht mehr länger selbst ausklammern und belügen und verklären. Mit reiner Wissenschaft und reiner Poesie, mit reinem Denken wider die Gefühle. Die Wut des kleinen Kindes ernst zu nehmen, und mit der Wut dann endlich klarzukommen.

Ein Kind wie ich, muss dann nicht länger Reines von sich und den Eltern denken und alles schlechte und gemeine auf die andern lenken. Mit der Vergebung ihrer Art, lenkten mich meine Eltern immer wieder ab, von den authentischen Gefühlen. Sie hatten mir das beigebracht, nur Schlechtes von den anderen zu denken, um selbst nicht übel und gemein zu erscheinen.