Texte von Hugo Rupp

Nach Hause

 

Ich komme von der Schule, und Mutter sagt, dein Vater kommt und hat dir was zu sagen. Was, frage ich. Das sagt dir dann dein Vater selbst. Was? Sie dreht sich um und geht in die Küche. Ich bleibe stehen, wo ich stehe, im Gang, und dann gehe ich durch das Schlafzimmer auf den Balkon. Ich weiß nicht, was das ist, was mir Vater sagen will. Ich überlege. Es ist ernst und vielleicht schrecklich. Hat es mit Oma zu tun, die ich nicht besuchen will im Krankenhaus? Etwas anderes fällt mir nicht ein. Wenn etwas endgültig ist, dann muss Vater das erzählen. Vor Oma war Vater im Krankenhaus und wäre beinahe gestorben, und Mutter hat nie etwas anderes dazu gesagt, dass das schon wieder wird. Das muss doch einfach wieder werden, sagte sie und schaute weg. Ich weiß nicht, was ich mit den Händen machen soll. Ich warte mit den Händen in den Hosentaschen, was Vater überhaupt nicht gern sieht, weil es nach Faulenzen aussieht, und Vater mag keine Faulenzer. Ich stehe da und höre meinen Vater kommen. Ich weiß an seinen Schritten, wo er ist, und wo er gerade hintritt, wenn er kommt. Ich zögere noch etwas, dann huste ich leise, damit er mich gewiss auch hören kann, weil er jetzt die Treppe oben angekommen ist. Er dreht sich, und ich sehe sein Gesicht. Er geht zwei Schritte auf mich zu und bleibt dann einfach stehen. Ich soll ihm näher kommen, heißt das wohl. Was er zu sagen hat, da muss ich näher kommen. Wir stehen jetzt vor unserem größten Spiegel. Der vor dem Bett der Eltern, indem ich mich ganz sehen kann, nur meine Schuhe nicht, weil da eine Kommode ist, wo Mutter ihre Schals aufbewahrt. Zwischen dem Bett und dem Spiegel und der Kommode kann man durchgehen, aber auch nicht mehr. Hier stehe ich und niemand kommt vorbei, ohne mich zu berühren, wenn ich so stehen bleibe. Jetzt kommt auch Mutter. Der Vater räuspert sich, dann lächelt er die Mutter an, dann sagt er, dass die Oma tot ist. Heute Nacht gestorben. Sie hat nicht leiden müssen. Es hat ihr viel Schmerzen erspart, der Tod, dass sie doch endlich sterben konnte. Der Kopf war klein, ich habe sie fast nicht mehr erkannt, sagt er. Ich habe sie fast nicht wieder erkannt, sagt er und lächelt in sich und ich schaue weg, zum Spiegel, wo ich mich betrachten kann, doch will ich mich nicht sehen. Ich schaue weg von mir und von den Eltern. Ich will niemanden sehen. Das Gesicht des Vaters nicht und auch das meiner Mutter nicht. Sie schauen immer nur mich an. Mich schauen sie an und warten darauf, dass ich schweige, oder wie jetzt, dass ich etwas sage. Dass ich zu ihnen spreche. Was sagst du dazu, fragt und sagt der Vater jetzt. Ich sage nichts, und sage nichts dazu. Sie warten, dass ich etwas sage, doch sage ich jetzt nichts. Ich sage nichts mehr, wenn sie etwas von mir hören wollen. Dann kann ich dir auch nicht helfen, sagt mein Vater, und die Mutter starrt mich an, als wäre ich erledigt. Sie schaut mich vorwurfsvoll an und schüttelt ihren Kopf. Die Eltern scheinen ratlos, weil ich nichts sagen will. Ich habe meine Oma nicht besucht. Jetzt ist es für einen Besuch zu spät, sagt meine Mutter. Jetzt ist es allerdings zu spät, sagt Vater und lächelt, jetzt schon lauter. Ich würde sie mir an deiner Stelle nicht ansehen, sagt er zu Mutter. Du würdest sie nicht wieder erkennen, sagt er. Ich sage nichts und schaue in den Spiegel. Ich schäme mich und sehe mich nicht gern. Ich beiße auf die Lippen und sehe mich dort stehen, wie ich verkneife und mich nicht rühren will. Ich sehe mich dort heute wieder stehen und sehe meine Eltern an, wie sie mich fragend mustern, wie sie mir etwas vorwerfen, das immer nur in ihren Herzen war, gefühllos bis zum dorthinaus. Das Eis, die toten Äpfel, das Grau, der tote See bei Nacht, die Blumen ohne Duft, verschrumpelt und verwachsen sind die Bäume und die Äpfel. Verwelkt sind auch Geranien, die damals auf dem Balkon, einst blühten. Ich rieche heute ihren Duft, die Blätter matschig, nass, vom vielen Wasser abgesoffen, getrocknet in der Sonne dann, und der Geruch so beißend wie der Tod der Großmutter. Sie warten auf ein Zeichen von mir, auf ein Wort. Ich zeige keinen Schmerz mehr an. Die Schwester ist zwei Monat alt und Oma ist jetzt tot. Ich bin hier nicht zu Hause. Das ist kein Heim für mich. Sie warten, dass ich etwas sage. Ich sage nichts für sie. Hast du darauf nichts zu sagen, fragt meine Mutter. Das erste Mal seit dreiundvierzig Jahren sehe ich sie wieder nun dort stehen und sehe, dass sie meine Schwester trägt. Sie hält sie fest an sich, sie hat das Mädchen, das zwei Monate alt ist, fest an sich gedrückt. Der Vater lächelt auch darüber. Er lächelt seine Tochter an. Ich bin nur wieder hier allein. Ich stehe wieder hier und habe keine Hand. Der Vater streichelt meiner Schwester über ihren Kopf und lächelt sie auch an. Für mich ist keine Handlung übrig. Mich fasst hier keiner an. Ich habe Vaters Hände immer noch im Blick. Ich starre auf die Finger und wie er seine Hände hält. Wie er damit auch redet. Er fuchtelt und er lächelt wieder. Ich stehe immer noch dort vor dem Spiegel und sehe mich nicht an. Wenn du dich jetzt nur sehen könntest, sagt er, dann würdest du selbst lachen, wie du nur dastehst, so gebückt. Wie du nur aussiehst. Als würdest du zuwenig essen, als würden wir dich hier zu wenig füttern. Mein Vater macht sich lustig, ich spüre, wie er sich auf mich stürzen will, mich undankbaren Hund. Der Vater ist das größte Schwein. Die Mutter neben ihm soll sterben. Ich schaue in den Spiegel und verdrehe mich nach einem Bild, das vor mir steht. Ich drehe mich nach meinem Vorbild, mir, jetzt unausstehlich meinen Eltern gegenüber. Du stehst wie angewurzelt, sagt er plötzlich. Sie schauen beide nur auf mich. Sie werfen mir was vor, von dem ich nie was wusste, sie werfen mir die Schande vor, dass ich undankbar bin, der Undank Welten Lohn, dass ich nie meine Großmutter besuchte und dann sie ohne mich jetzt tot ist und gestorben ist und dass sie ohne mich jetzt ewig im Tod damit auch leben muss. Dass sie jetzt ohne meine Gegenwart sein muss. Dass ich ihr diesen Schmerz bereitet habe. Undank ist der Welten Lohn, sagt meine Mutter. Du musst auch nicht zur Beerdigung, sagt Vater. Du brauchst da auch nicht hin. Wenn du sie schon im Krankenhaus nicht besuchen wolltest, dann brauchst du auch nicht bei ihrer Beerdigung dabei sein, sagt er. Er ist das größte Schwein. Ich verziehe den Mund, und er sagt, da brauchst du deinen Mund nicht verziehen. Du nicht, sagt er. Andere hätten dazu Grund, du nicht, sagt er. Ich bin zehn Jahre alt, ich habe das, was mein Vater damals sagte, immer vollkommen vergessen gehabt. Ich hatte immer nur mich in Erinnerung, wie ich vor dem Spiegel stehe und halb in ihn schaue und halb außerhalb mit meinem Gesicht bin. Mein zweigeteiltes Gesicht im Blick. Nicht ihn, nicht sie, nicht meine schlafende Schwester im Arm. Ich bin verraten und allein, vollkommen den Beschuldigungen meiner Eltern ausgesetzt und ohne eine Handreichung, ohne jeglichen Beistand, wie immer schon, doch diesmal hat die Schuld kein Ende, weil die Oma tot ist. Ich kann nichts mehr berichtigen. Ich kann nicht mehr nach Hause, solange niemand meine Schuld von meinen Schultern nimmt, solange niemand von den beiden, die vor mir stehen, mich erlösen von dem Übel, das ich in ihren Augen ausübe und bin. Die Schande ihres Lebens. Denn wenn ich böse bin, dann schade ich den Eltern. Die Schande ist nach Außen hin und jeder wird sie sehen. Du brauchst nicht zur Beerdigung, sagt er, nachdem ich sage, ich kann schon hin gehen. Ich geh schon hin, sage ich. Du brauchst nicht hin zu gehen. Er sagt nicht nein! Er sagt auch das nur indirekt. Er will die Schuld, mit noch mehr Schuld belegen. Wegen uns musst du nicht hin gehen, sagt Vater. Du tust mir damit einen Gefallen, sagt er, wenn du nicht hin gehst. Ich soll der Undankbare sein. Der Undank selbst. Der Welten Lohn. Ich bin der Welten Lohn.

Du wirst dich nicht mehr verabschieden können, sagt er. Du hast sie nicht besucht, jetzt ist es zu spät. Du kannst nicht leugnen, dass du sie niemals besucht hast, sagt sie. Das ist doch so, sagt sie. Ich sage nichts. Jetzt bist du stumm, sonst hast du den Mund immer offen, jetzt aber bist du stumm, sagen sie. Oma ist tot. Jetzt kann ich nicht mehr hin. Jetzt komme ich nicht mehr. Nie mehr zu ihr. Zu ihrem Haus, die Straße runter, Eingang, Treppe rauf, rechts, Küche, Ofen, Fensterbank und Tisch und essen miteinander. Die Oma, die mir über meine Haare strich und mich in meinem Nacken kraulte. Ich komme nicht mehr heim. Ich komme nie mehr nach Hause. Sie kommt auch niemals wieder. Nie mehr kommt sie zurück. Aus diesem scheiß Krankenhaus. Diese beschissenen, verdammten Krankenhäuser, mit ihren Schwestern. Diesen Mördern, mit ihren Geschichten vom Tod und nie mehr nach Hause kommen.

Ich kam auch einmal nicht nach Hause. Nie wieder komme ich nach Haus, wenn ich noch weiter komme, ins Sanatorium und dann allein dort bin. Ich komme nicht mehr heim.

Ich komme nicht mit, dachte ich unablässig. Ich komme nicht mit, sagte ich mir ununterbrochen in mir vor. Wenn sie mir auch was gibt, dann komme ich trotzdem nicht mit. Ich gehe nicht ins Krankenhaus zu Großmutter. Ich gehe nicht in dieses Zimmer, wo sie liegt. Ich kann dort nicht hin. Wo niemand wieder raus kommt. Nie mehr. Wie in einem Sarg, wie in einem Grab, wie nie mehr heimkommen. Ich gehe dort nicht hin, weil sie nicht mehr nach Hause kommt. Ich kann das nicht begreifen. Ich will das, nicht nach Hause kommen, nicht mehr sehen. Sie wollen, dass ich mir das anschaue. Und Vater hat gesagt, die Oma kommt nie mehr nach Hause. Du musst sie jetzt besuchen gehen, sagt er. Sie wird nicht mehr nach Hause kommen. Solange ich sie nicht besuche, kommt sie nach Hause, sage ich. Solange ich sie nicht besuche, gibt es eine Möglichkeit. Ich wehre mich gegen die Unheilbarkeit, weil Mutter immer sagt, unheilbar, die Großmutter ist unheilbar krank. Ich will nicht, dass Großmutter unheilbar ist. Sie reden schon von einer Toten. Der Vater geht zu Oma und sagt, das kann nicht mehr lange dauern. Sie hat so abgebaut in nur zwei Wochen, sagt er. Sie reden von der unheilbaren Oma, die vor zwei Wochen noch für mich etwas zum Essen machte. Sie reden schon von einem Geist, als hätte es die Oma nicht gegeben, als würde sie verschwinden. Ich komme nicht mehr heim, das dachte ich in Steinhöring. Ich komme nicht mehr heim, wenn ich in ein Sanatorium komme. Ich komme nicht mehr heim.

Wie ist das, nicht heim kommen?

Es ist in Dunkelheit, ein Mann, mir Rücken zugewandt, steht vor der Tür, am Durchgang in die nächste unbekannte Dunkelheit. Kein Name, sagt kein Wort. Ich gehe nicht in dieses Zimmer. Der Tod, der geht dort hin. Der schwarze Mann steht vor der Tür. Er kommt zu meiner Großmutter. Dort werde ich ihn sehen. Dort werde ich ihm auch begegnen. Dort gehe ich nicht hin. Der Tod, das ist der schwarze Mann. Ich will ihm nicht begegnen. Der Tod steht ihr ins Gesicht geschrieben, sagt der Vater. Die Mutter lächelt ernst dazu. Ich will den Tod nicht sehen. Der schwarze Mann. Ich will nie mehr ins Krankenhaus. Ich will den schwarzen Mann nicht sehen. Noch steht er nur vorm Haus, noch ist er nicht im Zimmer, sagt im Fernsehen ein Arzt zu einem reichen Mann. Noch schleicht er nur ums Haus, noch ist er nicht im Zimmer. Ich musste ihre Bilder glauben. Ich musste glauben, was sie mir mitteilten. Sie redeten vom Tod und von der Oma. Ich gehe dort nicht hin. Sie machen mir mehr Angst, mit jedem Tag, den meine Großmutter im Krankenhaus liegt, machen sie mir mehr Angst, und trotzdem wollen sie, dass ich Oma besuche. Ich soll sie besuchen. Dort sehe ich den toten Mann, auf des toten Mannes Kiste, und ne Buddel voll Rum. Dort werde ich dem Tod begegnen. Dort sehe ich den schwarzen Mann. Ich kann nicht sagen, dass ich mich vor meiner Oma fürchte, so nah am schwarzen Mann. Sie hat mich oft ins Bett gebracht und mich beschützt vor diesem schwarzen Mann, denn sie ist geblieben, bis ich eingeschlafen bin. Die Mutter hat gesagt, wenn du nicht schläfst, dann kommt der schwarze Mann. Wenn du nicht schlafen willst, dann kommt der schwarze Mann und nimmt dich mit. Das macht der schwarze Mann mit Oma jetzt, obwohl sie immer schlafen wird. Wie ist es tot? Wie immer schlafen. Nun wird sie immer schlafen und trotzdem kommt der Tod, der schwarze Mann. Warum? Ich weiß nichts von den Wundern. Vielleicht geschieht ein Wunder, sagt die Mutter plötzlich, und sie genest. Das ist schon vorgekommen. Doch Wunder sind rar, sagt sie und lächelt mit der Schwester auf dem Arm. Was ist ein Wunder, frage ich. Frag nicht so dumm, sagt sie und lächelt einfach weiter. Ich kann nicht in dieses Krankenhaus, in dem der schwarze Mann herumschleicht und vor Türen steht und dann den Raum betritt. Ich will dem schwarzen Mann nicht begegnen. Ich weiß, wie er von hinten aussieht und dass er einen schwarzen Anzug trägt. Ich kenne sein Gesicht nicht. Er steht in einem Gang vor einer Tür. Wenn ich jetzt etwas sagen würde, dann würde er sich umdrehen. Kann man den schwarzen Mann auch ablenken? Ihn hindern, dass er in das Zimmer geht? Dass er die Großmutter besucht? Geht das? Ihn ablenken? Ich weiß es nicht. Ich sage nichts zu ihm. Ich sehe doch, dass er da steht. Ich sage nichts zum schwarzen Mann. Ich stelle ihm keine Frage. Ich muss ihn doch so stehen lassen. Ich kann der Oma auch nicht helfen. Ich schäme mich dafür. Wie kann ich meiner Oma helfen? Sie würde sich so freuen, sagt sie, wenn du sie besuchen kommst, sagt Mutter immer wieder. Wenn sie dich noch einmal sehen kann, sagt sie. Ich mache Fäuste mit den Händen in den Taschen und beiße auf die Zähne. Ich halte meinen Atem an und möchte doch entsetzlich wütend sein und immerzu nur schreien. Ich kann nicht hin, das würde ich ihr mitten ins Gesicht am liebsten spucken. Ich kann doch dort nicht hin. Doch sage ich kein Wort. Ich bin der Böse und der Undankbare. Der seine Oma nicht so liebt, wie sie es doch verdient, für ihre Mühen, was sie mir doch alles geschenkt hat und mir zuliebe auf sich genommen hat, und er will nicht ein einziges Mal zu ihr hin ins Krankenhaus und sie besuchen. Ich kann das doch nicht tun. Das versteht keiner. Sie hassen mich, weil ich Oma nicht besucht habe. Sie schauen mich an und verachten mich. Sie gehen jetzt zu ihr. Dann bleibst du einfach hier in deinem Zimmer, sagt sie. Dann bleibst du einfach hier allein, sagt sie. Der Vater wartet unten mit dem Wagen auf die beiden. Meine Mutter und die Babyschwester. Du kannst es dir noch überlegen, sagt sie und schaut mich an. Du willst wirklich nicht mitkommen, sagt sie. Es hört sich an, als würde sie ein scharfes Messer über meinen nackten Rücken ziehen. Ihr Blick schneidet mich in zwei Hälften. Ich sage nichts. Ich weine nicht. Ich würde bei der Oma weinen, das sage ich auch nicht. Ich weine nicht. Du weinst jetzt nicht, das sagen Mutters Augen. Du weinst jetzt nicht, sagt jeder hier in mir. Nur ich will weinen, weil Oma nicht mehr kommt. Nie mehr. Auch nicht mehr zufällig.

Ich richte ihr deine Grüße aus, sagt sie und lächelt.

Die Träume haben immer einen Sinn. Ich finde meine Züge nicht. Die Zeiten stimmen nie. Die Flüge gehen immer anders ab. Nie finde ich den Ort. Nie weiß ich eigentlich, wohin ich gehen, fahren, fliegen soll. Der Ort ist falsch, die Beine machen nicht mehr mit, ich friere fest, der Boden schief, die zähe Masse die mich hält. Ich finde meine Schlüssel nicht und die Adresse ist unleserlich. Ich finde nicht mehr heim. Ich komme nicht zurück. Ich finde mein Zuhause nicht. Ich weiß nicht, wo ich lebe. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich finde mich in einem fremden Raum. Ich schaue aus dem Fenster und auf der Straße gehen keine Menschen. Ich bin an einem Ort, wo keiner lebt, wo ich ausschließlich bin und sonst niemand. Ich komme nicht mehr heim. Ich finde meine Heimat nicht. Das Haus ist weg. Die Straße leer. Die Sonne scheint, das Haus ist weg. Ich sehe eine Lücke. Das Haus ist nicht mehr da. Sie haben Omas Haus schon abgerissen.

Ich habe kein Zuhause mehr. Zuhause bin ich nur allein, zu Hause bei den Eltern, jetzt mit der kleinen Schwester. Sie wissen nichts von mir. Ich bin hier nicht zuhause. Ich bin dort nicht daheim, wo Mutter immer sagte, daheim ist es am schönsten. Ich bin dort nicht daheim. Ich habe kein Daheim und niemand will das wissen. Ich habe kein Zuhause und will doch in kein andres Heim. Ich will doch in kein Heim. Ich will dort lieber bleiben, dort wo ich nicht zuhause bin, das muss ich erst begreifen, dass ich dort nicht zuhause bin und doch dort lieber bleibe, als draußen in der Welt, in Heimen und in Schlössern, was sie mir auch gesagt haben, damals, dass dieses Sanatorium in einem Schloss sein wird. Ich will nie mehr in einem Schloss alleine schlafen. Nie mehr in meinem Leben. Das habe ich gewusst und niemand hat mir angesehen, meine Angst, nie mehr nach Haus zu kommen. Ich war zuhause fremd, das haben sie mir später vorgeworfen, dass ich mich hier benehmen würde, als wäre ich ein Fremder, nachdem ich immer noch, erwachsen wie ich war, selbst nach dem kleinsten Handgriff um Erlaubnis fragte. Sie lächelten. Darf ich das Messer haben? Kann ich mir im Kühlschrank ein Getränk nehmen? Du brauchst doch nicht immer zu fragen, sagte sie. Mein Vater lächelte dazu. Ich musste immer fragen, bei jedem Wort, das ich in ihrer Gegenwart ergriff, war eine Furcht doch immer mit enthalten. Ich will in kein Heim. Ich will trotz allem in kein Heim. Sie haben das so oft gesagt, dass ich nicht frech sein soll, sonst käme ich jetzt fort. Ich kannte das Gefühl, was es bedeutet, wie es ist, im Krankenhaus zu sein und weg zu sein und in der Not allein gelassen, und mit der Angst, nie mehr nach Haus zu kommen, nie mehr nach Hause; wenn ich nicht heim komme, wenn keiner bei mir ist, wenn alle wieder nur wegrennen. Wenn keiner da ist, der das weiß, wie weh das tut, nie mehr nach Hause dürfen. Wenn alle Augen, die ich sehe, die meiner Mutter und die meines Vaters, mich jetzt auch noch beschämen, mir lächelnd auch noch sagen, dass meine Oma bis zuletzt mich sehen wollte, und dass sie ohne mich dort sterben musste, dort ohne mich und ohne meine Liebe. Das sagen sie doch mir, das sagen sie doch immer wieder und keiner gibt das zu und löst die Lüge auf und keiner sieht die Heuchelei für mich und keiner fühlt mit mir den Schmerz, die Oma ist jetzt tot und meine letzte Rettungsmöglichkeit, der Ort, die Zufluchtsstätte, ihr Zuhause, Heim, an dem ich manchmal keine Angst vor meinen Eltern haben musste. Weil mich bei ihr, in ihrem Haus, niemand bestrafen durfte.

Sie machen ihm doch Angst, das sagte meine Großmutter zu meiner Mutter. Sie machen ihrem Jungen Angst, wenn sie ihm solche Geschichten erzählen. Sie hatte mir vom Sterben einer Frau erzählt, die frisch am Blinddarm operiert, Blumenwasser getrunken hatte und nicht mehr zu retten war. Sie hat den Pfarrer angefleht, dass sie nicht sterben will. Sie hat den ganzen Gang, das ganze Krankenhaus zusammen geschrieen. Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben, hat sie gerufen, immer wieder, hat meine Mutter gesagt und dazu gelächelt. Sie machen doch dem Jungen Angst, hatte meine Großmutter gesagt. Ich schaute in den Boden. Ich freute mich, doch zeigte ich das nicht. Ich wusste doch, dass meine Mutter mir das zu Hause, dann heimzahlen würde. Dass sie mich büßen ließ, für jedes Wort der Großmutter, das mir zu Hilfe kam und sich der Mutter widersetzte. Sie zahlte mir das heim. Sie rächte sich dafür an mir zuhause.

Der einzige Ort, an dem ich vor meinen Eltern sicher war, vor meiner Mutter ganz besonders, an dem ich sicher und nicht alleine war, war das Haus meiner Großmutter. Mit Omas Tod war alles aus. Dass sie nie wieder kehren würde, ahnte ich. Ich konnte doch zu ihr nicht gehen. Mit meiner Mutter an der Seite, an ihrem Bett, der Oma lügen zu erzählen. Vielleicht hilft noch ein Wunder. Ich konnte dort nicht hingehen und habe doch bis zum heutigen Tag mir dieses Verhalten vorgeworfen, als Schuld mir selbst zur Last gelegt. Als hätte ich die Oma schließlich doch verraten. Nur weinen darfst du nicht, das sagte meine Mutter immer wieder. Sonst merkt die Oma, dass sie stirbt. Wenn du nur weinen willst, dann brauchst du nicht mitkommen, das war die einzige Bedingung. Ich sollte mitkommen und unter keinen Umständen weinen. Ich hätte dort doch wieder nur für alle lügen müssen.

Ich höre meine Mutter mit meinem Vater reden. Ich höre sie im Wohnzimmer. Sie wissen nicht, dass ich belausche, was sie sagen.

Sie hat heute wieder gefragt, wann sie nach Hause kommt, sagt er.

Und was hast du ihr gesagt, fragt sie.

Ich weiß es nicht.

Dann eine Pause. Ich horche an der Wand, bewege mich nicht.

Was hat sie noch gesagt, fragt sie.

Sie hat geweint, sagt er.

Dann ist es wieder eine Weile still.

Was hast du dann gesagt, fragt sie.

Das wird schon wieder. Sie möchte doch so gern nach Hause, sagt er.

Sie weiß nicht, dass sie sterben muss, fragt sie.

Ich habe sie nicht danach gefragt, sagt er.

Ich höre, dass er leise lächelt. Wieder eine Pause. Der Fernseher läuft.

Was hat sie noch gesagt, fragt sie.

Ob jemand die Jalousien im Laden heruntergelassen hat. Solange sie noch im Krankenhaus ist, sagt er.

Das konnte sie mit dem wehen Arm nicht mehr, sagt sie.

Sie macht sich Sorgen wegen der Kunden, wenn sie nicht da ist, sagt er.

Ich könnte das doch machen, sagt sie.

Das lässt du schön bleiben, sagt er. Hörst du!

Wieder eine Pause.

Hat Sie etwas gesagt, fragt sie.

Nein, sagt er.

Wie geht es unsrer Kleinen, fragt er.

Sie schläft.

Und unser Sorgenkind?

Vielleicht ist ihm die Schule zu schwer. Vielleicht ist das nichts für ihn, sagt sie.

Das ist nur die Umstellung, sagt er.

Du hast doch auch nicht das Gymnasium abgeschlossen, sagt sie.

Ich hätte, wenn mich mein Herr Stiefvater nicht in der Schreinerei gebraucht hätte, sagt er.

Und danach bist du in den Krieg, sagt sie.

Überall war es besser als zuhause. Mein Herr Stiefvater.

Gott hab ihn selig, sagt sie.

Gott hab ihn selig, sagt er und lacht wütend. Sie haben mich nicht mit offenen Armen empfangen, als ich zurückgekommen bin.

Deine Mutter war eine böse Frau, sagt sie.

Der Vater schweigt.

Wenn deine Tante nicht gewesen wäre, die ihr ab und zu die Meinung gesagt hätte, sagt sie.

Vater schweigt.

Wie hat sie dich genannt, fragt sie.

Einen Kriegsgewinner, sagt er und lacht.

Weil du eine Entschädigung bekommst und dein Herr Bruder nicht. Weil dir deine Kriegsgefangenschaft angerechnet wird.

Gott hab sie selig, sagt der Vater wütend.

Wann ist er gestorben, fragt sie.

Das ist lange her.

Und sie vor fünf Jahren?

Gott hab sie selig, sagt er.

Und der Bruckmayer, fragt sie.

Neunundvierzig. Nachdem ich wieder zuhause war, sagt er.

Ihm ist beim Essen zum Schluss der Schnodder aus dem Maul gelaufen. Beim Essen, und sie hat sich immer geschnäuzt, sagt sie.

Oma schnäuzte sich immer. Mutter würgt es jetzt tatsächlich. Ich höre, wie es sie hebt, als müsste sie sich übergeben. Ich lege mich zum Schlafen hin.

Ich kenne Mutters Ekel, seitdem ich denken kann. Ich höre ihre Laute immer schon. Der Tod ist wie ein Kind; das Sterben auch. Die Äußerungen unsres Leidens, wie Trauer, Wut und Schmerz, der Rotz und Wasser unsres Lebens, sind für meine Mutter immer widerlich und zum Erbrechen gewesen.

Wäre die Großmutter nicht mit ihren Schnäuztüchern gewesen und ihrem Schniefen und Schnäuzen und andauerndem Räuspern und ihren Nasenlauten, die Trauer und die Wut hätten in mir nicht überlebt. Ich schnäuze und ich räuspere mich und habe immer Taschentücher bei mir. Vielleicht brauche ich die aber bald nicht mehr. Seitdem ich weiß, sie wollte doch nach Hause, mit ihrer Frage nach dem Heimkommen. Sie hat mir über ihren Tod hinaus bezeugt, wie sehr ich unter meinem Zuhause, in meiner Kindheit wirklich gelitten habe. Wie sehr ich ohne Freiheit war und ohne eine Möglichkeit, mich so zu äußern, wie ich fühlte.

Ich war nicht auf der Beerdigung und ging an diesem Tag zur Schule.