Texte von Hugo Rupp

Missbrauch

 

Wie müssen die Verwirrung des kleinen Kindes aufgeben, die aus unserer einstigen Bemühung stammt, Mißhandlungen nachzusehen und einen Sinn daraus abzuleiten.

Alice Miller Die Revolte des Körpers

Ich konnte ihn nicht hassen. Ich sah in ihm auch einen Retter. Ich sah nicht, dass er mich weggab, dass er mir drohte, dass er sich diebisch dabei freute, wenn ich, von seinen Armen weg, mich an ihn klammerte, wie ich zu ihm zurück wollte, wie ich an seinen Lippen hing. Er freute sich, wie anhänglich ich war, liebesbedürftig. Wie nötig ich ihn hatte.

Er spielte mit den Ängsten. Er quälte mich dafür.

Wenn du alleine glücklich werden willst, dann will ich dich daran nicht hindern!

Wie soll ein Kind alleine glücklich werden können?

Er ist ein guter Vater, weil er mich nicht weggibt. Für mich ist er ein guter Vater, weil er mich bei sich lässt. Das sage ich mir immer wieder. Das bete ich mir vor. Mein Vater ist ein guter Vater, weil er mir ein Zuhause gibt. Er könnte mich auch in ein Heim, in eine fremde Hölle stecken. Er tut das nicht. Er muss ein guter Vater sein.

Mein Grauen war der Ort. Das Böse war der Ort, ein Heim. Ich sah die Hölle vor mir und nicht den Schöpfer dieses Ortes.

Ich wartete, dass mich mein Vater endlich einmal loben würde, egal für was. Das tat er aber nicht. Er lobte nicht mal mein gehorsam sein.

Ich gab mir selbst die Schuld, dass nichts von dem, was ich je tat und ohne ihn vermochte, kein Lob bewirkte und hervorbrachte. Ich dachte immer nur, ich bin nicht gut genug für ihn. Was ich auch tue, ist nicht gut genug, weil Vater sich dazu nicht äußert.

Ein Kind kann gar nicht wissen, dass die Erziehung jeden Geschmack nach elterlicher Sicht hinrichtet; als wäre sonst nichts anderes was wert. Mein Vater richtete.

Ich wartete auf die Bescherung. Ich wartete auf seine Wertung.

Ich komme nicht ins Heim und bin auch nicht allein. Ich bin nicht mehr allein, wenn Vater mich erst lobt. Wenn er mir die Erlaubnis gibt, dann bin ich endlich frei.

Ich wartete, wie jedes Kind, – das einen solchen Vater hatte, der nur zerstörte und zerstören konnte, der alles was ein Kind vermag, sich frei und auch allein beibringen kann aus freien Stücken, und nur kaputt gemacht hatte, zerstörte und auslöschte,- auf die Erlösung und Befreiung durch den Vater. Ich wartete auf die Befreiung durch den selben Mann, der mich eingesperrt hatte. In ein Gefängnis, unsichtbar, in das Gehirn des kleinen Kindes, das alles lernen musste, was man ihm sagte und mit der Angst und der Gewalt beibrachte.

Ich konnte ohne Angst nicht aufwachen. Ich hasste aufstehen. Ich hasste jeden Morgen. Ich hasste mein zuhause sein. Am Morgen ging das Richten los.

Ich wartete darauf, dass er dann meinen Hass bewertete.

Solange ein Kind wartet, auf die Bewertung seiner Art Gefühle, kann es sich nicht frei fühlen. Es wartet immer nur vergebens. Was das im Grunde heißt und ebenso bedeutet, das wusste ich so lange nicht.

Dass ich auf seine Wertung wert legte, dass ich auf meinen Vater wartete, solange ich ihm gute Noten gab, solange ich ihn gut für mich bewertete. Solange ich mich vor ihm fürchtete und ihn trotzdem noch für mich gut bewertete, solange ich auf seine Hilfe hoffte, vertraute ich ausschließlich seinen Idealen und Vorstellungen, nur immer seinem Ideal von einem guten Vater, den es tatsächlich niemals gab, weder für mich, noch für ihn selber.

Solange ich sein Lob erwartete, solange war ich sein Befürworter.

Ich konnte mich als Kind nur hassen lassen. Ich konnte selbst nicht hassen. Nicht wie mein Vater alles hasste. Ich konnte das, nicht hassen. Mein Vater konnte nur hassen. Ich konnte nicht wie er sein, werden. Nicht so zu hassen wie mein Vater, war für mich versagen. Vor ihm und seinem stolzen Blick, der alles hassen konnte.

Wenn ich von Angesicht zu Angesicht, nun meinen Vater hasse, dann hasse ich den Hass und sein Gesicht dabei, das mir so eine Angst beschert hatte. Ich hasse nichts so sehr wie sein Gesicht, das er mir dabei schenkt. Mein Vater schenkte mir den Hass und er bescherte mich mit Hass. Das waren seine Gaben.

Ich werde dich schon noch zurecht schnitzen!

Er schnitzte mich, er formte mich, ich sollte wohl aus gleichem Holz und Lehm und Erde sein, nach seinem Vorbild, Ebenbild. Ich sollte auch zu Hass werden. Aus Hass muss ich bestehen, dann mag mein Vater mich. Aus Hass für mich und gegen jeden, aus ungeschöntem, unverbrauchtem Hass, der sich und jeden schindet.

Ich konnte ihn als kleines Kind nicht hassen, ich war doch nicht wie er, ich konnte nicht so sein wie er, so unausweichlich und bedrohlich, so überwältigend und alle nur erdrückend. Ich hätte mich verschlungen. Ich wäre dann verbrannt. Wie sein Hass mich verschlang, so hätte ich mich selbst verschlungen. Wie Feuer sich verschlingt. Wie Feuer sich verzehrt. Wie Feuer brannte meine Haut.

Auf einem See, brennt dieser See. Ich habe es im Film als Kind gesehen. Wie sie die bösen Weißen, die voller Hass auf Indianer waren, dann verbrannten. Wie alle dann ein Raub des Feuers wurden. Ich habe das im Film gesehen. Die Indianer, Rothäute, die töteten den größten weißen Hasser. Sie zogen ihn an Seilen über einen Felsen und schossen Pfeile auf ihn ab. Und mit dem Kopf nach unten, das Blut schoss ihm hinein, schrie er und winselte um Gnade. Die Indianer hatten keine Gnade mit dem bösen Mann. Sie ließen sich nicht mehr erweichen. Sie ließen sich nicht von ihm blenden. Er log, noch mit dem Kopf nach unten. Ich sah sein böses Lachen, ich hörte wie er redete, wie er nur wieder log und seinen Hass nochmals verbreitete. Ich wollte seinen Tod. Dass dieser böse Mensch dann starb, war mir dann noch zu wenig. Ich wünschte mir viel mehr. Sein Tod war mir zuwenig. Jetzt wo er endlich tot war und keine Bedrohung mehr, jetzt konnte ich ihn richtig hassen. Er konnte mir nichts tun. Jetzt konnte ich ihn ruhig hassen. Ich war ihm doch sehr ähnlich.

Wenn ich dem Hass in mir nachspüre, dann taucht vor mir die Mutter auf. In weiter Ferne und so nah. Konturlos, unerreichbar nah. In bunten Farben. Sie trägt gar keine Trauer. Sie hat den Hass des Vaters nie getadelt. Sie hat ihn stets gewähren lassen. Sie war sein Engel. Die Mutter, die Verkünderin. Wenn sie von meinem Vater sprach und ihn für mich verklärte, dann machte sie aus ihm, für sich und mich zugleich, aus meinem Vater einen Heiligen. Sie lobte seinen Hass. Sie lobte seinen Hass und seine Taten. Es war für mich unmöglich dies zu fassen. Wie konnte sie nur seinen Hass, als lobenswert begreifen. Sein Hass war für mich unbeschreiblich, weil sie mich nicht und auch kein anderer, vor seinem Hass beschützt hatten. Sie sagte immer wieder, der Vater würde mich doch mögen, er wolle nur mein Bestes. Sie lobte ihn und seinen Hass und forderte Vergebung.

Sie hält ein Buch in ihren Händen. Ein weißes Buch. Das Buch ist groß und dick wie eine alte Bibel. Die Vorstellung, wie meine Mutter dieses Buch in ihren Händen hält, als wäre das ihr größter Schatz, entstammte einem Traum von mir.

Von Anfang an. Hier stehen alle Sachen. Was ich je lernte. Das Buch enthält jede Erfahrung, die ich machte und machen musste, versehen mit Sternen. Hier sind die silbernen, die goldenen, die schwarzen Sterne, wie sie im Kindergarten verteilt wurden. Hier sind alle Noten, die ich in der Schule bekommen habe. Hier sind alle Kommentare und mündlichen Bemerkungen versammelt, die ich je in meinem Leben bekommen habe. Hier steht alles. Das ist mein Leben lernen. Hier gibt es ausschließlich Bewertungen und keine Liebe. Meine Mutter hält das Buch der Bücher in Händen. Hier steht, was andere über mich zu sagen haben. Wie andere mich bewerten. Hier steht ausschließlich die Bewertung und Begutachtung meines Lebens unter dem Gesichtspunkt der Bewertung. Alles wurde bewertet. Mein Lächeln, mein Stuhlgang, meine Sexualität, meine Sprache, alles, nach Kriterien, die ich nicht verstand noch kannte. Ich wurde bewertet, aus der Sicht der Eltern, der Erwachsenen. Mit Scham und Schuld. Jede Freude, die sie mir zerstörten mit Bewertungen. Jedes Lachen, das sie mir beschämten. Jedes Tun und Machen, das sie mir abfällig bewertet haben, steht hier drin, ohne einen Hinweis auf die Schmerzen, die Bewertungen hervorrufen. Jede neue Erfahrung, die ich machte, jedes Wissen, das ich dazu lernte, wurde mir mit Scham und Schuld bestraft, egal was es auch war, nichts war so gut, dass es ein Lob, die Liebe in der Tat, ein Lächeln, Lachen, eine Art Berührung, sanft und ohne Grausamkeit und Hass nach sich gezogen hätte. In allem Lernen war der Hass des Vaters. Dass Lernen, sich schinden bedeutet, musste ich von meinem Vater lernen. Dass Freude ohne Leid nicht möglich sei, das brachte mir meine Mutter bei. Sie koppelten an jedes neue Wissen ihre hämischen und brennenden Bemerkungen. Sie brannten mir mit jedem Schritt, den ich auf eigenen Füßen machte, mit ihren Kommentaren, die immer abschätzig waren, Schuld, Scham mit ein. Ich hatte kein Bedürfnis nach Bewertungen, das hat kein Kind. Ich hoffte nie. Ich hatte schließlich den Reflex gelernt, dass ich mich immer schämen musste und mich schuldig fühlen, wenn ich was neues für mich fand. Die Scham und Schuld war immer mit enthalten, wenn sie, wie Sprungrichter beim Springreiten und wie die Punktrichter beim Eiskunstlauf, mit ihren Augen meinem Tun zuschauten und mich dabei beobachteten. Sie richteten bei jedem meiner Schritte. Die Eltern waren meine Kampfrichter. Egal was ich auch tat. Nichts dabei blieb von ihnen ohne eine Wertung. Und jede ihrer Noten trieb Scham und Schuld in mich. Denn jede Wertung war ein Tadel. Und nichts war gut genug, dass sie mich dafür lieben konnten. Ich war nicht gut genug. Selbst Einser in der Schule waren nichts. Sie waren eine Note. Sie waren sehr gut, aber dennoch keine Liebe wert. Doch nicht dafür. Das war doch schließlich das, was sie erwartet hatten. Das war doch schließlich das Mindeste. Es gab nichts, das sie liebevoll an mir betrachten wollten. Sie hefteten an alles Schuld und Scham, doch wieder nicht das beste, die Liebe selbst, erreicht zu haben. Ich war Versager ohne Ende, wie jedes Kind, das nur bewertet wird.

Das Buch der Noten, das meine Mutter hält. Tabellen und Statistiken, beinhaltet Maschinenwissen, die Noten über mein Verhalten. Den Kodex ihres Wissens. Ohne Gefühl und ohne Mitleid für ein Kind. Im Grunde ist dieses Buch das Buch der Grausamkeit, ein Buch des unbewussten Hasses. Der unbewusste Hass verortet alles, bewertet jedes Kind nach gut und böse. Doch war mein gut sein niemals gut genug, dass ich ein Lob für mich bekommen hätte. Für mich. Sie sahen nie ein Kind. Sie sahen die Maschine. In mir sah niemand etwas anderes, das ohne wenn und aber, lobenswert und liebenswert gewesen wäre; sie konnten nichts von mir in Ruhe lassen. Sie konnten mich nicht nicht bewerten. Sie ließen niemals los. Deswegen hält sie dieses Buch so fest an sich gedrückt. Als Schatz in ihren Händen. Sie hält den Schatz, ihr Buch. Das ganze Leben aufgezeichnet. In Zahlen und Bewertungen, in Bildern und Tabellen. Die Listen mit den Kosten, was ich dem Vater Unterhalt gekostet habe. Wo zwanzig Jahre Unterhalt gelistet sind, was er für mich an Geld ausgeben musste. Das sollte ich mir anschauen. Was ich ihn alles doch gekoste hatte. Das Buch der Bücher ist die reinste Qual. Nichts ist umsonst und bleibt von meinen Eltern ohne Wertung. Nichts ist geschenkt, das lernte ich, dass alles etwas kostet. Dass es nichts ohne Wertung gibt. Dass alles, was ohne Wertung ist, nichts ist. Dass alles, was es ohne Noten und Benotung gibt, dass alles, was es frei zu sehen, zu erfahren gibt, dass alles ohne Noten, nichts ist, vollkommen ohne Wert. Dass das nichts wert ist, was man Liebe nennt und mit Gefühl bezeichnet.

Dafür kann ich mir nichts kaufen, sagt er.

Alles muss seinen Preis haben. Es gibt nur Leiden, wenn ich lerne. Dass Lernen Schmerz bedeuten muss und keine Freude. Ich lernte nicht, dass Lernen Freude machen kann. Ich lernte nicht, dass ich auch Freude lernen kann. Dass man auch Freude lehren kann. Ich lernte nicht, dass Leben lieben heißen kann. Ich lernte nicht das Leben lieben. Sie ließen mich mein Leben nicht genießen. Ich konnte mich nicht lieben, ich durfte nicht, sie lehrten keine Liebe. Sie lehrten Leben zu bewerten.

Sie lehrten nicht, dass Leben, Liebe lehren kann. Weil Liebe keine Wertung hat. Die Liebe war nichts wert. Mein Vater konnte sich dafür nichts kaufen. Sie lehrten mich zu tadeln. Ich lernte nicht zu loben. Ich lernte, dass doch im Grunde alles wertlos sei und somit tadelnswert, dass alles eine Wertung haben müsste. Ich lernte mich entmutigen. Sie lehrten das, dass alles ohne Wertung feige sei, und überhaupt nichts wert. Nichts was sie lobten. Sie kannten nur den Tadel. Dass sie mich damit mutlos machten, das wussten sie gar nicht. Ein Kind wird nur entmutigt, wenn alles, was es lernt, an einen Schmerz gekoppelt ist und nie an sein Empfinden, dass es sich freuen kann, wenn es was lernt. Ein Kind wird so entmutigt, wenn alles was es doch empfindet, nur an den Schmerz gekoppelt ist, den es empfindet, wenn es lernen muss, dass sein Verhalten selbst bewertet und benotet wird. Sein sein, so sein, wie es gerade ist. Und jedes Kind ist anders, denn jedes ist sein eigener Mensch. Doch danach richtete sich bei mir zu Hause niemand. Die Eltern richteten sich nach Eltern und Erwachsenen. Sie richteten, wie Punktrichter. Für meinen Vater war ich Pferd, für meine Mutter Eiskunstläufer. Für sie drehte ich mich um mich selbst, und machte Rittberger, Toeloop, Doppelaxel. Für meinen Vater sprang ich über Hindernisse, Oxer, Wassergraben. Für ihn war ich ein Pferd, das Fehler machte, Balken riss und mit dem Vorderfuß beim Sprung über den Wassergraben ins Wasser trat. Für sie eine adrett angezogene Puppe auf dem Eis.

Ich war ihr Pferd auf Eis, ich hatte immer kalte Füße. Ich fror bei meinen Eltern fürchterlich. Es war die reinste kalte Hölle. Ich lächelte dabei. Denn Schmerzausdruck wird niemals gut bewertet und benotet. Nur Lächeln, Leistung und die Schmerzen schlucken. Den Hass und alles Leben runterschlucken. Der Eisprinz mit den Pferdeaugen, starr vor Angst, der sich bei jedem Fehler schämt und schuldig fühlt versagt zu haben.

Gefühlte Wut verbrennt die Noten und die Zeugnisse, die Last der toten Sterne, die Orden aus den Kindertagen. Gefühlter Zorn verbrennt die Schuld ein ungeliebtes Kind zu sein, unwert für eigene Gefühle. Die Wut verbrennt mit Zorn, nichts wert zu sein. Die Wut des kleinen Kindes widerspricht, Misshandlungen und Grausamkeiten zu vergeben.