Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der teilnahm? Einer, der helfen wollte? War es ein einzelner? Waren es alle? War noch Hilfe? Gab es Einwände, die man vergessen hatte? Gewiß gab es solche. Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht. Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte? Wo war das hohe Gericht, bis zu dem er nie gekommen war? Er hob die Hände und spreizte alle Finger.
Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.
Franz Kafka Der Prozeß
Wir müssen alle einmal sterben, sagte sie.
Als er dann beschreibt, wie er seine kleine Tochter öfter „bespaßt“ hat, merken die Prozessbeteiligten auf. Vom Kinderarzt und von einer Hebamme war er darauf hingewiesen worden, dass heftiges Schütteln für das Kind lebensgefährlich ist. Doch K. hob es mit beiden Händen in die Luft und schaukelte es hin und her. Der Kopf des Kindes baumelte „hoch und runter“, so K. Das sei aber kein Schütteln, sondern ein Spiel gewesen, darauf beharrt der Angeklagte. Auch als er es aufs Bett warf aus zirka zehn Zentimetern Höhe oder mit der Kleinen im Kinderwagen über einen Acker fuhr, damit sie durchgeschüttelt wurde – das alles habe dem Baby gefallen, sagt der junge Mann. Der Prozess wird fortgesetzt.
Aus: Christian Rost, Süddeutscher Zeitung vom 14.12.2015, Mann schüttelt sein Baby fast zu Tode – und stellt das als Spiel dar.
Zum Spaß gequält zu werden, vernichtet Scham und Schuld. So wird die Wut des Kindes aufgerieben und ausgelöscht. Denn eben nichts von Scham und Schuld hat mich von meiner Mutter angesprungen, als sie mich aus dem Fenster hielt.
Wie ich den Kopf der Schwester zwischen meine Hände nahm und sie dann hochhob und mich freute. Wie ich sie zwischen meinen Händen baumeln ließ, wie eine Glocke ohne Ton.
Als sie mir immer wieder meine Freude nahm, mich ärgerte, und niemand das zur Kenntnis nahm, als niemand mir geholfen hat. Dass niemand da war, der das merken konnte, dass sie mich nur zum Spaß so quälen wollte. Dass niemand das verstand, ernst nahm. Dass sie mich nur zum Spaß so lange quälen konnte, dass ich auch nicht mehr wusste, wer ich war und wo ich war, und überhaupt. Es drehte sich tatsächlich alles in mir um und Schwindel kam. Und nichts davon war für mich Spaß. Doch niemand hat das angehalten, und meine Mutter hat nicht aufgehört. Nur ihre Art hat sich im Lauf der Jahre dann verändert. Sie hob mich nicht mehr hoch. Sie hielt mich nicht mehr aus dem Fenster. Sie redete vom Schwarzen Mann und von den Geistern und den Toten. Sie redete vom ins Wasser gehen, und später stellte sie sich tot.
Denn wer nicht hören will, muss eben fühlen.
Belehrung sollte Strafe sein.
Das wirst du auch noch merken, glaube mir!
Denn Beifall war auch Hass. Wie wir dann später Ringelreiher tanzten wie die Puppen, als würde uns das freuen und ergötzen.
Du wirst schon sehen, was jetzt kommt!
Es ist wie ein Verhängnis, dachte er, selbst in ihren besten Augenblicken bringen diese Leute es fertig, mich zu verletzen.
Stendhal Rot und Schwarz
Ich durfte doch nicht klagen und nicht klagen lernen. Ich kam nicht mehr zur Reue durch. Zum Reuen hatte ich gar keine Zeit. Sie torpedierte mich mit einer Art Belehrung nach der anderen. Ich konnte zwar so tun, als würde mich im Grunde gar nichts mehr erschrecken, doch in mir war ein Zorn und eine unbestimmte Wut, die nie aufhörten mich zu bohren zu löchern.
Hass, der nicht aufgibt, jemand anzutreiben und zu tadeln und zu jagen. Von einem Opfer wieder nur zum nächsten, und gleich zum übernächsten Sündenbock. Ununterbrochen mit mir selbst und mit der Welt im Krieg.
Versuch die Hoffnung zu zerstören. Versuch das mal! Aus reiner Eifersucht heraus. Hoffnung auf Besserung zerstören. Ohne zu wissen, was das heißt, als Kind nicht länger mehr begehren und von sich selbst nichts mehr zu wünschen wagen.
Ich wünschte mir dann von mir selbst nichts mehr.
Doch nimm die Eifersucht mal weg. Was bleibt dann noch? Was bleibt noch von Gefühlen für die Mutter in mir übrig?
Ich schämte mich ihr Kind zu sein.
Die Hand wurde blitzschnell zurückgezogen; aber Julien dachte nun, es wäre seine Pflicht zu erreichen, daß diese Hand nicht zurückgezogen wurde, wenn er sie berührte. Der Gedanke, eine Pflicht erfüllen zu müssen und sich lächerlich zu machen oder sich vielmehr einem Gefühl der Unterlegenheit auszusetzen, wenn es ihm nicht gelang, vertrieb auf der Stelle jedes Vergnügen aus seinem Herzen.
Stendhal Rot und Schwarz
Wovon ich immer wieder träumte, wenn ich in ihre Augen sah. Ich schämte mich ihr Kind zu sein. Und meine Wut auf sie verschwand.
Ich schämte mich und meine Wut auf sie verschwand.
Mit friedlich sein. An Weihnachten, besonders dann, wenn alle heilig sind und alle heilig werden wollen, nur friedlich sein, schön friedlich für die Mutter tun und friedlich sein für meinen Vater, damit nur ja nichts aus dem Ruder läuft, damit nicht noch etwas passiert. Er schreit, sie weint. Wenn Mutter weint, mein Vater auf die Lippen beißt. Und ich muss friedlich sein, sonst wird es noch was geben.
Wann hört das endlich auf?
Aus Spaß die Freude zu zerstören und dabei friedlich tun zu müssen. Um Quälerei als Spaß so zu verklären. Um friedlich sein und friedlich tun nur immer wieder zu erklären.
Das spielte ich mit meiner Schwester dann. Aus Todesangst hielt sie den Mund und blieb genauso kalt und friedlich, stumm, so wie ich selbst das hatte lernen müssen.
Wenn meine Mutter mich kopfüber aus dem Fenster hielt.
Jetzt sei gefälligst still und wieder froh; und sag schön gute Nacht!
Die Doppelung. Sie kam ein zweites Mal, weil sie mich nicht mal wimmern lassen wollte.
Wenn du nicht ruhig bist, dann kommt der Schwarze Mann. Hörst du! Jetzt kommt er schon. Ich kann ihn fragen, ob er wieder geht. Doch nur, wenn du ganz ruhig bist! Und endlich schläfst!
Ihr Gehen und mich liegen lassen mit der Angst. Ich war ihr nicht mehr böse, wenn sie ging. Ich konnte nicht mehr böse auf sie sein. Ich dachte an den Schwarzen Mann, an meine Schuld und dass ich ihn mit meinem ungehorsam sein, allein ins Haus geholt hatte, und dass sie jetzt tatsächlich mit ihm sprach.
Soll ich mit ihm jetzt reden? Dann musst du aber ruhig sein. Sonst geht er nicht mehr weg!
Die Drohung, dass er ewig bleibt. So also hat sie das gemacht.
Ich habe nie gewagt, sie nach dem Schwarzen Mann zu fragen. Was sie mit ihm geredet hat.
Ich hatte Angst vor Geistern, vor Grausamkeit und wusste nicht, dass diese Angst, in Wirklichkeit die Angst vor meiner Mutter war. Dass ich aus Angst und nie aus Liebe so zu ihr war, wenn sie dann kam. Sie lächelte, und ich war voller Dank und Scham.
Die Koppelung: Nur sie vermag mich zu beschützen und zu quälen, und auch nur dann, wenn ich nicht schlafen kann. Denn meine Mutter hatte nie genug. Sie konnte nie genug von meinem friedlich sein bekommen.
So drückte ich die Wut ihr gegenüber schließlich aus. Selbst taub für die Empfindung irgendeiner Scham und Schuld. Selbst unempfindlich für die Angst und Qual, in meiner Schwester Augen. Nur unbewegt und ohne Wut wird ein Kind taub für seine und der andern Qual.
Die Koppelung. Ich hielt mit beiden Händen meine Schwester fest und hob sie in die Luft. Ich drückte ihr die Ohren zu und ihren Kopf. So presste ich die Wut aus meinem Kopf in den der Schwester rein.
Wenn es ihm nach langer Träumerei gelang, seine Überlegungen weiterzuspinnen: Ich könnte also, sagte er sich, einen Tag des Glücks erwirken, danach käme wieder ihre Unerbittlichkeit, weil ich ach! Sowenig Macht habe, ihr zu gefallen, aber dann hätte ich alle Mittel erschöpft, ich wäre ruiniert, für immer erledigt …
Welche Sicherheit kann sie mir geben, bei ihrem Charakter? Ach! Schuld an allem ist mein geringes Verdienst. Meinen Manieren wird es an Eleganz fehlen beim Reden werde ich schwerfällig und eintönig sein. Großer Gott! Warum bin ich Ich?
Stendhal Rot und Schwarz
Wut auf Beschämung gut verstecken, sowie die Freude danach auch.
Sie verstehen es nicht ein Herz zu rühren, ohne es zu verletzen.
Stendhal Rot und Schwarz
Mein ungehalten sein war Mutters schlimmster Fluch. Mit ihm nahm ich mir später jede Freude selber weg. Alles ins lächerliche ziehen dann, wie ich das einst beschämt, so auch erleben und erlernen hatte müssen. Mir jede Äußerung und Tat, verlachen und beschämen. Ich machte das wie sie, ich nahm mir selbst und jedem andern seinen Spaß, die Freude weg, und merkte das nicht mal.
Verärgert, ärgerlich, verstimmt und aufgebracht, stets ungehalten und entrüstet, andauernd aufgeregt. Mein stetes ungehalten sein.
Was ich von meinem Vater so gut kenne, der ungehalten war, von einem Augenblick zum nächsten. Dass dieses ständige verärgert sein, sich ärgern und gehässig werden, auf jeden Laut hin oder auf die kleinste Störung, auf jede Art Veränderung, dass das im Grunde doch von unsren Müttern kam, die uns aus Spaß ganz einfach quälen hatten können.
Nicht wütend werden dürfen auf die Mutter. Nur friedlich sein als Kind.
So wie mein Vater war, und wie ich selbst auch später immer wieder war. Und meine Mutter wie ein Engel, die lachte und daneben stand. Die Heilige und der Berserker. Die Heilige, bei Vater immer Nachsicht übend.
Deshalb war meine Kinderwut auf sie so lange nicht für mich zu finden. Ich hatte keinen Anhaltspunkt. Mir fehlte jede Orientierung, als sie mich immer wieder fliegen ließ und stürzte und kopfüber aus dem Fenster hielt. Mir fehlte später meine Freude gänzlich. Nur Panik, ein Gespür für die Gefahr und Angst war da, und später Härte und die Kälte, die sie mir angedeihen hatte lassen. So war ich dann zu meiner Schwester auch; besonders eifersüchtig. Was sie an Freude zeigen konnte, das nahm ich weg.
Weil sie aus Angst und nicht aus Liebe zu mir kam.
Sie quälte mich und tat mir weh und lachte darüber. Das war, als würden alle immer wieder mich verlachen und verlachen und verlachen, verharmlosen, und nur verachten.
Zum ersten Mal bemerke ich, dass die Gefühle mich verändern und dass ich davor keine Angst mehr haben muss.
Die Filmrisse: Mein ungehalten sein mit ungehalten sein andauernd korrigieren und auslöschen.
Ein Filmriss nach dem andern, besoffen jede Nacht, wie ich im Grunde ungehalten war und ungehalten sein auslöschen musste. Wie tief das in mir saß, wie ungehalten meine Mutter war und wie sie dauernd doch mein ungehalten sein verschrie. Wie ich das später selbst nicht mehr ertrug, mein ungehalten sein, wie Vater und wie Mutter, zu allem und vor allem ungehalten sein.
Die Filmrisse. Weil ich dem ungehalten sein nicht mehr entkam, mir selbst nicht mehr und meinen Eltern, dass ich mich selbst mit diesen Rissen dann, schließlich beschützte. Nur nicht auf Mutter wütend sein. Die Mutter der Erinnerung. Nichts tun, dass sie nicht wieder kommt. Nichts tun, damit sie wieder kommt.
Das ungehalten sein war mir verhasst. Der Widerspruch an sich. In mir. Ich will selbst ungehalten sein und kann es ohne Schuld und Scham nicht einmal sein. Ich widerspreche mir, rein innerlich, andauernd bis zum Schlaf. Bis in die Träume und den leeren Raum hinein. Weil mir das ungehalten sein der Mutter und des Vaters so verhasst gewesen ist. Denn wütend durfte ich nicht sein. Nie wirklich wütend auf die Mutter und den Vater werden.
Filmriss.
Vollkommen durchgeknallt und losgelöst, vollkommen ohne Schuldgefühl und Scham, genauso ungehalten sein, wie die, die mich bestraft hatten und selber dabei ungehalten waren.
Bestrafte schließlich andere, für das, was ich selbst tat. Bestrafte andere für mich. Doch wusste ich am nächsten Tag nichts mehr davon. Jetzt wieder nüchtern, schämte ich mich und fühlte mich ganz klein. In mir so eine Ungehaltenheit, die immerzu die Äußerung des Kindes kritisierte und mich ermahnte, zum nie mehr ungehalten sein.
Ich sollte Ungehaltenheit für immer in mir löschen. Auf meine Mutter und den Vater, nicht länger wütend werden. Erst meine Wut, mein tiefer Zorn auf meine Mutter, löste mein ungehalten sein, die Ungehaltenheit auf mich und jeden anderen, auch wieder auf.
Erst wenn ein Mensch bereit ist, die Gefühle des geschlagenen Kindes das er einst gewesen ist, zu fühlen und den Spott und Zynismus des Erwachsenen abzulehnen und zu verurteilen, hat er die Schranke zur Wahrheit überwunden. Und dann kann er auch nicht mehr zur Gefahr für andere Menschen werden.
Alice Miller Abbruch der Schweigemauer
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