Texte von Hugo Rupp

Machthunger

 

LEGGEWIE: Für mich besteht die besondere Untat darin, daß die Täter, meistens ja Eltern, Nachbarn oder Leute, denen man die Kinder anvertraut hat, deren vollständige Abhängigkeit ausnutzen.

VACHSS: Aber meiner Ansicht geht es dabei nicht um Abhängigkeit, sondern um Macht. Macht ist ein viel stärkerer, treffenderer Begriff.

Aus: Über das Böse, Andrew Vachss im Gespräch mit Claus Leggewie

Der alte Mann, mit wenig Haaren, einer großen Brille, der Turnlehrer. Der Lehrer, den ich mit sieben Jahren hatte, war niemals unfreundlich, der ließ mich einfach machen, wenn ich nicht gleich von Anfang an etwas begriff und mich nicht auskannte. Wenn ich nicht gleich auch das verstand, was er mir sagen und bedeuten wollte. Er ließ mich zuhören und dann auch nicht verstehen. Er ließ mich nicht versagen an mir selbst. Er ließ mich nicht verzweifeln. Er hielt mich hinten fest, er half mir hoch und unterstützte meinen Rücken. Er ließ mich nicht abstürzen. Er ließ mir Zeit, mir und den Beinen und den Füßen und den Händen. Er schimpfte mich nicht aus, wenn ich nicht gleich etwas kapierte und wenn ich etwas tat, für das mein Vater mich verflucht hätte.

Wovor ich doch als kleines Kind die größte Angst hatte, ich könnte den Kontakt zu meiner Mutter ganz verlieren.

Hing alles mit verlassen sein, verlassen werden zusammen. Die große Ungerechtigkeit: Sie wollten, dass ich böse für sie sei und niemals böse auf sie würde.

Ich habe eines nie vergessen, wie ich, da war ich 22 Jahre alt, an einer Ampel stand und einen kleinen Jungen gegenüber stehen sah, der sich nicht auskannte, der nicht mehr wusste, ob er gehen oder stehen bleiben sollte. Der kleine Junge trat auf der Stelle, dann etwas vor und dann zurück, und Autos mussten halten und blieben für ihn stehen. Er kannte sich nicht aus. Er war verwirrt und hatte Angst. Ich sah ihn an und hasste ihn dabei. Ich hasste seine Unentschlossenheit, sein Zögern und sein sich im Grunde davor fürchten, etwas jetzt falsches noch zu tun, vielleicht zuletzt auch noch zu stürzen. Ich spürte nicht sein hilflos sein.

Ich konnte mir nicht einmal selbst erklären, warum ich mit der Mutter nicht wegfahren wollte. Dass ich mit ihr nicht mehr allein in einem Zimmer sein wollte, schon gar nicht mit ihr nur in einem Bett. Ich konnte das doch nicht ertragen, wie sie mir immer näher kam und mich deswegen noch verabscheute. Als würde ich sie dazu zwingen, so neben mir zu liegen. Sie schreckte jedes mal zusammen, wenn sie mich an der Haut berührte. Sie hasste den Kontakt, normales sich berühren. Mit ihr in einem Raum, das konnte ich dann später nur ertragen, wenn ich andauernd hustete und schnäuzte, wenn ich vollkommen unbewusst, mir Gründe gab, dass sie nicht näher kommen wollte. Ich hasste ihre Kälte und Verrücktheit und ihr Schimpfen so, dass ich mich dafür schämte, sie immerzu mit Husten und mit Schleimen zu verjagen.

Die Zähne, knirschend in der Nacht, begreifen das Dilemma. Die Eltern, die so wenig wirklich Gutes taten, darf ein Kind niemals hassen. Wenn doch, dann tief verborgen, dann muss es aus der Angst heraus für sein Gefühl, in sich verbeissen, sein eignes Fleisch noch selbst bestrafen.

Deshalb verlor ich später in den Träumen meine Schlüssel, verpasste Flüge, Züge und vergaß die Jacken mit den Fahrkarten. Verlor die Handys und vergaß die Telefonnummern. Sie waren immer plötzlich dann verschwunden, wenn ich nach Hause fahren wollte. Wenn ich an meine Mutter wirklich dachte, wie sie zu mir tatsächlich war. Ich durfte doch den Anschluss nicht verpassen. Ich durfte den Kontakt nicht abbrechen. Ich hatte eine tiefe Angst davor, den Eltern einmal wenigstens zu zeigen und zu bedeuten, dass ich nicht gern zu ihnen fuhr, dass ich im Grunde meines Herzens, nichts mehr verabscheute, als so zu tun, ich würde gern nach Hause kommen.

Ich musste um Vergebung bitten, für meine Fehler, meine Sünden und mein Weinen. Ich musste um die Gnade meiner Eltern betteln. Um Gnade und Vergebung. Zu ihnen aufschauen. Sie anbeten. Sie ehren und lobpreisen, damit sie mir auch weiterhin erhalten blieben. Mit Gnädigkeit war ihr Erbarmen stets verbunden.

Mein Blick, mit dem ich den verirrten Jungen an der Ampel anschaute, das waren meine Eltern, wenn sie mich mit Verachtung straften, für meine Not auch Spott noch übrig hatten. Wie sie, bestrafte ich das Unglück eines Kindes und weidete mich noch daran. Zu keinem Mitleid fähig. Denn vom Bestrafen träumte ich. Wie Hungerphantasien. Ich hatte diese Träume. Als würde etwas in mir immerfort nach Strafe und Bestrafung dürsten, um davon irgendwann doch noch kuriert zu werden. Die Strafe als Belohnung. Belohnung meines Hungers. Ich konnte mir nicht mehr vergeben. Ich konnte nicht mehr aufhören mit Strafen und bestrafen. Ich musste mich dagegen wehren, nicht gegen meine Mutter und den Vater sein zu können. Ich musste mich geschlagen geben. Deshalb verabscheute ich diesen Jungen.

Wenn ein Kind hilflos, nur dafür bestraft wird, hört es selbst auf, auf sich zu hören. Es hört nur mehr auf Strafe und bestraft zu werden. Ein solches Kind wird später Strafe und Bestrafung, in jeder Auseinandersetzung mit sich selbst und allen anderen, erwarten und vergeben. Es wird die Strafe in der Not als Rettung noch versuchen und verbuchen. Das Leben und die Kindheit und die Liebe, die Einsamkeit und alles Fühlen. Das Leid und auch der Tod, kann alles dann zu einer Krankheit werden. Zur Strafe wird, Gefühle haben und Gefühle zeigen.

Belohnt wird nur das Scheitern und Versagen eines Kindes. Belohnung für den Machthunger der Eltern.

Jetzt hab ich dich!

Der Turnlehrer bestrafte nicht. Er war damit der einzige, der keinem von uns Unrecht tat und keinem Schaden zufügte. Vielleicht hat seine Eigenschaft, die Freundlichkeit gereicht, um meine Anlage zur Freude und zur Freundlichkeit noch zu erhalten. Nicht alles, was mir strafbar erscheinen sollte, verdiente dann von mir bestraft zu werden. Es war tatsächlich etwas Ungestraftes in mir übrig und das genügte für den Widerstand, gegen die Strafen und die Schuldzuweisungen. Vielleicht war das genug, um mich noch selbst zu fragen, warum es von den Eltern ausschließlich Schrecken und Bestrafung gab, statt Liebe, Trost und Zärtlichkeit. Dass Vater Macht ausübte, wusste ich schon lang.

Was meine Mutter aber tat, von Anfang an, das konnte ich sehr lange nicht verstehen. Sie stillte ihren Machthunger. Durch Schrecken und Bestrafungen erhielt sie ihre Macht. Deswegen ließ sie mich nicht ganz verhungern. Sie stillte zwischendurch doch immer ein klein wenig meinen Durst, den Hunger nach der Liebe. Ich habe die Gefühle meiner Qual als kleines Kind, hervorgerufen durch abrupte Wechsel, ihr plötzliches Erkalten und Absterben, für mich nie ganz begriffen.

So lernte ich, in Ödnis nach der Liebe suchen. Für Ödnis mich noch zu bedanken. Die Mutter und ihr Machthunger.

Ich sollte ohne sie nichts sein und ohne sie nichts fertigbringen. Wie sie mir meine Legohäuser umbaute und wenn wir Halma spielten, Wege baute und immer wieder einen Rat noch gab, doch diesen Zug zu machen. Wie sie mir in der Schule meine Bilder umgestaltet hatte und neue Bilder einfach malte, die ich dann als die meinen vor den Lehrern auch vertreten musste, wo doch ein jeder diese Täuschung, Lüge sah. Dass alles ihre Handschrift tragen sollte.

Jetzt wird mir auch die unterdrückte Wut wieder bewusst, die ich nie zeigen hatte dürfen, wenn ich da neben ihr gesessen war und immer noch was extra für den Kindergarten zeichnen, malen und schon schreiben hatte müssen. Wie ich nur unentwegt schön schreiben und noch schöner schreiben sollte, dabei tat mir doch alles weh, weil meine rechte Hand versagte und versagen wollte, ich war doch umgelernter Linkshänder. Sie trieb mich gnadenlos zur Fleißarbeit. Sie ließ mich niemals eher aufhören, bis meine Hand dann schließlich zitterte. Jetzt merke ich auch wieder, mit welchem Widerwillen ich das tat, der Mutter dabei zuzuhören, wie sie mich immer weiter trieb, ohne ein Mitgefühl. Nur immer weitermachen, weitermachen, fleißig, fleißig sein. Umsonst soll nichts geboren werden. Was Freude macht, gehört bestraft. Deshalb verkrampfte ich und biss mir auf die Zähne und schwindlig wurde mir. Ich wollte nichts für meine Mutter machen.

Und hinter allen Träumen kommt jetzt ein Kind zum Vorschein, das seine Hände öffnet und nach außen stellt und etwas zeigt. Dass ich nichts in den Hinterhänden mitführte. Dass ich nicht mit falschen Karten spielen konnte. Dass ich nicht eine böse Absicht hatte. Dass ich das niemals war, ein böses Kind. Dass es das gar nicht gibt, als böses Kind geboren.

Was siehst du mich so an, sagt sie. Führst du vielleicht etwas im Schilde!?

Sie hat mir etwas zugetraut, wovon ich keine Ahnung hatte. Ich wusste nicht einmal, was das bedeutete, etwas im Schilde führen.

Sie führte Krieg um ihre Macht, um ihren Machthunger zu stillen.

Ich sollte nicht von ihr wegkommen und selbstständig werden. Ich sollte mich auch nicht davonstehlen. Ich sollte an sie denken müssen, wenn es mir gut ging und ich Freude hatte. Die Macht und ihr Begriff davon. Solange ich an sie nur dachte, solange war sie frei und unschuldig. Solange hatte ich auch Angst vor ihr.

Du wirst noch an mich denken, sagt sie.

Ich dachte immer nur ans wegkommen. Wie komme ich nur wieder weg. Wie komme ich da nur so schnell wie möglich wieder raus. Wie komme ich so schnell wie möglich wieder in den Kindergarten. Ich wollte selbst am Sonntag hin. Sie hat mich ausgelacht, dass ich mir nicht merken würde können, wenn Sonntag sei, man folglich nicht in seinen Kindergarten gehen würde können.

Ich denke heute voller Abscheu und voll Zorn an sie. Sie hatte keinerlei Respekt, nicht einen Funken Anstand, für Liebe und für Kindheit übrig.

Sie hatte auch versucht mir meine Kindergärtnerin und meinen Kindergarten mies zu machen, indem sie mich mit Fleißarbeiten piesackte. Die Finger brannten und die Hände taten weh, vom vielen schneiden, ausreißen und dann zusammenkleben.

Sie sagte nur: Da wird sich deine Kindergärtnerin aber freuen. Dafür wirst du doch sicher wieder einen Goldenen Stern von ihr bekommen.

Sie machte meine Kindergärtnerin zur Ursache der Schmerzen. Ich habe diese Infamie niemals begriffen. Als ich dann in der Schule immer besser wurde, dann hörte ich kein Lob von ihr, niemals hat sie etwas von mir gewürdigt, was ich allein und ohne sie vollbracht hatte.

Schnäuz dich noch einmal ordentlich, bevor du unser Haus verlässt, sagt sie.

Kontrolle über jeden Atemzug und jede Art Bewegung. Auslöschung des Zufalls und allen kindlichen Betragens. Die Mutter hatte unbeschränkte Macht, denn sie beherrschte alle Strafen. Das machte mich so krank, weil ich nicht wütend werden konnte. Machthunger wird ernährt von unterdrückter Wut. Im Spiegelbild der Mutter erkannte ich mich schließlich selbst wieder.