Ich komme von der Schule, und Mutter sagt, dass Vater mit mir reden möchte.
Was ist denn los, frage ich schon ängstlich.
Das sagt er dir dann selbst, sagt sie.
Sie dreht sich um und geht in die Küche. Ich gehe durch das Schlafzimmer auf den Balkon. Ich überlege. Hat es mit Oma zu tun, die ich im Krankenhaus nicht besuchen will? Vor Oma war Vater im Krankenhaus und wäre beinahe gestorben.
Ich warte mit den Händen in den Hosentaschen, was Vater überhaupt nicht gern hat, weil es nach Faulenzen aussieht, und Vater mag keine Faulenzer. Ich höre Vater kommen. Ich erkenne ihn an seinen Schritten. Ich huste, damit er mich gleich hören kann, wenn er oben an der Treppe angekommen ist. Er geht zwei Schritte auf mich zu und bleibt dann stehen. Ich soll näher kommen, heißt das. Wir stehen jetzt vor unserem größten Spiegel, vor dem Bett der Eltern, in dem ich mich ganz sehen kann, nur meine Schuhe nicht, weil da eine Kommode ist, wo Mutter ihre Schals aufbewahrt. Zwischen dem Bett und dem Spiegel und der Kommode geht man vorbei auf dem Weg zum Balkon. Jetzt kommt auch Mutter dazu. Vater räuspert sich, dann lächelt er und sagt, dass Oma gestorben ist.
Heute vormittag um 10Uhr. Sie hat nicht leiden müssen. Es hat ihr viele Schmerzen erspart, dass sie doch endlich sterben konnte. Es war für sie eine Erlösung. Ihr Kopf war zum Schluss so klein, dass ich sie beinahe nicht erkannt hätte, sagt er.
Ich schaue in den Spiegel.
Ich sage nichts.
Ich würde sie mir an deiner Stelle nicht mehr anschauen, sagt er zu Mutter.
Ich schäme mich.
Du musst nicht zur Beerdigung, sagt Vater.
Ich bin zehn Jahre alt.
Ich geh schon hin, sage ich.
Du musst da nicht hin, sagt er.
Als wäre ich eine Enttäuschung.
Wegen uns musst du nicht hin gehen, sagt Vater.
Früher
Du musst sie jetzt besuchen gehen, sagte er. Sie wird nicht mehr nach Hause kommen, sagte er. Sie hat so abgebaut, in nur zwei Wochen, sagte er. Der Tod steht ihr ins Gesicht geschrieben, sagte er.
Vielleicht geschieht ein Wunder, und sie wird wieder gesund, sagte Mutter. Sie würde sich so freuen, sagte sie, wenn du sie besuchen kommen würdest. Wenn sie dich noch einmal sehen könnte, sagte sie.
Ich kann nicht hin.
Später
Enttäuschung in den Träumen: Ich finde meine Züge nicht. Die Zeiten stimmen nie. Die Flüge gehen immer anders ab. Nie finde ich den Ort. Nie weiß ich eigentlich, wohin ich gehen, fahren, fliegen soll. Der Ort ist falsch, die Beine machen nicht mehr mit, ich friere fest, der Boden schief, und eine zähe Masse, die mich hält. Ich finde meine Schlüssel nicht und die Adresse ist unleserlich. Ich finde nicht mehr heim. Ich komme nicht zurück. Ich finde mein Zuhause nicht. Ich weiß nicht, wo ich lebe. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich schaue aus dem Fenster, und auf der Straße gehen keine Menschen. Ich bin an einem Ort, wo keiner lebt, wo ich ausschließlich bin und sonst niemand. Ich komme nicht mehr heim. Ich finde meine Heimat nicht. Das Haus ist weg. Die Straße leer. Die Sonne scheint, das Haus ist weg. Ich sehe eine Lücke. Das Haus ist nicht mehr da. Sie haben Omas Haus schon abgerissen.
Früher
Sie machen ihm doch Angst, hat meine Großmutter zu meiner Mutter gesagt. Wenn sie ihm solche Geschichten erzählen.
Mutter hatte mir vom Sterben einer Frau erzählt, die frisch am Blinddarm operiert, Blumenwasser getrunken hatte und nicht mehr zu retten gewesen war. Sie hatte den Pfarrer angefleht, dass sie nicht sterben wolle. Sie hatte den ganzen Gang, das ganze Krankenhaus zusammen geschrieen. Ich will nicht sterben, ich will nicht sterben, hatte sie gerufen, immer wieder, hat meine Mutter gesagt und dabei geschaut, als erwarte sie etwas von mir. Nur was?
Sie machen doch dem Jungen Angst, hatte meine Großmutter gesagt.
Später
Nur weinen darfst du nicht, sagte meine Mutter. Sonst merkt deine Oma, dass etwas nicht stimmt und dass sie vielleicht sterben muss. Wenn du weinen musst, dann brauchst du nicht mitzukommen.
Ich durfte nichts verraten. Nicht traurig und nicht wütend sein. Ich sollte das niemals vergessen.
Nicht weinen! Hörst du mich!? Jetzt ist es aber gut. Hör endlich auf damit.
Ich hörte Mutter mit Vater im Wohnzimmer reden. Ich belauschte, was sie sagten.
Sie hat heute wieder gefragt, wann sie nach Hause kommt, sagte er.
Und was hast du gesagt, fragte sie.
Dass ich es nicht wüsste.
Ich hielt mein rechtes Ohr gegen die Wand.
Was hat sie noch gesagt, fragte sie.
Sie hat geweint, sagte er.
Was hast du dann gesagt, fragte sie.
Sie möchte doch so gern nach Hause, sagte er.
Sie weiß nicht, dass sie sterben muss, sagte sie.
Der Fernseher lief.
Was hat sie noch gesagt, fragte sie.
Ob jemand die Jalousien im Laden heruntergelassen hat, sagte er.
Das konnte sie mit dem wehen Arm schon lange nicht mehr tun, sagte sie.
Sie macht sich Sorgen wegen der Kunden, wenn sie nicht da ist, sagte er.
Ich könnte das doch machen, sagte sie.
Das lässt du schön bleiben. Du mischst dich da nicht ein. Das will ich nicht, sagte er.
Hat Sie deswegen etwas gesagt, fragte sie.
Nein, sagte er.
Hat sie nach dem Jungen gefragt, fragte sie.
Nein. Sie ist ja die meiste Zeit nicht bei Bewusstsein, sagte er.
Ich war nicht auf der Beerdigung meiner Großmutter. Ich ging an diesem Tag zur Schule. Als die Totenglocke läutete, wusste ich, dass das wegen meiner Oma war. Ich schaute aus dem Fenster und fühlte mich schuldig. Ich hatte sie enttäuscht. Für immer, dachte ich, und nichts würde das noch jemals ändern können. Ich bin nicht hingegangen. Ich habe sie nicht besucht. Sie hat nach mir gefragt, und ich habe mich nicht gemeldet. Sie hat nach mir gerufen, und ich habe nicht darauf reagiert. Ich habe sie allein gelassen. Ich habe meine Oma enttäuscht.
Du musst jetzt nicht wütend werden. Wenn jemand Grund dazu hat, enttäuscht zu sein, dann ja wohl wir.
Ich durfte nicht enttäuscht sein. Dabei hatte ich allen Grund dazu. Doch das fiel niemandem auf. Niemand meinte es ernst mit mir. Sie wollten, dass ich mich zusammenreiße. Dass ich hingehe und wie sie Lügen erzähle und schwindle und nicht weine und nicht traurig bin. Sie wollten, dass ich mich nicht ärgere, dass Oma sterben muss. Sie wollten, dass ich nicht wütend werde, wenn Oma stirbt. Sie wollten, dass ich hingehe und nichts tue und brav bin und schweige. Dass ich wie immer die Wahrheit verschweige. Das ich nichts tue, das mein Gefühl verraten könnte. Ich durfte kein Gefühl verraten. Ich durfte nicht mal traurig sein, wenn meine Oma sterben würde. Ich sollte wie die Eltern sein. Mit vorgehaltener Hand, nur flüstern und andeuten, nie etwas wirklich und tatsächlich sagen, nur einmal kurz und schmerzlos Unglück feststellen und dann schön weiter; mach endlich Schluss mit Trübsal blasen. Nie etwas mit Gefühl. Ich musste mein Gefühl verraten, indem ich davon nichts verraten sollte. Sie wollten vom Gefühl nichts wissen. Sie wollten davon nichts vernehmen.
Das ist die größte Ablehnung, die ein Kind schmerzhaft fühlen kann. In Wirklichkeit wird nämlich hier die Liebe selbst verhandelt, als Unfähigkeit dafür. Unfähig selbst zu lieben.
Sie machten meine Liebe fest, wie sie das immer schon getan hatten. Sie knüpften daran immer nur Bedingungen. Nicht weinen, heißt in Wirklichkeit nicht lieben. Nicht wütend sein, bedeutet doch genau dasselbe. Enttäuschen durfte ich. Das durfte ich tatsächlich. Sie zwangen mich doch unentwegt zu irgendwelchen Sachen. Sie zwangen mich dazu, doch dort und dorthin, hin zu gehen. Nur das und das zu machen. Doch zu der Oma gehen, das durfte plötzlich ich von ganz allein entscheiden.
Sie hatten mich noch nie gefragt.
Der Vater spricht, dann wird gefolgt, so war es für gewöhnlich. Es ist mir niemals in den Sinn gekommen, warum sie mich doch plötzlich fragten, warum sie mir tatsächlich die Entscheidung überließen, ob ich zu meiner Oma gehen wollte oder nicht.
Ich sollte mich entscheiden. Entweder heucheln und nicht weinen, oder nicht hingehen. Ich sollte meine Liebe immer nur verraten. Das war mir doch nie klar gewesen. Ich musste mich verraten, mich und die Liebe zu meiner Großmutter; ich konnte gar nicht anders.
Sie hatte mir doch über meinen Kopf gestreichelt. Sie hatte mich beschützt. Sie hatte mich bestätigt. Sie war damit die einzige. Sie hat gesagt, und das meiner Mutter gegenüber, auch vollkommen klar gestellt, und ohne wenn und aber: Sie machen ihm doch Angst.
Die Oma hätte meine Angst gesehen, wenn ich zu ihr ins Krankenhaus gegangen wäre. Sie hätte alles doch genau erkannt. Sie hätte doch sofort an mir gesehen, dass sie hier stirbt und nicht nach Hause kommt. Ich konnte doch vor ihr nicht lügen. Sie war doch meine einzige gewesen, die mein Gefühl ertrug, die mich auch damit liebte. Bei Oma musste ich mich nicht verstecken. Bei meiner Oma musste ich nicht lügen. Sie hat das nie verlangt.
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