Texte von Hugo Rupp

Künstliche Liebe

 

Erinnern wir uns, in welcher Weise sich die Affenbabys auf ihre Stoffmütter stürzten und sich an sie klammerten. Fast alle menschlichen Babys eilten ebenfalls zu ihrer Mutter, sobald sie zurückkam. Sie lächelten und klammerten sich eng an sie. Verlief der Weggang der Mutter etwas ungeduldig oder schroff, schmiegte sich das Baby fester an sie, wenn sie wiederkam. Waren sie während der Abwesenheit der Mutter sehr unsicher, schienen diese Kinder ihre Reaktion auf sie zu testen. Sie wollten eine zusätzliche Rückversicherung: Sie waren froh, die Mutter zu sehen, doch war die Mutter glücklich, ihr Kind zu sehen?

Deborah Blum Die Entdeckung der Mutterliebe

Das Peinigende sind die Bedingungen und die Voraussetzungen, dass ich was fühlen muss, was meine Mutter mag. Erfüllungen. Dass ich etwas erfüllen muss. Wie bei einem Test, in der Schule später. Dass ich zuerst etwas beweisen muss; Gedächtnis, guten Willen, mein Verhältnis zu Vater, Mutter, Vaterland, zu Gott. Das Peinigende war, gehorsam das zu fühlen müssen, was gar nicht wirklich war, nur was die Eltern von mir wollten.

Gefühle ahnen. Wieder neu bestimmen und somit unablässig fleißig sein. Mich selbst so überwachen, so treu sein und treu bleiben.

Wie lässt sich das verstehen und aufhören!? Zwanghaft der immer Bessere zu sein und immer zwanghaft besser sein zu müssen?

Wie ehrenhaft etwas berühren, ohne Gefühl.

Wie sie mich so anfasste, ohne Gefühl. Wie ich so unberührt in ihrer Nähe immer wieder war. Wenn sie dann auftauchte, ohne Gefühl. Und ihre Augen dennoch lächelten. Wie sie mich ohne Zärtlichkeit anfasste. Ohne Gefühl, was unverständlich für mich war.

Was unternehmen ohne Gefühl. Ohne Gefühl etwas betrachten.

Pornographie ist so etwas. Gefühle darstellen und mit Gefühlen spielen, ohne dabei etwas zu fühlen. Nur die Gefühle vorspielen. Immer was spiegeln, was so aussieht wie Gefühle, aber gar kein Gefühl beinhaltet. Ein Lockmittel zum Zwang: Gefühle zu entdecken und aufzubrechen und zu erwecken.

Klinisches Interesse und Wissensdurst, nach Wissen, Daten, Fakten: keine Liebe.

Es trifft nicht ganz zu, was Hannah Arendt nahelegt: daß das Böse im Banalen angesiedelt ist. Es hat vielmehr seine Wurzeln darin, daß die menschlichen Möglichkeiten pervertiert, daß Menschen ohne wirkliches Selbst sind. Hannah Arendt kritisierte den Eichmann-Prozeß, der Eichmanns Handlungen aus seinem bösen Charakter heraus zu erklären versuchte. Dem hielt sie entgegen, daß es sich nur um einen »tödlich normalen« Bürokraten gehandelt habe, der nicht wußte, was er tat. Sie hat nicht die äußerste Perversion unserer Zeit gesehen, daß Menschen so auftreten können, als hätten sie Gefühle.

Arno Gruen Der Wahnsinn der Normalität

Ich hatte kein Mitleid mit meinen Eltern. Ich hatte schließlich Selbstmitleid; wie sie. Niemand kann Mitleid mit jemanden haben, der einen quält und immer wieder quält. Das ist ja das Perverse, was sie mir immer wieder beibrachten, Gefühle für sie aufzubringen, obwohl sie grausam zu mir waren. Die Heuchelei in Reinkultur. So tun, als hätte man Gefühle.

Die Bitterkeit darüber, daß man ausgerechnet selbst abtreten muss – wobei das Fußvolk, das man jahrelang mit seinen Ideen ernährt hat, weiterleben darf, das verkraftet man schwer. Manchmal denkt man gegenteilig darüber, man liebt die Leute ja, aber man hat sie in all ihren Schwächen, Fehlern, Eitelkeiten durchschaut – und sobald man die Kontrolle über seinen Weltschmerz verliert, sagt man ihnen auch, was man von ihnen denkt, und man sagt es ihnen genau und beharrlich mitten ins Gesicht, weil man nicht mehr die Zeit hat, sich anzuschauen, wie sie schon wieder den gleichen Fehler wiederholen.

Christoph Schlingensief Ich weiß, ich war’s

Wie ich das ausgestellte Leiden hasste, dies aufgesetzte und herausgeputzte, mit diesem Aufsatz arroganter Einzigartigkeit. Genauso wie die Mutter litt, wie in den Opern, im Theater. Das plakative Leid, das überhaupt kein Mitgefühl besitzt, nur Selbstmitleid durchleuchtet und durchläuft und nur mit dem so Dargestellten spricht und redet, redet, singt und lacht; als gäbe es doch nur sich selbst.

Ich hatte kein Mitleid mit meinen Eltern. Niemand kann Mitleid mit jemanden haben, der einen quält. Was ich auch nie verstanden habe, weshalb mir immer wieder eine Körperhälfte so weh tat. Weil ich Mitleid mit meinen Eltern so annahm, als würden mir die gleichen Teile meines Körpers jetzt weh tun, wie vor Jahrzehnten vorher meinen Eltern.

Mein Selbstmitleid verhinderte, dass ich mir Hilfe nicht als Hilfe merken konnte. Ich wusste nicht, wie sehr mir in der Schule mein Banknachbar geholfen hatte. Ich wusste nicht, wie mir die Zuneigung dann später immer wieder fehlte. Wie gut das tat und wie mir doch damit geholfen worden war.

So tun, als ob was hilft. Was Opfer von den Tätern übernehmen. So tun, als hätten sie Gefühle. Das sichert Überleben. So tun, als ob. Die Spielregel befolgen: Im Spiel so tun, als ob. So tun, als ob, was für ein Kind doch nie ein Spiel gewesen ist; nur Ernst.

Nie ernsthaft widersprechen. Denn jeder Widerstand und Schmerz und jede Leidens- und Missfallensäußerung, wurde von meiner Mutter gleich verbannt. Von jedem Schmerz und Widerstand, wendet sich Mutter ab. Sie ging. Sie geht. Sie dreht sich und geht weg, wenn ich nicht das tue, was sie gerade will. Wenn ich nicht gleich verstehen kann, was ich tun soll. Wenn ich nicht wenigstens so bin, als würde ich ihr grundsätzlich doch recht geben und zustimmen, wird Mutter böse, wütend und verschwindet.

Es war mir niemals möglich, ihr einmal glaubhaft nur zu widersprechen. Ihr einmal nur zu widerstehen, ohne dass sie vor mir verschwand. Auf Widerspruch wird sie ganz automatisch böse, wenn ich nicht gleich verstehe und nicht gehorsam werde.

Als mich mein Vater noch mit 16 Jahren so zusammenschlug, da schaute meine Mutter zu und weinte leise, sagte kein Wort, und meine Schwester, sechs Jahre alt, saß neben ihr. Sie ging nicht weg. Sie konnte das Bestrafungsritual, die Foltermaßnahme des Vaters und meine Äußerungen dazu, nur ertragen, weil ich nichts tat, nichts äußerte, nur da stand und mich zusammenschlagen ließ. Ich hätte mich tatsächlich stumm umbringen lassen, und meine Mutter hätte nichts dazu gesagt. Ich widersprach nicht ein einziges Mal. Das ist der Grund, warum die Mutter blieb und die Erniedrigung, Zurschaustellung, des stummen Leidens, auch ertragen hatte können. Wenn ich nur einen Mucks getan hätte, dann wäre sie davon, und auch noch vorwurfsvoll. Sie ist ja weggegangen, schon wegen eines kleinen Ton des Leidens. Dass meine Mutter meine Schmerzen nicht ertrug, dafür gab ich mir doch die Schuld. Dass ich verwundbar war, war meine Schuld in ihren Augen. Die Schrecken der Medusa.

Du sollst nicht fühlen, und nur so tun, als ob. Die Faustregel.

Weil nichts sonst Macht des Vaters/Täters so sehr sichern kann. Weil nichts sonst Mutter auch als Opfer und als Heilige erhalten kann.

Die Faustregel der Eltern ist: Du sollst nicht selbstständig empfinden! Erst als Erwachsener kannst du so tun als ob.

Später, wenn du erwachsen bist, kannst du doch tun und lassen, was du willst, sagt er und sie.

Ich konnte später dann so tun, als würde mich was aufregen. Ich konnte später auch so tun, als würde mir was nahe gehen. Doch war im Grunde nur der Hass und die Verachtung mein Gefühl, auf alles und auf jeden, von dem ich wusste, dass es tief aus mir kam und immer dann zum Vorschein kommen wollte, wenn jemand wirklich traurig war, sich wirklich freuen und hemmungslos noch weinen konnte.

Es bleibt nur Selbstmitleid, wenn man Gefühle anderer gar nicht begreift, an sich bestraft. Und nur so tun, als würde man jemanden lieben.

Jetzt weiß ich auch, was das tatsächlich war, was mich so rasend bei den Eltern machte und was mich später auch so furchtbar aufgeregt hat und so wütend hatte machen können. Das immer nur so tun, als hätte man Gefühl. Das immer nur so tun, doch niemals wirklich etwas dabei fühlen. Das niemals sich frei fühlen.

So also lernte ich, so tun, als wäre ich geliebt worden. Ein Teil aber von mir, der wusste das, dass das nicht stimmt: Aus Angst, mich zu verlieren.

So tun, als würde ich geliebt werden, war also doch mein Selbstmitleid.

Aus Selbstmitleid hält man Vergebung wach, so tun, als ob man doch geliebt würde, so tun, als ob. Als würde man selbst die noch lieben können, die einen immer nur verraten und geschlagen hatten.

So tun, als würde man geliebt werden, bedeutet auch, die Illusion nicht aufgeben und das vergeblich darauf warten, dass sich noch alles ändern kann und eine Kindheit neu entstehen.

Wer mit dem Selbstmitleid und dem Narzissmus sich selbst konfrontiert, begegnet dabei immer seinen Schmerzen, der eignen Unterwerfung, unter das Selbstmitleid und unter den Narzissmus seiner Eltern.

Ich wich später, mit Abscheu und Verachtung jedem Spiegel aus, jeder Erinnerung, die unbewusst etwas für mich, was scheinbar völlig wesensfremdes und deshalb widerwärtiges, mir vorstellte. Ich präsentierte mich nur selbst. Und dieser Hass beschäftigte mich ununterbrochen, weil ich nicht wirklich wusste, was das war, was mich dermaßen aufregte, am anderen. Was dieses Wesen war, dem ich nicht ohne Hass begegnen konnte.

In höchster Not so tun, als würde man dabei gar nichts empfinden.

Und dann begriff ich endlich meine Wut. Wie mich das Selbstmitleid der Eltern aufgeregt hatte. Aus Selbstmitleid hatten sie meine Liebe umgebracht und sich selbst dabei leid getan; und noch sich selbst beweint.

Narzissmus

Vor gut zehn Jahren, da lebte meine Mutter noch, und ich besuchte sie. Wir warteten auf meinen Neffen, der von der Schule kam, um mit ihm dann gemeinsam auch zu essen. Er kam, und ich begrüßte ihn. Er legte seine Tasche in den Gang und sagte nichts und setzte sich, schweigsam. Was ist denn los!? Er sagte nichts und schaute mich nicht an. Jetzt sag schon, was dir fehlt!? Er reagierte nicht und schaute nur geradeaus.

Dann steht er auf, und ich steh auf und fasse seine Schulter an. Was ist denn los!? Sag endlich, was los ist! Und meine Mutter in der Küche kocht und tut nur so, als würde sie nichts davon hören. Dann geht er in den Gang. Ich folge ihm. Du bleibst jetzt hier. Gleich gibt es Essen, sage ich. Wir haben schließlich nur auf dich gewartet.

Er fing zu weinen an. Jetzt fängst du noch zu weinen an, sage ich. Das ist ja wohl das allerletzte. Dann nimmt er seinen Schulranzen, hängt sich den Ranzen um und ist schon an der Treppe. Du bleibst jetzt hier, sage ich und halte ihn samt seinem Ranzen fest. Du bleibst gefälligst hier. Sonst haue ich dich die Treppe runter. Er zuckt und schluckt, dann lasse ich ihn los, und er geht weg. Er weint. Ich spüre das, auch wenn ich nur den Rücken von ihm sehe, wie er die Treppe, fast lautlos, hinuntersteigt. Die ganze Zeit blieb Mutter in der Küche.

Zwei Stunden später, nach dem Essen dann, ging ich zu meiner Schwester und beschwerte mich, über das Verhalten meines Neffen.

Drei Tage später sah ich ihn dann wieder. Ich schaute ihn geradewegs so an: herausfordernd und vorwurfsvoll, mich selbst bedauernd. Er senkte seinen Blick und schaute in den Boden. Wie ich als Kind in seinem Alter, dem Vater gegenüber stand, wenn mich mein Vater so fixiert hatte. Mit gleicher Angst. Und ich begriff im Grunde nichts von der Bestimmung zur Gewalt und dem Verbrechen, das ich an einem Kind begangen hatte, aus jenem Selbstmitleid heraus, das nur die Eltern schont und nie das Kind; denn ich bedauerte mich selbst, nur wieder mich. Ich litt doch unter seinem Blick, den er gen Boden hielt. Mein Selbstmitleid, das dachte nur, er richtet mich. Er tut mir weh.

Ich habe gedacht, daß ich nur umzukehren brauchte, und es wäre vorbei. Aber der ganze vor Sonne flimmernde Strand drängte sich hinter mir. Ich bin ein paar Schritte auf die Quelle zugegangen. Der Araber hat sich nicht gerührt. Trotz allem war er noch ziemlich weit weg. Vielleicht wegen der Schatten auf seinem Gesicht sah er so aus, als ob er lachte. Ich habe gewartet. Das Brennen der Sonne stieg mir in die Wangen, und ich habe gespürt, daß sich Schweißtropfen in meinen Augenbrauen sammelten. Es war dieselbe Sonne wie an dem Tag, als ich Mama beerdigt habe, und wie neulich tat mir vor allem die Stirn weh, und alle ihre Adern pochten auf einmal unter der Haut. Wegen dieses Brennens, das ich nicht mehr aushalten konnte, habe ich eine Bewegung nach vorn gemacht. Ich wußte, daß es dumm war, daß ich die Sonne nicht los würde, wenn ich mich einen Schritt von der Stelle bewegte. Aber ich habe einen Schritt gemacht, einen einzigen Schritt nach vorn. Und diesmal hat der Araber, ohne sich aufzurichten, sein Messer gezogen und es mir in der Sonne vorgezeigt. Das Licht ist auf dem Stahl aufgespritzt, und es war wie eine lange funkelnde Klinge, die mich an der Stirn traf. Im selben Augenblick ist der in meinen Brauen angesammelte Schweiß mit einemmal über die Lider gelaufen und hat sie mit einem warmen, zähen Schleier überzogen. Meine Augen waren hinter diesem Vorhang aus Tränen und Salz blind. Ich fühlte nur noch die Beckenschläge der Sonne auf meiner Stirn und, undeutlich, das aus dem Messer hervorgeschossene glänzende Schwert, das immer noch vor mir war. Diese glühende Klinge zerfraß meine Wimpern und wühlte in meinen schmerzenden Augen. Und da hat alles gewankt. Das Meer hat einen zähen, glühenden Brodem verbreitet. Es ist mir vorgekommen, als öffnete sich der Himmel in seiner ganzen Weite, um Feuer herabregnen zu lassen. Mein ganzes Sein hat sich angespannt, und ich habe die Hand um den Revolver geklammert. Der Abzug hat nachgegeben, ich habe die glatte Einbuchtung des Griffes berührt, und da, in dem zugleich harten und betäubenden Knall, hat alles angefangen. Ich habe den Schweiß und die Sonne abgeschüttelt. Mir wurde klar, daß ich das Gleichgewicht des Tages zerstört hatte, die außergewöhnliche Stille eines Strandes, an dem ich glücklich gewesen war. Da habe ich noch viermal auf einen leblosen Körper geschossen, in den die Kugeln eindrangen, ohne daß man es ihm ansah. Und es war wie vier kurze Schläge, mit denen ich an das Tor des Unglücks hämmerte.

Albert Camus Der Fremde

Kein Fremder mehr

Ich träume, dass ich mit dem Fahrrad fahre, da kommt ein Junge angerannt und rennt vier Stufen oder mehrere hinauf und hält was in der Hand, ein Brett oder ein ganzes Türfutter. Ich sehe, wie er wutentbrannt und völlig ausser sich, voll Zorn und Weißglut ist und mit dem Teil in seinen Händen gegen ein verschlossenes Fenster, einen Türladen, einen Verschlag hämmert und schlägt und Schweiß hat er auf seiner Stirn und seine Zähne sind zum Beißen fertig und ich schau zu, und plötzlich geht die Türe auf, ein anderer Junge kommt heraus, im gleichen Alter, wie ich selbst und dieser Junge voller Wut, geht augenblicklich zu dem Jungen hin und packt ihn, und der Wütende wehrt sich, doch ist der andere ganz einfach stärker, und ich schau zu und sehe, wie er jetzt mit einer Spritze, die aufgezogen ist, mit seiner andern Hand hält er das linke Handgelenk des Jungen fest, ihm diese Spritze bis zum Anschlag in den Arm so drückt und förmlich haut. Ich schreie, he und nein, ich schrei so laut, so laut ich kann, doch niemand hört mir zu, da ist gar keine Resonanz. Ich denke noch, das sage ich der Polizei, dann ist der Traum auch aus. Dann ist der Traum auch aus und ich bin atemlos, als hätte ich das Atmen immer wieder aufgehört. Als müsste ich mich so und alles andere auch noch im Schlaf betäuben und mich ruhig stellen. Ich kontrolliere mich und meine Furcht und meine Angst. Und alles ist in grau, nicht schwarz, nicht stechend weiß, die Farben waren grau, erhellt, als wäre alles durch die Sonne ausgebrannt, so ausgeschossen wie schwarz-weiß Bilder, die alt sind, schon Jahrzehnte alt, wie dieser Traum in mir; in mir gelagert war. Das Haus, die Werkstatt meines Vaters. Und ich. Der Junge mit dem Fahrrad und der Wütende, und der den Wütenden betäubt, der bin ich auch, der war ich schließlich auch. Sonst keine Menschenseele. Ich war mit mir allein. Ich und der Wütende und der den Wütenden betäubt, ich, alle Drei.

Ich sehe jetzt den Unterschied zu früher endlich ein. Ich war der Junge auch, der sich betäubt hat und die Wut. Ich war der Junge auch, der seine Wut betäubt hat, noch und noch. Ich war das und kein anderer. Ich, der sich die Betäubung aussuchte. Der seine Wut so abkühlte. Der sich so selbst betäubt hatte. Und damit selbst sein Leid.

Dass ich was Falsches mir beibrachte, indem ich mich betäubte. Als ich mir das selbst beibrachte.

Dass ich das schließlich selbst gewesen bin, der mich betäubt hatte. Mein Leid. Aus Selbstmitleid und Angst und um mein Leid und mein Gefühl dafür gleichwohl mit abzuschaffen. Mit einer Spritze, die mich betäubt und die mir Impfstoff einflösst, und mich gleich mit ansteckt. Leid impft man ein mit Leid, immunisiert mit Leid das Leid, indem man alle Schinderei vergisst, indem man sich selbst schinden lernt und lässt. Was Vater von mir wollte. Der Plan von der Abschaffung meines Leids und das der ganzen Welt. Dass nie mehr wieder was zum Vorschein kommt, nicht bis zum jüngsten Tag. Ich wusste nicht, dass man sein Leid und sein Gefühl und die Empfindung auch damit, nicht ohne den Verlust des Selbst abschaffen kann. Und dass ein Plan, der dies verfolgt, nur das Gefühl zerstört, für sich und jeden anderen. Deshalb löscht, wer sich unterwirft, die Empathie selbst aus; und die Empörung, Anteilnahme auch gleich mit. Die Stelle, an der ich in mein Handgelenk im Traum hineinspritze, war jene, an der sie mir als Dreijährigen im Kinderkrankenhaus in Wirklichkeit den TbC Test hinmarkiert hatten. Ich wartete auf das Ergebnis, voll Angst und Leid, vor dem alleine sein. Währenddessen war mein Vater in der Werkstatt, und meine Mutter hat sich für mich geschämt, wenn ich nur traurig schaute. Sie war mit mir im Kinderkrankenhaus. Das also habe ich dort immer wieder angesehen und gefühlt und was mich über alle Maßen schmerzte. Sie wollte weg, nur weg von mir und meiner Not. Ich musste mir doch einen Plan zurechtlegen und meine Leidenszeit beenden. Ich musste für mich etwas selber planen, um diese Leidenszeit und überhaupt die Warterei auf Leid endlich für mich auch abzuschaffen und auszumerzen. Die Eltern hatten das schon längst geschafft. Das sagte mir doch ihr Verhalten. Dass ich mit meinem Plan, mich selbst und damit meine Kindheit abschaffte, das wusste ich doch nicht.

Niemals kann man ein Kind verlassen, ohne sich selbst ins Verderben zu stürzen, niemals, das ist eine Regel, gegen die man selbst nichts ausrichten kann.

Peter Høeg Der Plan von der Abschaffung des Dunkels

Befreit von seiner Kindheit sich zu fühlen. Befreit zu sein, planmäßig frei. Befreit von seinem Kinderleid sich endlich so zu fühlen. Planmäßig ausgedacht, vollkommen logisch und zwanghaft. Befreit von seiner Kindheit und dem Leid sich selbst zu fühlen, das ist die Lebensregel und das Verderben, das aus der Auslöschung der Kindheit folgt; aus der vermeintlichen Befreiung. Befreit vom Leid, sich selbst zu denken und zu meinen und zu behaupten müssen, dann geht es immer nur so weiter. Denn meine Mutter konnte sich nur tot, befreit von Leid fühlen, wenn sie verschwand, wenn sie wegging, wenn sie sich einfach wegdrehte. Der Vater konnte sich befreit fühlen, wenn er mich schlug, verhörte, über mich herfiel, wenn er nicht lockerließ, wenn er den Herrn im Haus nur immer wieder spielte, wie Gott, der eignes Leid gar nicht ertragen kann, und wenn er Schwäche sieht, nicht nur weggeht, sondern wegbleibt. Ich konnte mich befreit fühlen, wenn ich wie Vater und wie Mutter später war. Dass ich das für mich selbst auch war, wie meine Mutter und mein Vater, das war im Grunde das Verderben. Dass ich voll Selbstmitleid, nicht wusste, was ich tat und was ich anderen und mir damit an Leid zufügte, von dem ich mich doch endlich, ein für alle Mal, absetzen hatte wollen.

Sich unterwerfen, bedeutet für ein Kind, sein Leid nicht länger annehmen, sich selbst nicht länger leiden und empfinden mögen; wie sehr man unter Grausamkeit, Bedrohung, Einsamkeit und seiner Angst davor, gelitten hat und insgeheim noch leidet, solange man sich selbst nicht zu erkennen gibt, als Urheber, Verteidiger und Unterdrücker von Gefühlen. Der Wiederholungszwang, sich selbst und andere zu unterwerfen, versteckt die Angst. Die ich als Kind weder benennen noch verstehen konnte. Ich würde doch an meinem Leid ersticken. Allein zu sein. Allein zu sein und daran zu ersticken müssen. Daher also kam meine Atemnot.

Um die Studie durchzuführen, baute das Laborteam das, was Harry Harlow als böse oder »Monstermütter« bezeichnete. Es gab vier von ihnen und sie waren Stoffmütter, die verrückt geworden waren. Jede von ihnen hatte einen weichen Körper zum Anschmiegen. Doch jede von ihnen war auch eine Falle. Eine war eine »schüttelnde« Mutter, die so gewaltig schaukelte, dass die Zähne und Knochen des Säuglings im Gleichklang klapperten, wie Harry sagte. Die zweite war eine Luftgebläse-Mutter. Sie blies komprimierte Luft mit solch einer Kraft gegen den Säugling, dass das Baby Harlow zufolge aussah, als ob es nackt sei. Die dritte war in einem Stahlrahmen verankert, der planmäßig oder nach Aufforderung nach vorne geworfen wurde und den Affensäugling vom Körper der Mutter wegschleuderte. Die vierte Monstermutter hatte stumpf geschlagene Messingnägel in ihrem Brustkasten versteckt, diese wurden plötzlich, unerwartet gegen das klammernde Kind gedrückt.

Und wie reagierten die Babys? Wenn möglich, klammerten sie sich fester an. Das war zumindest die Reaktion der kleinen Affen mit den luftblasenden und den schüttelnden Müttern. Die anderen Monstermütter konnten die Säuglinge erfolgreich durch die Kraft der Nägel oder durch buchstäbliches Abschütteln von sich entfernt halten. Doch diese Tierbabys kehrten zurück, sobald sie konnten, und umarmten ihre Mütter wieder. Immer wieder kehrten sie zurück, »Vertrauen und Liebe ausdrückend, als ob alles verziehen wäre«, schrieb Harlow. Das Experiment schuf in der Tat keine psychopathischen Affen. Es kreierte neurotische, ja, doch keine wahnsinnigen. Seine primäre Erkenntnis war vollkommen anders als das erwartete Ergebnis: »Kein Experiment hätte die Kraft einer beliebigen kontaktspendenden Mutter besser demonstrieren können, ihrem Säugling Trost und Sicherheit zu geben.«

Oder anders formuliert, kein Experiment hätte die Tiefe und Kraft der Abhängigkeit eines Babys von einem Elternteil besser demonstrieren können. Oder wie fürchterlich verwundbar diese Abhängigkeit ein Kind macht. Diese kleinen Affen wurden von ihrer Messingstachel-Mutter verschreckt – und trotzdem gingen sie zurück, um Trost zu finden. Sie mussten es, sie war alles, was die Äffchen hatten.

Deborah Blum Die Entdeckung der Mutterliebe

Die Mutter, die so tut, als hätte sie Gefühle. Das war gar kein Alptraum. Wie sie zu mir gewesen ist, wenn ich tatsächlich Schmerzen hatte, dann tat sie immer so, als würde sie mich auch verstehen. Sie tat nur immer so, wenn sie mir was erzählen wollte, wenn ich gerade Zahnweh hatte, beispielsweise, oder so einsam war und ohne Richtung war und ohne ein Gespür für eine Heimat, als ich so ohne Heimathafen war; trunkenes Schiff. Dann sagte sie etwas und lachte und verschwand gleich wieder.

Mein Leben mit der Mutter, die immer eine Maske trug, wenn ich sie doch in Wirklichkeit als Mensch gebraucht hätte. Als Mensch auch mit authentischen Gefühlen. Lebendig, nicht künstlich und nicht aufgesetzt und fremd.