Texte von Hugo Rupp

Immunität beschneiden

 

Plötzlich merkte ich, dass ich meine linke Gesichtshälfte ungern herzeigte. Die linke Backenseite war die Seite, die mein Vater schlug, wenn er mir Ohrfeigen gab. Er zwickte mich auch im Nacken, und schaute mich amüsiert dabei an. Ich schämte mich für meine linke Seite. Ich wusste nie, wie hoch, wie niedrig ich den Kopf halten sollte, wollte. Ich drehte ihn, ich wendete ihn hin und her, doch fand ich damit keine Ruhe.

Mein Vater zwickte mich mit zwei Fingern seiner rechten Hand, mit Daumen und zweitem Finger, kurz und bösartig, genüsslich und entspannt. Und später dann vor dem ersten Zahnarzttermin sagte er: Kurz und schmerzlos.

Das Klima der Gewalt, war immer Angst vor ihm. Ich wappnete mich unaufhörlich gegen Gewalt und Grausamkeit, die ich nicht beherrschen konnte, weil ich sie überhaupt nicht als solche wahrnahm. Sie beherrschte mich. Mit meinem Vater und meiner Mutter, die davon sprach, dass alles bald vorüber sei, am nächsten Tag vielleicht.

Ich lernte die Gewalt versöhnen. Ich lernte mich mit der Gewalt selbst trösten. Ich lernte mit Gewalt verhöhnen. Dem Schmerz beim Vergehen zu zusehen. Wie er vergehen würde. Doch hörte die Gewalt des Vaters niemals auf. Die Worte, seine Beschimpfungen hörten niemals auf. Ich lernte die Gewalt ertragen. Mir sagen, noch den Tag und dann den nächsten, wird es schon besser sein, womöglich ganz aufhören. Vielleicht am übernächsten Tag. Die Mutter tröstete mich mit ihren Vorhersagen, die niemals eintrafen. Die Hoffnung war vergebens. Sie hörte niemals auf mich zu versöhnen. Sie hörte niemals auf den Vater gut zu reden, die Schmerzen gut zureden. Nichts dazu sagen. Dem Vater ausweichen. Sie war ein Beispiel für die Unmöglichkeit der Trennung und Befreiung von einem gewalttätigen und zutiefst grausamen Menschen, ohne einen Schatten Mitgefühl für einen anderen. Sie war mein Vorbild dafür, mich mit dem Gedanken an Veränderung zu trösten. Nur mit dem Gedanken, doch niemals wirklich nein zu sagen gegen meinen Vater. Das Klima der Gewalt ist meine Atemluft gewesen, mit der ich bei mir zuhause atmen musste. Es gab keine andere Luft, nur diejenige, welche mein Vater gestattete zu atmen.

Ich dachte immer, mein Vater brauchte niemanden. Dass er mich nötig hatte um seine Wut und seinen Hass und seine Grausamkeit anzubringen, verstand ich nicht. Das konnte ich nicht wahrnehmen. Ich dachte niemals an die Grausamkeit. Ich dachte an die Schuld, den Vater wütend und zornig gemacht zu haben. Ich dachte daran, dass ich schuldig sei und mich auch schämen müsste, für meinen Vater. Für seine Äußerungen und sein Benehmen. Dass ich mich schämen muss, den Vater so gemacht zu haben. Dass er nur wegen mir gewalttätig geworden sei. Nur wegen mir. Dass ich der Grund für sein Benehmen sei. Von Anfang an. Dass Vater mich geschlagen hat, beschämt mich und und und, dass er sich dafür schuldig fühlt, wie er dann schaut und wieder schimpft und sich dann noch beschwert. Dass er mich schlagen hatte müssen, weil ich vor ihm weggelaufen sei. Ich war der Grund für seine Schläge. Der Vater wurde wegen mir brutal. Es gab für mich kein vorher sein. Den Vater kannte ich doch nicht. Er war doch für mich da. Ein Kind kann doch nicht wissen, dass es die Eltern vorher gab, dass es die Eltern auch als Kinder einmal gab. Ich dachte, ich hätte meinen Vater grausam gemacht. Die Mutter sagte das doch auch. Dass er sich so erschrocken hat, dass er doch so erschrocken sei. Ich schämte mich und übernahm die Schuld. Die Schuld für sein Verlangen nach der Grausamkeit. Die Schuld für sein Verbrechen an mir. Als hätte ich ihn aufgehetzt. Im Klima der Gewalt, versteht ein Kind nur schuldig sein, sich schämen für die Schmerzen und sein Leid, mit dem es nichts verhindern kann.

Im Klima der Gewalt versteht ein Kind die Welt, dass es Gewalt verdienen würde, weil niemand es beschützt. Wenn niemand die Gewalt beendet, behauptet dieses Kind für sich, an diesem Heim selbst schuld zu sein. Als hätte es die Eltern selbst dazu erzogen. Als hätte es sich seine Eltern ausgesucht. Es gibt sich selbst die ganze Schuldigkeit, für seine Eltern. Es übernimmt die Grausamkeit als etwas Unabwendbares für sich. Die Grausamkeit ertragen. Am Beispiel meiner Mutter. Für ein Verhalten büßen, das meinen Vater wütend macht.

Ich übernahm die Grausamkeit für mich. Das Wort in mir ertragen. Die Flüche meines Vaters, sein Schimpfen und Ausrichten, Verachtung nur für jeden. Ich nahm das Wort dann für mich auf. Ich achtete doch immer nur auf ihn, was er auch tat und wie er sich bewegt hatte, wie er mit Worten um sich schlug, im Kreise schrie, um seine eigne Achse. Wie Vaters Hass sich in mir drehte. Herum, herum, herum, mir wurde schwindlig von Gewalt, weil ich sie hören und über mich ergehen lassen musste. Der Schwindel später, das Gefühl, ist immer ein Indiz für Hass, dem man als Kind nicht widersprechen und nicht entkommen hatte können. Ich konnte mir die Ohren nicht zuhalten. Er hätte mir die Finger abgebrochen.

Du hörst gefälligst zu, wenn ich mit dir rede!

Das Klima der Gewalt ist lebensfeindlich, ist reines Gift für das Gefühl. Vergiftet nicht nur eine Kindheit, sondern kann ein Leben vollends mit Hass vergiften und verheeren. Im Klima der Gewalt ist Liebe unmöglich. Das Klima der Gewalt in einem Kind ist für die Eltern unsichtbar. Sie sehen keinerlei Gefühl. Sie haben keines, wenn sie ein Klima der Gewalt erzeugen und immer wieder neu erschaffen. Die Seele eines Kindes leidet und niemand sieht die Seele eines Kindes leiden.

Was mir als Kind den Atem nahm, war ihre Ignoranz, das Übersehen meiner, jeder Freude. Sein Schlagen meiner Lebensfreude und ihr Gebot, mich nicht dabei zu rühren.

Dreh dich jetzt um. Du kannst die Augen ruhig öffnen. Er steht nicht mehr herum. Er kann dich nicht mehr treffen. Er hört gar nicht auf dich und deine Angst vor ihm. Er kann sie gar nicht riechen. Er ist kein Hund. Er hat gar kein Gefühl. Er hat dich doch niemals begriffen. Nicht einmal ein Gefühl von dir. Er konnte deine Angst doch gar nicht spüren. Nicht einmal deine Furcht. Sonst hätte er doch irgendwann begriffen, dass man ein Kind nicht schuldlos schlagen, verletzen, beschneiden, töten kann.