Texte von Hugo Rupp

Heimweh

 

Ich will nicht mehr nach Hause, denke ich. Mir brechen alle Schlüssel ab. Die Schlüssel brechen und die Rohrzange, die Feile meines Vaters, die er mir dann wegnimmt. Die Züge kommen nicht mehr an. Die Busse fahren ohne Ordnung. Ich habe keine Möglichkeit die Abfahrtszeiten rauszukriegen. Das alles immer wieder in den Träumen aufgetaucht. Die Möglichkeit um heimzukommen, die gab es nicht mehr wirklich.

Heimkehr

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.

Franz Kafka

Was hatte ich für Heimweh und durfte es der Mutter niemals zeigen und auch dem Vater nicht. Was wollte ich nur heim und heim, und Mutter hat gelacht und auch mein Onkel hat gelacht und auch der Claus und die Sabine. Und auch die Lore hat gelacht. Heimlich hab ich geweint. Damit niemand mich sieht. Es ist doch schön, so schön am Bodensee und Mainau ist so schön und alles blüht und wächst und dieser Sonnenuntergang, das Wasser und das Haus direkt am See.

Was habe ich versteckt und nur versteckt die ganze Zeit, dass ich selbst nichts mehr davon wusste. Wie sehnlichst ich nach Hause wollte.

Raus aus dem Krankenhaus, bitte nach Haus. Deshalb hab ich der Mutter meinen Arm gezeigt. Den ganzen Tag doch immer wieder bin ich zu ihr hin und habe ihr den Unterarm gezeigt, wo dieser Arzt den Stempel hingemacht hatte. Schau, da ist nichts drauf. Da ist nichts. Kann ich jetzt nach Haus!? Dann kam die Krankenschwester und hat etwas von einem Sanatorium erzählt, wenn sich das doch bewahrheitet, dass ich die TbC doch habe, dann müssten sie mich wegschicken.

Was habe ich nach Haus gewollt, und alle haben mich nur angeschaut und nichts gesagt.

Nach Hause kommst du nicht.

Du kommst nicht mehr nach Haus, das habe ich gedacht. Was habe ich in mir herumgeschaut und bin die Treppen in mir rauf und runter, durch Matsch und Schnee und festen Sand, durch Treibsand und durch Dschungel und Reisfelder, die Killing Fields im Traum und habe nicht gewusst, was das jetzt soll. Warum träum ich von Vietnam, von Tunneln und Kambodscha. Warum träum ich von einem fernen Land.

Heimweh, das hatte ich als Kind und durfte es nicht vor den Eltern zeigen. Das Heimweh, krankes Herz, hat mir und mir zuhaus gegolten. Was wollte ich nach Hause! Niemand hat mich damit gemocht. Wie gerne wollte ich doch heim, und jeder hat mich ausgelacht. Ein großer Junge weint doch nicht. Der kann doch auch alleine bleiben.

Ich war doch immer nur allein. Was haben die mich ausgelacht, wenn ich den Mund verzog und meine Tränen kamen. Wenn Vater aus dem Haus gegangen ist. Was haben meine Eltern das gemocht, wenn ich den Vater nicht mehr gehen lassen wollte. Was haben die mich ausgelacht, dass ich mein Heimweh nicht vergaß.

Mein Heimweh kann erst jetzt entstehen.

Heimweh

Anders wird die Welt mit jedem Schritt,

Den ich weiter von der Liebsten mache;

Mein Herz, das will nicht weiter mit.

Hier scheint die Sonne kalt ins Land,

Hier deucht mir alles unbekannt,

Sogar die Blumen am Bache!

Hat jede Sache

So fremd eine Miene, so falsch ein Gesicht.

Das Bächlein murmelt wohl und spricht:

Armer Knabe, komm bei mir vorüber,

Siehst auch hier Vergißmeinnicht!

– Ja, die sind schön an jedem Ort,

Aber nicht wie dort.

Fort, nur fort!

Die Augen gehn mir über!

Eduard Mörike

Dass es immer wieder weh tut, wenn sich was ändert und verändert hat, dass es immer weher tat, wenn sich jemand abgewendet hatte, wenn jemand ging und mich alleine ließ.

Und ich vergass dann alles, was mein Kompass zeigen wollte. Und ich verlor ihn dann, deswegen wusste ich auch später gar nicht mehr, was Heimweh ist, was Heimweh war. Ich hatte ein Gefühl in mir und dann vergessen und verloren, das mir gezeigt hatte, was ich mir sehnlichst wünschte und gewünscht hatte.

Sie standen immer nur herum und haben mich belächelt. Sie haben immer nichts gesagt, mich angeschaut und sich dann abgewendet.

Mein Heimweh in den Träumen. Gefühl von Aussichtslosigkeit, Hilflosigkeit, nach Hause, in mir heimzukommen.

Ich ging durch ein Land, durch ein trauriges Land

Ich ging durch ein Land, durch ein trauriges Land.

Wie auf leerer Wiege ein Wiegenband

lag der blasse Fluß auf dem flachen Sand,

darüber aus nassem Nebelgewand

reckte die Weide die Totenhand.

Mir war so traurig. Ich starrte und stand.

Ich sah dich kauern am Wegesrand.

Einst hab ich dich und das Glück gekannt.

Du weintest wühlend und unverwandt,

und ich fragte dich: Ist das dein Heimatland?

Du nicktest, du nicktest wie traumgebannt …

Da hab ich dich wieder wie einst genannt;

doch dein Bild zerrann mir, dein Bild entschwand.

Die Pappeln kohlten im Abendbrand,

und der Tod ging rot durch dein Heimatland.

Rainer Maria Rilke

Und plötzlich wusste ich, dass wer als Kind verraten und verraten wird, nicht mehr nach Hause kann. Dass sich ein Kind selbst dafür Schuld noch gibt, zuteilt und zugesteht, dass das die Strafe sei für Widerworte und Versagen. Dass das verraten worden sein, ein Kind aus seiner Bahn wirft, seinen Kompass nimmt. Das fühlt sich an, wenn man nicht mehr nach Hause finden kann; sich immer zu verlaufen müssen meint. Als würde man vergessen haben, wo man wohnt.

Ich knie vor meiner Mutter. Ich bin auf meinen Knien und bitte, dass sie mich nicht wegschicken, nicht irgendwo allein hinschicken. Ich bitte meine Mutter und ich fasse ihre Knie an. Wie peinlich sie das berührt und wie sie sich jetzt schämt, vor dieser Schwester da in dieser Uniform, im Krankenhaus, für meine Heidenangst vor dem allein gelassen werden. Vor meinem und vor jedem Heimweh schämt sich meine Mutter. Zwei Jahre bin ich alt und bitte meine Mutter mich nicht wegzugeben. Und dieses kalte Schwein lächelt verlegen und pikiert. Ihr ist das peinlich, wie ich um mich bitte.

So eine Hoffnungslosigkeit hat mich damals ergriffen, dass ich Jahrzehnte später mich nicht hinknien kann, ohne mich vor einem Krampf im Oberschenkel zu fürchten.

Die Begabung, Heimweh nicht zu fühlen und nicht unglücklich zu sein, wenn mein Herz bricht. Die Begabung, nichts zu fühlen, wenn ich mich als Kind in Not befand. Die Begabung, nichts von dem zu sehen und zu hören, was so ein Kind beschreibt. Heimweh nur zu verleugnen.

Doch die Begabung war nicht angeboren. Nichts von dem, was meine Mutter mir beibrachte, war vererbt. Nichts ist davon in meinem Erbgut angelegt gewesen. Mich zu verleugnen habe ich gelernt.

Begabung, die Gabe meiner Mutter, das Lächeln über meine Schmerzen, wie lächerlich das sei, wie lächerlich für jeden Außenstehenden, wie unbegreiflich, solang ein Kind noch weint. Wie lächerlich das scheint, wenn jemand bittet, kniet und bettelt, weint.

the bluebird

there’s a bluebird in my heart that

wants to get out

but I’m too tough for him,

I say, stay in there, I’m not going

to let anybody see

you.

there’s a bluebird in my heart that

wants to get out

but I pour whiskey on him and inhale

cigarette smoke

and the whores and the bartenders

and the grocery clerks

never know that

he’s

in there.

there’s a bluebird in my heart that

wants to get out

but I’m too tough for him,

I say,

stay down, do you want to mess

me up?

you want to screw up the

works?

you want to blow my book sales in

Europe?

there’s a bluebird in my heart that

wants to get out

but I’m too clever, I only let him out

at night sometimes

when everybody’s asleep.

I say, I know that you’re there,

so don’t be

sad.

then I put him back,

but he’s singing a little

in there, I haven’t quite let him

die

and we sleep together like

that

with our

secret pact

and it’s nice enough to

make a man

weep, but I don’t

weep, do

you?

Charles Bukowski

Die Mutter und der Vater, alle eigentlich, gaben mir eine Botschaft immer wieder mit, ich würde ein Waschlappen sein, ein Jammerlappen, eine Memme, wenn ich mich nach Gefühlen richten würde. Als ich das noch ernst nahm und zeigen konnte, was ich fühlte. Sie hatten keinerlei Respekt vor meinem Heimweh, meinen Tränen, meinem Leben.

Das Heimweh ist ein Gefühl, dass wir nicht alleine sind, wenn keiner zu uns halten will. Dass man sich selbst als Kind etwas bedeuten kann, auch wenn das niemand sonst wahrnimmt.