Texte von Hugo Rupp

Heimsuchung

 

Ich habe doch überhaupt nichts damit zu tun, konnte ich nicht sagen. Die Zusammenhänge stellte doch Mutter mit Vater her. Ich, wenn ich nicht schlafen konnte, Mutter sagte dazu wollen, dabei war es kein nicht wollen von mir, das habe ich auch nie verstanden, was sie immer mit schlafen wollen redete, mir zeigte mit dem Finger, immer wieder, sie nannte das nicht wollen. Ich übernahm dann ihren Wunsch. Ich machte mich verantwortlich, wenn er dann kommen würde, der schwarze Mann.

Das Gute ist, dass mein Gefühl dafür, natürlich noch in mir erhalten ist. Die Wortgeschichten. Ihre Märchen. Wenn er kommt, nimmt er mich mit, dann wird mein Vater traurig sein, weil es dann keinen kleinen Hugo mehr zuhause gibt. Er kommt und sucht dich überall, er freut sich schon auf dich, wenn er von seiner Arbeit kommt und müde ist, und dann wird er dich nirgendwo mehr finden, sagte sie. Das wäre meine Schuld, weil ich nicht schlafen würde. Er schaut sich um und sucht dich, und er fragt sich, ja wo ist denn mein kleiner Junge, wo ist er denn, und dann findet er dich nicht, weil dich der schwarze Mann mitgenommen hat. Dann bist du weg, und dein Vater wird dann sehr traurig sein, wenn er dich nicht mehr finden kann, weil du ja weg bist, weil dich der schwarze Mann mitgenommen hat. Weil es dich nicht mehr gibt, deswegen ist dein Vater dann furchtbar traurig, weil er dich dann nicht mehr sehen kann. Wenn er nach Hause kommt, und du bist nicht mehr da, dann wird dein Vater furchtbar traurig.

Jetzt schlaf schön ein.

Ich hatte Mitleid. Ich wusste, wie das ist, nach jemanden zu suchen, immer nur vergeblich nach jemanden zu suchen. Ich wusste ja wie schlimm das ist, auf jemand warten, nur auf den Vater warten, und meine Mutter immer nur zu suchen. Ich hatte Kummer und Mitleid mit den Eltern.

Ich war das stumme Rumpelstilzchen für meine Eltern, für meine Mutter ganz besonders. Ich schluckte meinen Zorn und riss mich so damit zusammen, dass ich fast steinern wurde. Ich riss in mir, nach außen hin ohne Beweis dafür. Mein Mitleid und mein Kummer zerdrückten meinen Zorn und meine Wut. Ich konnte nicht mehr richtig atmen. Als käme Lehm aus meiner Lunge und den Bronchien, als zäher Schleim. Ich schleimte unaufhörlich und ich pfiff beim Ausatmen, als wären Vögel voller Angst in mir, unfähig wegzufliegen.

Du pfeifst ja aus dem letzten Loch, das sagte dann mein Vater.

Mein Mitleid und Verzweiflung, mein Schuldgefühl, verhinderten den Zorn auf meine Mutter. Ihre Geschichten. Ich fand nicht mehr zu mir zurück. Vater war plötzlich auch mein Opfer. Ich machte ihn mit meiner Wut todtraurig. Mein Vater würde unter meinem Zorn und meiner Wut nun Trauer leiden müssen.

Sie warf mich in die Löwengrube, wo ich mit Angst in meiner Not noch meine Wut bekämpfen musste. Ich war für mich mit meiner Wut der ärgste Feind, und Feind der Mutter und ganz besonders meines Vaters. Die Wut, die meine Not vergrößern sollte. Das dachte ich. Dass ich doch selbstverschuldet immer nur mit meiner Wut und meinem Zorn in einen Sumpf geraten würde, aus dem ich mich nie selbst befreien würde können. Dass meine Wut, mein Zorn die Welt des Vaters und der Mutter dann verdunkeln würde, mit Traurigkeit. Sie würden nach mir suchen und mich nicht finden können. Was immer ich in Zukunft tun würde, ich durfte niemals wieder wütend sein.

Der Geist, aus dem die Worte meiner Mutter waren, der fühlte sich für mich vollkommen unschuldig an. Der Geist der Sprache und der Geschichten meiner Mutter schien für mich vollkommen unschuldig. Sie schaute seelenruhig, sie sprach auch seelenruhig immer weiter. Sie redete mit mir, als wäre ich aus Ton, verformbar, biegsam und geschmeidig. Sie redete so sanft in mein Gemüt, als wäre das die Liebe, als wäre jedes Wort Verkündigung der Botschaft eines Geistes, der immer nur was Gutes will, der doch nur immer Gutes schaffen kann. Wir wollen immer nur dein Bestes. Sie wurde unschuldig und unsichtbar mit ihren Worten.

Ich rettete dann meinen Vater in vielen Träumen. Ich rettete ihn vor mir, nahm ihn in Schutz und schonte ihn. Ich weinte um den Vater.

Ich bog, wenn ich in mir Wut aufsteigen fühlte, in leere Gegenden, in dunkle Gassen ohne Licht ab. Ich rettete die Eltern vor mir und meinem Zorn, indem ich meinen Zorn verbarg.

Rumpelstilzchen

Ich vertraute ihren Geschichten. Ich musste sie einfach glauben. Und ich glaubte, dass sie eine Lösung für mich enthalten würden, dass irgendwo in ihnen für mich eine Notlösung enthalten sei. Denn Mutter erzählte mir immer irgendwelche Geschichten in meiner Not, wenn ich schrie und einsam war, allein, wenn ich hustete und wenn mir etwas weh tat, fing sie mit den Worten an, und redete und sagte, weißt du noch, wie du einmal hingefallen bist und dann, und weißt du noch wie dein Vater dann, und weißt du noch, und sie erzählte immer nur Geschichten. Mir tat etwas weh und sie erzählte Geschichten. In allen Geschichten wurden Kinder ausgesetzt und allein gelassen. In allen Geschichten mussten Kinder oder Kleine und Schwache etwas machen, vor dem sie Angst hatten. In allen Geschichten waren die Kinder still. In keiner einzigen Geschichte durfte sich jemand über die Ungerechtigkeit aufregen und wütend werden und zornig werden und schreien und kratzen und beißen und um sich schlagen.

Dass sie ausnahmslos aus der Sicht des Erwachsenen erzählt waren und tatsächlich gar kein Kind vorkam, das auch fühlen durfte, spürte ich, aber verstand es nicht wirklich.

Die Schuld war eine Strafe. Mein schuldig fühlen müssen, war eine Strafe für mich, für ein Gefühl, das ich nicht haben, nicht zeigen und nicht verstehen sollte, für meine Eltern. Die Schuld, mein Schuldgefühl, war für mich eine Heimsuchung. Ich fand nicht mehr damit nach Hause. Ich fand nicht mehr zurück zu mir, ohne den Zorn wirklich zu fühlen.

Es besteht für mich nicht der geringste Zweifel, dass den größten Einfluß auf die emotionale und charakterliche Entwicklung eines Menschen die ersten 3-4 Jahre haben, beginnend bereits im pränatalen Zustand. Um dies zu verstehen, muss man wenigstens ein mal mit den Gefühlen des kleinen Kindes, das man war, in Berührung kommen, mit dem Kind, das vielleicht in einem emotionalen Vakuum oder sogar im extremen Horror aufgewachsen ist, das ich Folter nenne.

Alice Miller, aus: Antwort auf einen Leserbrief, Sonntag 25 Februar 2007