Mein Traum vom Club der Männer. Fischerfreunde. Jünger. Fänger. Dichter. Ich will doch in den Club. Ich will doch in den Club der Menschenfischer. Ich will doch auch in den Verein. Ich will doch aufgenommen werden.
Sein Lachen über andere, wenn jemand einen Vorschlag machte. Wenn sie was sagte, oder sah, was er dann nur belächelt hat. Wenn ich am Tisch was sagte oder sah, wenn ich mit meinen Indianern sprach, mit meinen Mantschgerln spielte. Wenn ich was von mir gab, dann lachte Vater immer wieder.
Jetzt weiß ich auch, woher das kommt, mich selbst und andere nicht reden lassen. Mich immer nur verhören und verhöhnen.
Geburtstage nicht feiern. Die Schultüte nicht für mich kaufen. Als gäbe es ganz einfache Erklärungen. Für einen Tag lohnt sich so eine Tüte nicht. Geburtstage sind unwichtig. Ist so ein Tag, ein Tag wie jeder andere.
Hast du ein Geld, fragt er.
Ich hab kein Geld, sag ich und schaue in den Boden.
Ich muss mir alles hart erarbeiten, sagt er. Das merk dir ein für alle Mal. Im Leben wird dir nichts geschenkt.
Ich lernte langsam leiser treten.
Wenn ich alleine war, dann spürte ich die Angst. Allein und einsam war ich ehrlich.
Wenn du abhaust, schlag ich dich tot. Und wenn du mich verlassen willst, bring ich dich um, sagt er zu ihr. Und wenn du meinst, du kannst dich scheiden lassen, schlag ich dich tot!
Er regelt alles Finanzielle. Sie darf den Führerschein nicht machen. Sie darf allein nicht in den Urlaub fahren.
Mein leise treten lernen. Mit meinem rechten und dem linken Fuß zuerst. Schön immer wieder leiser treten. Wie lautlos Käfer atmen können. Wie Käfer in der Schachtel. Die Maikäfer. Die ohne Licht und ohne Schatten. Sie atmen und gehorchen stumm. In meiner Schachtel leises Scharren; und immer wieder kleiner treten. Angst nicht mehr zeigen lernen.
Niemand lässt Vater stehen. Niemand läuft ihm einfach davon. Niemand darf ihm so eine Angst einjagen.
Niemand. Hörst du! Niemand!?
Im Sommer, wenn er schwitzend von der Arbeit kam und schrie.
Er stellte ein merkwürdiges Phänomen fest: Dieser Traum erhellte durch sein Licht alles, was Wirklichkeit gewesen war, die Straßen, die Menschen, mit denen Margeret und er in Berührung gekommen waren. Und wenn dieses Licht nun das wahre Licht gewesen war, jenes Licht, das sie beide damals umstrahlte? Warum hatte er dann in jener Zeit die zwei Hefte vollgeschrieben mit einer kleinen Schrift, die ein Gefühl von Beklemmung und Ersticken verriet?
Patrick Modiano Der Horizont
Die Angst vor einer ungewissen Zukunft. Von ihm kam das. Versteckt hat er die Angst und seinen Zorn und seine Wut auf eine Mutter, die so was tut, wie meine und die seine einst. Er ist nicht dagewesen, als ich seine Hilfe brauchte. Für ihn war auch nie jemand dagewesen.
Ich fühlte mich wie ein Insekt, das auf der Oberfläche einer Scheibe eines Fensters sitzt, jetzt auf und abgeht und nach draußen schaut und immer wieder gegen diese Scheibe fliegt, nicht mehr nach draußen in die Freiheit finden kann, weil niemand ihm das Fenster öffnet oder kippt. Weil niemand ihm die Freiheit gibt, weil niemand Freiheit schätzt und lieben lehrte.
Ich hatte immer Angst, wenn ich nach Hause kam. Und wenn ich mich dann in der Zukunft mit mir selbst beschäftigte und mich mit meiner Kindheit konfrontieren wollte, bekam ich es gleich wieder mit der Angst zu tun.
Wie Angst vor dem Ersticken und erstickt werden. Beklemmung, Panik, und Entsetzen, und unbeschreiblich einsam sein. Und Furcht; Herzrasen, Stille, Leere. Dann Schwindel, Ohrensausen auch. Wie unter Wasser, oder unter einer Eisdecke. Wie hinter einem Vorhang oder unter einer Bank, vielleicht in einen Teppich eingewickelt, eingerollt. Still halte ich mein Herz und meinen Mund.
Aus welchem Grund hätten wir in unseren Leben diese unverwüstliche Sicherheit und dieses Gefühl von Rechtmäßigkeit haben sollen, die mir bei wohlgeborenen Menschen aufgefallen war, deren Lippen und Blick voller Selbstvertrauen zeigen, daß sie von ihren Eltern geliebt wurden?
Patrick Modiano Der Horizont
Mit einem Mal verstand ich das, warum noch jede Art Bekanntschaft und Begegnung, für mich nur immer ohne Zukunft war und ohne Aussicht auf Erlösung hatte bleiben müssen. Mein Horizont war immer nur begrenzt worden. Das hatte eine solche Angst geweckt, weil die Begrenzung des Gefühls, Empfindung einer Liebe, zur Gänze ausgeschlossen blieb.
Er war vom langen Gehen müde. Aber dieses eine Mal spürte er ein Gefühl innerer Ruhe und die Gewissheit, genau an den Ort zurückgekehrt zu sein, von dem er eines Tages aufgebrochen war, an die gleiche Stelle, zur gleichen Stunde und in die gleiche Jahreszeit, so wie zwei Zeiger sich auf dem Zifferblatt treffen, wenn es Mittag ist. Er schwebte in einer leichten Benommenheit und ließ sich einlullen vom Kindergeschrei in der Grünanlage und dem Gemurmel der Stimmen um ihn herum.
Patrick Modiano Der Horizont
Ich fühlte mich, nach einem Schlaf in einem Park, seltsam befreit und schwebend, doch ohne jeden Schwindel, weil ich mit Zorn und Wut auf meine Eltern eingeschlafen war. Die Angst danach war plötzlich weg, ich wusste aber nicht warum. Ich habe später immer wieder nachgedacht, was anders war, warum ich doch von einer Stunde auf die nächste, so was wie Zuversicht und sogar Hoffnung spüren und empfinden hatte können. Unfassbar wütend war ich auf den Vater und die Mutter da gewesen. Der Grund, warum ich keine Zukunftsangst empfand. Mein Selbsthass war gar nicht vorherbestimmt gewesen. Wie Zukunftsangst nicht festgeschrieben ist. Nur wenn in mir der Wunsch entstand, mich zu versöhnen mit den Eltern, kam wieder in mir Angst zustande.
Wozu versuchen, unlösbare Geheimnisse aufzudecken und Gespenster zu verfolgen, wenn das Leben hier war, ganz einfach in der Sonne?
Patrick Modiano Ruinenblüten
Wer artig war, der las von ihren Lippen und von ihren Augen ab. Wer artig war, der hatte Angst vor ihr. Am See, beim Schwimmen, überall. Ich trug die Liegestühle in den Schatten. Die Haut wie ein Vampir. Im Schatten, abseits lagen wir, von anderen entfernt. Ich wurde schließlich auch so lichtscheu und so lustfeindlich, berührungsarm und feindselig. Ich wurde auch so artig wie die Mutter, und lebensscheu, und allem Neuen, Andersartigem, und Fremdem gegenüber ablehnend. Um Zorn und Wut ihr gegenüber zu beherrschen.
Der Hunger nach Bestrafung, nach Sündenböcken, die nicht so artig waren.
Was mich so aufregt und so wütend machte, das war Erklärungswut aus Not gewesen. Weil ich mich meiner Mutter immer nur erklären hatte müssen, und sie hat so getan, als würde sie mich nicht verstehen können. Das hat mich schier um den Verstand gebracht. Deswegen formuliere ich wie ein Vertreter und wiederhole mich auch ständig. So gehe ich hausieren, damit mich jemand doch versteht.
Was ist denn jetzt schon wieder los!?
Wie jedes Kind, das artig ist, versuchte ich mich zu erklären. Mich und die Wut und meinen Zorn. Mich schlüssig und verständlich darzustellen.
Halt endlich jetzt dein ungewaschnes Maul!
Versuchte Fehler und Versagen zu erklären und Schuld, Gewalt und Heuchelei, Bigotterie, Hilflosigkeit, Verletzbarkeit und Empathie. Mein Leben lang erklärte ich mir Liebe und die Einsamkeit, Abwesenheit, Vertrauen, Treue und Verletzungen. Ein Leben lang versuchte ich zu wissen, was meine Not bedeutet und begründet hatte. Was meine Schuld ist und was nicht. Nur meine Mutter und mein Vater, die wollten davon nie was wissen und erfahren haben. Als hätten sie davon nichts mitgekriegt.
Beschimpft, hielt ich nach einer Art Erklärung immer wieder Ausschau und sehnte mich danach. Mich unentwegt bedroht zu fühlen. Das unentwegte Schimpfen, in einem einst beschimpften Kind, führt immer zur Erklärungsnot. Zur unentwegten Suche nach einer Strategie für artig sein. Um niemals Eltern anzuklagen.
Deswegen war ich kurzatmig, kurzangebunden und nervös, wie jedes Kind das fieberhaft nach einer Art Erklärung suchte. Ohne zu wissen, wo und wie. Sie gab mir niemals einen Hinweis oder Anhaltspunkt, wenn sie mich schimpfte und belog. Sie ließ mich lächelnd in die Irre wanken.
Steh nicht so dumm herum. Was schaust du denn so blöd? Das ist doch wirklich nicht zu fassen!
Mein Vater Ich und ich als Kind und all die andern Männer unsresgleichen, aus meinem Traum am Anfang, wie wir sind, wohin wir kommen wollen, was wir erhofften. Was wir beweisen mussten: Dass wir schön artig sind, um Liebe zu verdienen.
Sie ist recht geschickt darin, Spuren zu verwischen und sie so gut zu verwischen, daß es sein wird, als hätte es mich nie gegeben.
Patrick Modiano Hochzeitsreise
Hau endlich ab, rief ich in einem Traum. Hau endlich ab! Rief ich der Frau im Traum entgegen und hinterher, in tiefer Nacht, und voller Wut. Erst jetzt verstehe ich den Sinn. Was mir mein Traum zu sagen wagte. Was ich solange nicht erklären konnte. Warum ich immer Mitleid mit der Mutter haben sollte. Mitleid als Schutz, den ich vor langer Zeit, vor ihrem Irrsinn, in mir suchen hatte müssen. Ich habe nicht als Kind das, Hau ab!, ausgesprochen. Ich rief nichts gegen meine Mutter. Kein Zornausbruch, wenn sie voll blinder Wut mit ihrer Fratze vor mir lief. Auf und davon. Auf und davon. Sie sagte das und meinte das, was ich behielt, als hätte ich es selber einst gesprochen. Verhört hab ich mich, um zu überleben. Hau endlich ab, rief sie. Halt endlich jetzt dein Maul. Sonst werde ich dich abschlachten.
Nicht wütend und nicht zornig sein auf sie. Ich wollte doch, es wäre nie geschehen und gewesen, als hätte es mich nie gegeben. Ich wollte das nie wieder fühlen und vernehmen. Ich wollte das nie wieder von mir hören. Hau ab! Ich will dich nicht mehr sehen.
Die Konstruktion der Glaubenslehre, Erklärung eines Fundaments. Als hätten Lüge und Betrug nach Innen keine Wirkung.
Als hätte es mein Leid niemals gegeben. Erst jetzt verstehe ich die Konstruktion, als Hilfe für ein Überleben.
Beschuldigt man ein Kind, verleugnet man sein Leiden. Beschuldigt man das Kind verantwortlich zu sein, für die Gewalt der Eltern, und ihrer blinden Wut, wird Kinderleid unwichtig und zur Nebensache, zur Nichtigkeit erklärt. Mit der Beschuldigung des Kindes, verleugnet man sein eignes Kind, sein Leid und seine Kindheit gleichermaßen. Solange Unschuld nicht erreichbar scheint, wie Zorn auf eine böse Mutter, herrscht Nichtigkeit und die Verleugnung allen Kinderleidens. Das ist, als wäre man schon immer schuld gewesen. An Mutters Zorn und Vaters blinder Wut.
Wir haben Angst ohne Umschweife zu sagen, daß Kindesmißhandlung ein Verbrechen ist, weil wir die Eltern nicht beschuldigen wollen. Aber wir helfen niemandem, wenn wir ihre Blindheit unterstützen, weil wir auf diese Weise auch das Kind in den Eltern betrügen.
Aus: Das fühlende Kind Interview der Therapeutin Diane Connors mit Alice Miller für die Zeitschrift Omni Publishers International, März 1987
Ich hab als Kind und Jugendlicher nie gewagt, vor ihm davon zu laufen. Mein Vater stellte mich. Ich stand vor ihm. Dann schimpfte er mich aus, und ich blieb still. Dann lächelte er einen Augenblick. Dann schlug er zu, und meine Mutter weinte leise, und meine Schwester mit dazu. Ich wagte nicht zu schreien. Nicht zu klagen und nicht davon zu laufen. Ich blieb ganz einfach stehen, so wie ich es gelernt hatte. Ich wagte nicht zu fragen. Ich wagte nicht ein Wort an ihn zu richten. Ich fühlte keinen Zorn.
Ich wage erst im Traum Jahrzehnte später vor ihm wegzulaufen. Ich lauf davon und Vater holt mich nicht mehr ein. Ich lauf davon und schaue mich nicht um.
Hau endlich ab, ruf ich. Rief ich mir zu. Hau endlich ab vor seinen Schlägen und Beschimpfungen. Lauf endlich weg von deiner Mutter und der Schwester. Lauf endlich weg. Hau ab! Hau endlich ab, damit dich dieser Mensch nicht mehr erwischt. Hau endlich ab, damit dich deine Mutter nicht mehr fragen kann, was du dir heut zum Essen wünschst. Am Tag nach Vaters Schlägen. Hau endlich von den Menschen ab, die doch nur eines von dir wollen und sich wünschen: Du sollst schön artig sein, auch wenn du dabei stirbst und stumm vor Angst ums Leben kommst. Hau endlich ab, damit dich niemand mehr erwischt. Hau ab! Sie helfen dir ja nicht.
Solange ich nicht meine Wut und meinen Zorn auf meine Mutter und ihn kennenlernte, blieb ich nur unbeteiligt und so artig.
Doch unbeteiligt kann eine Kind sich nicht davon machen und seine Eltern nicht verlassen. Als Unbeteiligter versagten meine Beine. Ich konnte nicht davon rennen. Ich kam, selbst unbeteiligt, gar nicht mal auf die Idee. Ich konnte auch nicht richtig laufen. Nicht abhauen, das konnte ich. Weil ich die Schuld und die Verantwortung des Vaters und der Mutter auch nicht fühlen konnte. Weil ich sie nicht empfand. Ich war schließlich so unbeteiligt wie ein Toter; Scheintoter später, ein Geschlagener.
Um den Hunger erträglich zu machen, schliefen und lagen sie möglichst lange. Sie verloren den Zeitsinn, und wäre Brossier nicht zurückgekommen, so hätten sie das Zimmer nie mehr verlassen, nicht einmal das Bett, wo sie Musik hörten und sich nach und nach treiben ließen. Das letzte Bild der Außenwelt, das waren Schneeflocken, die den ganzen Tag am Fenster vorbeifielen.
Patrick Modiano Jugend
Was mir abging, abhanden kam und später selber fehlte, wonach ich Ausschau hielt und was ich nicht bei meiner Mutter und dem Vater fand, war Zärtlichkeit. Kein Gramm fand ich bei ihm und ihr. Nichts davon hing an ihm und ihr. Kein Gramm. Wie auch die Mutter nichts davon hergeben hatte können.
Geschlagene, das waren wir. Mit der Gewalt, in Wort und Tat, Geschlagene. Und so verloren wir, wie jedes Kind, das mit Gewalt geschlagen worden ist, die angeborene Fähigkeit zur Zärtlichkeit und zur Empfindung, nach und nach. Denn ein geschlagenes Kind kann sich nicht einfach lossagen, von seinen Eltern und Gewalt. Niemand kann revoltieren, wenn Zärtlichkeit in einem selbst nicht mehr verfügbar scheint.
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