Wie definieren Sie den Begriff „Kindesmisshandlung“?
Ich spreche von Kindesmisshandlung auch da, wo das Kind nicht respektiert, erniedrigt, verwirrt, betrogen und sexuell missbraucht wird. In allen diesen Fällen wird mir übrigens kaum widersprochen. Hingegen gelingt es mir oft nicht, Menschen zu informieren, dass das Schlagen der Kinder eine folgenschwere Misshandlung ist, weil dies seit Jahrtausenden praktiziert wird und als Erziehung zum Besten des Kindes bezeichnet wird. Fast alle heute lebenden Eltern wurden als Kinder geschlagen und mussten leider sehr früh von ihren Eltern lernen, dass diese Praxis als harmlos und richtig anzusehen ist. Dieses falsche „Wissen“ ist also in ihrem Gehirn gespeichert und bei vielen kaum zu entfernen. Das Gegenteil zu begreifen, würde bedeuten, ihre Eltern in Frage zu stellen, und das macht den meisten Menschen Angst. Sie erwarten Strafen, gerade WEIL sie als Kinder für die Wahrheit mit Schlägen bestraft wurden.
Aus: Ein Interview mit Alice Miller an Katharina Micada
Wenn Mutter singt und mit mir spricht. Wenn ihre Augen lächeln, und Vater mit den seinen Blitze schiesst. Wenn beide voller Tatendrang, dann geht es richtig für mich los. Denn ihre Heiterkeit ist voller Gift und bösartig. Wenn Mutter mit mir Halma spielt und wie sie lächelt, wenn ich in eine Falle tappe.
Wenn Vater mich berührt, dann schlägt er zu. Oder er drückt mir meine Finger platt, oder er fasst mich mit der rechten Hand am Nacken, wie einen Hasen oder eine Katze an.
Und dazu lachte er.
Wenn Mutter mich berührt, ist sie voll Argwohn, Abneigung und Zorn. Sie könnte sich die Finger schmutzig mit mir machen, sich anstecken, mit was. Wenn Vater meine Knie berührt, dann immer grob. Wenn Mutter mir was anzieht, reißt sie an meinen Armen und an meinen Beinen. Ich muss mich nach der Kleidung richten. Noch wachsen, kleiner machen. Brust raus! Nur jetzt nicht wieder atmen.
Wenn mich was kratzt, dann ist es meine Haut, die für den Stoff nicht gut geeignet ist. Wenn meine Schuhe, meine Socken, meine Kleidungsstücke nass werden, weil es geregnet hat, dann bin ich viel zu langsam unterwegs gewesen und habe viel zu spät mir einen Unterstand gesucht.
Nichts ist ein Spiel und fröhlich bin ich dabei nie. Doch sehe ich die Mutter immer wieder lächeln, voll Zorn und Wut. Sie spielen mir nur immer wieder Heiterkeit im Grunde vor, doch dabei sind sie gar nicht heiter. Weil ich mich täuschen soll. Denn beide können gar nicht zärtlich sein.
Deswegen stand ich hilflos da, weil ihre Heiterkeit selbst boshaft, giftig und gehässig war.
Warum vertraue ich mir selbst nicht mal?
Jetzt sind wir wieder gut!
Befürchtung um Befürchtung anhäufend, bis ich mir schließlich sicher bin. Wut, Zorn ist schuld daran, wenn Mutter böse ist. Sie meint es gut, das muss ich für mich denken.
„Das war vielleicht eine Mordsangst!“ sagte er; als er den Klang
dieser Worte hörte, schämte er sich beinahe. Aber sagt mir meine
Tante nicht immer, am dringendsten müsse ich lernen, mir selbst zu
verzeihen? Ich vergliche mich immerzu mit einem Idealbild, das es
gar nicht geben könne.
Stendhal Die Kartause von Parma
Ich habe mir die Angst vor meiner Mutter nicht verziehen.
Was hast du denn? Was ist denn jetzt schon wieder los.
Mein Vater kann davon nichts sehen und nichts hören und er versteht es nicht.
Wovor hat dieser Junge nur so eine Angst, fragt in der Elternsprechstunde ein Lehrer meine Mutter. Sie lächelt und sagt nichts.
Mir Angst nicht mehr verzeihen, das bringt sie mir tagtäglich bei.
Du musst doch keine Angst vor mir und deinem Vater haben. Wir tun dir nichts!
Ich kann mich auf die Angst nicht mehr verlassen. Ich muss absichtlich nicht mehr ängstlich sein.
Deshalb ging ich zum Friedhof und zum Leichenschauhaus später. Ich wollte mich nicht länger fürchten. Doch meine Angst blieb nicht nur da, sie wurde nur noch schlimmer. Ich hasste sie. Ich hasste dieses Kind, das ich mal war, so hilflos und vollkommen einsam. Ich hasste meine Angst, wie meine Mutter mir das jeden Tag bestätigt hatte. Sie hasste mich und meine Angst.
Da ist doch nichts. Das bildest du dir ein!
Mal habe ich am Fuß Probleme auf der rechten Seite, dann links. Mein Rücken tut mir weh, dann meine Wade. Ein großer Zeh, ein Zahn, etc..
Ich ärgerte mich so. Weil ich die Angst nicht mehr ertrage.
Erst jetzt verstehe ich. Die Mutter sagte immer: Du siehst Gespenster! Und ich verstand: Du machst schon wieder alles falsch!
Was hast du denn? Was ist denn jetzt schon wieder los?!
Wenn ich die Hände hebe und zusammen zucke, oder wegschaue, wenn Vater seine rechte Hand in meine Nähe bringt.
Ich tu dir nichts. Was hast du denn? Du musst doch keine Angst vor mir bekommen!
Ich konnte nichts mehr andres tun. Ich konnte nicht mehr wissen, wann meine Angst begann. Wann sie berechtigt oder nicht berechtigt war. Aus Furcht nur mit der falschen Hand, mit meiner rechten etwas anzufassen, aus Angst nur wieder falsch mich zu verhalten. So machte ich mir schließlich etwas vor. Mir selbst und allen anderen. Denn ich vergaß: Für meine Eltern lerne ich Gefühle abzutöten. Mir vorzumachen, ich habe keine Angst und keine Wut. Mein Feingefühl gab ich für dieses „falsche“ Wissen her. In Not nie wütend auf die Mutter und den Vater werden, auch wenn sie diese Not verursacht haben, bedeutete für mich: Mir nicht mehr zu gehören.
Wo gehst du hin, fragt sie. Was machst du da, fragt sie. Was willst du da, fragt sie. Komm bleib doch noch! Zuhause ist es doch am schönsten.
Mein rechtes Auge zittert, wenn sie verschwindet, wenn sie mich ganz alleine lässt. Mit meinem rechten Auge schaue ich durchs Schlüsselloch, ob sie noch da ist. Mit meinem rechten Auge bleibe ich bei ihr.
Bist du noch wach, fragt sie. Schläfst du noch immer nicht?!
Mit meinem rechten Auge bin ich wach, mit meinem linken geh ich weg.
Ich habe Angst davor, für immer zu verschwinden. Mich von der Mutter wegzulenken. Ich habe Angst davor mich von ihr wegzudenken.
Mein rechtes Auge schaute ängstlich zu, was meine Mutter tat. Mein linkes Auge aber wollte weg; nur weg und frei sein, ohne Schuld.
Allmählich verschwamm in mir die Grenze zwischen dem, was ich für richtig, und dem, was ich für falsch hielt, sodass ich nicht mehr wusste, was gut und was schlecht war. Es war ein Gefühl schrecklicher Unsicherheit, aber auch einer Befreiung, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Es war, als müsse ich nicht mehr an all die lästigen Dinge denken, von denen die Welt voll ist, als löse sich die Grenze zwischen mir und allem anderen auf, und ich würde von einer schleimigen, geleeartigen Masse umhüllt.
Ich wurde in eine andere Welt gezogen.
„Nervenkliniken sind interessante Orte. Ein bestimmtes Experiment, das sie mit Katzen machen, habe ich nie vergessen. Die Katze kommt in einen Versuchskasten, in dem es eine Taste gibt. Wenn die Katze darauf tritt, bekommt sie Futter. Nach ein paar Malen erinnert sie sich daran und weiß Bescheid. Anschließend lässt man die Katze eine Weile hungern und setzt sie dann in den gleichen Kasten mit der gleichen Taste. Diesmal bekommt sie einen Stromstoß, wenn sie darauf tritt. Nur einen leichten, aber im Ergebnis spielt das keine Rolle. Die Katze wird psychisch völlig instabil und zeigt neurotische Symptome. Zum Schluss büßt sie jeglichen Willen zur Nahrungsaufnahme ein und verhungert. Interessant, was? Ein Experte für psychologische Tests hat mir davon erzählt. Kennst du psychologische Tests? Mit mir haben sie Hunderte gemacht. Ich hab mir die Fragen gemerkt, und am Ende meiner Teenagerzeit kannte ich mich besser damit aus als die, die die Tests mit mir machten. Der berühmteste ist das Minnesota Multi-phasic Personality Inventory. Hast du Lust, mal einen auszuprobieren?“
Ich fand die Katzengeschichte höchst interessant. Das Tier drückt mit der Pfote auf die Taste im Kasten. Weil es etwas zu fressen bekommt, macht ihm das Lernen Spaß. Als Nächstes muss es hungern, und wenn es das Gelernte tut, fügt man ihm Schmerz zu. Natürlich begreift die Katze nicht, was los ist. Als Kind war es mir beinahe jeden Tag ähnlich ergangen. Ich meine damit nicht unbedingt große Ereignisse wie den Tod meines Vaters, sondern eher gewöhnliche, ganz alltägliche Situationen. Weil die Welt der Erwachsenen nicht so funktioniert, wie sie es sich denken, wachsen Kinder, die ja nicht allein überleben können, unter ähnlichen Bedingungen wie in diesem Katzenversuch auf. Das Verhalten der Umwelt, auch das der Eltern, ist niemals eindeutig. Besonders in Japan herrscht das reinste Durcheinander. Es gibt keine Normen hinsichtlich dessen, was wichtig ist. Die Erwachsenen leben nur für Geld und Dinge, die einen festgelegten Wert haben, wie Markenprodukte. Unablässig verkünden erwachsene Menschen im Fernsehen, in den Zeitungen und Zeitschriften und im Radio, also praktisch in allen Medien, dass sie sich nur für Geld und Markennamen interessieren und sonst nichts. Von Politikern über Beamte bis zu den niedrigsten Angestellten, die an irgendeiner Bude billigen Sake trinken, demonstrieren alle mit ihrer Lebensweise, dass sie sich nichts sehnlicher wünschen als Geld. Zwar reden sie hochtrabend daher, Geld sei nicht alles, aber wenn man sich ihren Lebensstil anschaut, weiß man sofort, dass sie gar nichts anderes wollen. Die Wochenblätter für männliche Leser, die die Beziehungen zwischen älteren Männern und Schülerinnen kritisieren, berichten in derselben Ausgabe über die günstigsten Massagesalons und Erotiksaunen. Sie prangern die Korruption bei Politikern und Beamten an und liefern gleichzeitig Börsen- und Immobilientipps. Es wimmelt von Fotoberichten über Aufsteiger, in denen die Villa oder die Designerklamotten irgendeines Idioten abgebildet sind. Bei uns erleben die Kinder 365 Tage im Jahr, was diesen Katzen widerfährt. Erst Futter, dann Elektroschocks. Aber wenn man nur ein Wort sagt, fallen sofort irgendwelche alten Säcke über einen her von wegen verwöhnter Bande, euch beschweren, das könnt ihr. Ihr wisst ja gar nicht, was Mangel ist, wir haben Kartoffelschalen gegessen, und dieses Land reich gemacht. Die Alten haben leicht reden, sie sterben ja bald, aber wir müssen schließlich noch 50 oder 60 Jahre in diesem Land leben.
„Kenji, was ist mit dir?“ Frank sah mir ins Gesicht.
„Nichts“, erwiderte ich.
„Du machst so ein wütendes Gesicht.“ Er nahm einen Schluck von seinem Evian und lächelte mir zu.
Ryu Murakami In der Misosuppe
Der Mann mit roten Backen und mit schwarzen Haaren, die Stirn schweißnass, der auf mich einredet und mich in einen Keller lockt. In sein Abteil. Ich folge ihm. Er geht die Treppe runter, ich hinter ihm. Er redet und er lächelt unaufhörlich. Da ist ein Holzverschlag und eine Tür. Die Tür dreht sich. Ich kann nicht richtig stehen. Und es ist eng. Die Drehtür geht in eine Richtung. Auf einer Wendeltreppe gehen wir nach unten. Ich weiß, dass ich gefangen bin, wenn ich die Tür passieren werde. Und dieser Mann ist durch. Und ich, ich drehe um. Ich gehe wieder rauf ans Licht, das hatte ich schon vor, bevor wir in den Keller runtergingen.
Zum hellen Tag.
Ihr Reden, unaufhörlich mich beschwören, wenn ich nicht endlich ruhig bin. Sonst kommt der Schwarze Mann. Der nimmt dich mit. Der nimmt dich mit und sperrt dich ein. In seinem Keller wird dich niemand hören. Da bist du ganz allein. Dann kannst du schreien wie du magst. Doch niemand wird dich hören können. So ganz alleine, ohne mich. Ich kann dir dann auch nicht mehr helfen. Ich kann dich nicht mehr holen kommen. Ich werde dir dann nicht mehr helfen können. Dann bist du ganz allein auf dieser Welt. Denn niemand weiß, wohin der Schwarze Mann die Kinder bringt. Und niemand ist bis jetzt zurückgekommen. Und wenn du einmal bei ihm bist, dann ist es aus. Der lässt dich nicht mehr raus. Denn dann gehörst du ihm. Mit Haut und Haar. Jetzt hör mit deinem Schreien auf! Wenn du so weiter damit machst, musst du ins Krankenhaus. Und niemand wird dich dort besuchen kommen, weil du so schreist.
Der Mann aus meinem Traum, der mich in seinen Keller locken möchte. So sah ich aus und so verhielt ich mich, wenn ich mit Fieber war oder im Rausch, wenn ich mir selbst und anderen Angst machte und mir dabei gefiel, so fröhlich und beängstigend.
Ich hatte meine Angst von meiner Wut für meine Mutter in mir abgeschnitten. Ich hatte mich von meiner Wut getrennt. Ich wurde wirklich gleichgültig dem Kinderleid, der Einsamkeit und jeder Art von Liebe gegenüber. Weil Angst die Wut tatsächlich hemmt. Ein Kind benötigt nach der Angst die Wut um sich von Schrecken und von Einsamkeit wieder erholen zu können. Ich aber war getrennt von meiner Wut. Ich konnte mich von meiner Angst nicht mehr erholen. Ich sollte meine Angst für meine Mutter wiederholen. So wurde Angst zu meiner, unsrer Sprache. Sie hatte nur aus Angst und nur mit Angst zu mir gesprochen und mir auch nur aus Angst heraus geantwortet. Die Angst war unsere einzige Art Kommunikation gewesen.
Hast du gehört!? Der B. ist gestern Nacht gestorben!
Das Gift war die Gehässigkeit. Das brachte ich nicht wieder raus. Nicht ohne gute Wut. Ich suchte immerzu nach Möglichkeiten um gemein zu sein, ohne dass Vater oder Mutter was bemerkten. Ich suchte nach der Möglichkeit, die Mutter und den Vater so zu ändern. So wie sie das mit mir gemacht hatten. Und wusste nicht, dass ich doch unbewusst nach meiner Wut im Grunde suchte. Ich suchte nach der Möglichkeit gemein zu sein, verzweifelt gegenüber jeder anderen Form von Kommunikation und Äußerung. Verzweifelt schließlich gegen Liebe, Trost und Anteilnahme, verzweifelt gegenüber jeder Zärtlichkeit, der ich ansichtig wurde.
Gemeinsamkeit, Verbundenheit mit meiner Mutter und mit meinem Vater. Gemeinschaft ohne Zärtlichkeit erschuf Gemeinheit, Bosheit, Niedertracht.
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