Niemals sagte er die Unwahrheit, das war höchst erstaunlich. Außerdem schmeichelte er niemandem und sagte tatsächlich jedem, was er von ihm hielt; das war stets belastend und peinlich, und die findigeren Menschen suchten es ins Scherzhafte zu wenden und lachten; und er lachte mit, sein besonderes, kaltes Lachen. Nur einmal in der ganzen Zeit meiner langen Bekanntschaft mit ihm hörte ich in seiner Stimme eine plötzliche Weichheit, deren ich ihn für unfähig gehalten hatte. Wir sprachen über Diebstahl.
Gaito Gasdanow Schwarze Schwäne
Einen Menschen lieben müssen, heißt ja, einem Menschen dankbar sein müssen. Einen Menschen, wie den Vater lieben, ehren, also meinem Vater dankbar sein zu müssen. Meiner Mutter dankbar sein zu müssen, dass sie mich doch später Schlittschuhlaufen lehrte und mir Schwimmen beibrachte. Immer wieder habe ich mich selbst beschworen: Ohne meine Mutter wäre ich verreckt. Dankbar sein zu müssen. Dieser blöden, dummen, schier unendlich Grausamen, die mich immer wieder quälte.
Wie wir Fröschen Beine abgeschnitten haben. Wie wir sie gequält hatten, ausgepeitscht und totgeprügelt. Ohne eine Ahnung. Ohne ein Versehen. Ohne Nachsicht, immer wieder.
Dankbarkeit erwartend, auch nach seinen Schlägen. Dankbar musste ich für meine Mutter sein, weil sie mich beschwatzte. Immer wieder ihre Worte. Dankbar, dass sie mit mir sprach. Diese Dankbarkeit des kleinen Kindes, dass ich nicht an Einsamkeit verstarb.
Nachtküchen Traum
Die Mutter in der Küche. Wie eine Aufführung. Ich trete an sie ran und schreie, so wütend und so zornig, wie ich bin. Sie weint und senkt den Kopf und schaut dann in den Küchenboden. Sie sagt: AEG. Und ich verstehe nicht. Ich schreie, und sie sagt noch einmal nur, AEG. Ich kann nicht reagieren. Mir fällt nichts ein, was ich noch sagen kann. Ich kann nur da sein und verzweifelt sein. Für mich sind alle Reaktionen unverständlich.
Ich war nie undankbar und deshalb so verletzlich. Und dass ich ihre Tränen sehen sollte, und sie die meinen nicht ertrug. Und wie verzweifelt muss ein Kind wohl sein, wenn es stets unterscheiden soll, zwischen den scheinbar schlechten Tränen, und den angeblich guten seiner Mutter?
Sie schreit in meinem Traum drei Buchstaben, mir unverständlich ins Gesicht. Aus-Erfahrung- Gut. Die Werbung für die Waschmaschine. Die Werbung hat gelogen. Wie meine Mutter immer nur für sich warb. Für sich und ihr Verständnis. Dass sie mit ihren Lügen für sich warb. Mit Lügen, leeren Versprechungen.
Nur Gutes will sie von mir hören.
Sie spricht vom Guten immerzu.
Immer nur Gutes für die Mutter.
Nur gut sein und was Gutes für die Mutter zeigen.
Schön sein und ein Vorbild.
Stets Gutes tun und Gutes meinen.
Schön brav sein und schön leise.
Deshalb schrei ich sie an.
Nur eine leere Seele wollte meine Mutter haben.
Ich sollte sie nachahmen.
Nur ohne Regung etwas tun.
Nur ohne Weinen, ohne Leid und ohne Tränen.
Nur ohne Freude sein.
Nicht Wut und Zorn ergreifen.
Der Mutter immerzu schön tun.
Wie sollte ich das wagen, die Mutter ohne Vorbehalt zu sehen und zu empfinden, wie sie tatsächlich war und wie sie zu mir ist, wenn sie verspricht, es würde sich zum Guten, das Schlechte schließlich immer wenden.
Jetzt sind wir wieder gut, sagt sie und lächelt, und ich weine.
Jetzt sind wir wieder miteinander gut!
Ich war in Wahrheit derjenige, der niemals schlecht zu ihr gewesen ist, als kleines Kind. Und das beweist mein Ausmaß an Verzweiflung.
Dass ich schlecht sein musste, und meine Mutter wieder gut. Die Mutter immer wieder gut, weil ich doch schlecht und schlechter für sie wurde. Für meine Mutter war ich böse, krank, und unbedeutend war mein Leid. So sollte ich das auch begreifen.
Sie hätte alles gut gemeint. Sie hätte alles immer gut gemeint. Dagegen also konnte ich nichts sagen.
Was wir dir taten und dir sagten, war schließlich gut gemeint.
Die Meinung meiner Mutter und des Vaters, eine Meinung. Sie hätten alles gut gemeint.
Ein Vater, der mich schlägt, mag mich!?
Die Mutter lässt mich in der Einsamkeit verenden, und mag mich!?
Die Eltern hatten es nicht gut gemeint mit mir, und deshalb konnte ich nicht auf mich achten. Und nicht begreifen und verstehen, wie viel Gemeinheit in mir steckt. Wie fest und nachhaltig und widerspenstig sie doch ist und wie sie wirkt, wenn ein Kind Schläge und Verwünschungen, Bestrafungen, Beschuldigungen, Hass und die Verachtung, nur als gut gemeinte Hilfestellung und Ratschlag verstehen soll.
Wenn etwas nicht beim ersten Mal gleich klappt und funktioniert, dann wird der Vater und die Mutter böse. Wie ich dann später alles hinwarf und kaputt machte, wenn etwas nicht beim ersten Mal schon funktionierte. Wenn etwas oder jemand nicht gehorchen wollte, dann wurde ich gemein und schier verrückt vor Zorn, nach dem gehorchen und gehorsam sein müssen.
Ich habe die Gemeinheit meiner Eltern als Kind nie begriffen. Ich wusste nie, was das im Grunde wieder war, wenn sie gemein wurden. Ich wusste nie, warum mein Vater mir weh tat, und meine Mutter mich verletzte. Weil ich nicht wütend werden durfte. Ich durfte mich, gegen gemein sein, gar nicht wehren. Ich sah dann später immer nur Gewalt als etwas sinnloses, als etwas immer wieder sinnlos werden, an. Doch das war falsch. Das war nicht sinnlose Gewalt. Sie war gemein zu mir. Diejenigen, die scheinbar sinnlos für mich Kind gewalttätig, sadistisch zu mir waren, waren gemein.
Wir haben sie nicht einfach umgebracht, auch nicht verhungern lassen. Die Juden haben Nahrung und Kleidung doch erhalten. Sie mussten schließlich nicht verhungern und waren nicht der Kälte schutzlos ausgesetzt, wie wir dann in Sibirien, sagt Vater.
Gemeinheit relativieren, verwirrt ein Kind zutiefst. Nicht nur die eigene Gemeinheit zu beschönigen und ins Verhältnis setzen, auch die der anderen. Ich wusste irgendwann tatsächlich nicht mehr, wer oder was, oder auch wie gemein jemand, oder auch etwas ist, oder schon war. Wo die Gemeinheit anfing, wusste ich nicht mehr. Wie die Gemeinheit in mich kam von meinen Eltern. Wie im Verhältnis meiner Eltern zu mir, schon immer die Bedrohung durch Gemeinheit da gewesen ist, in unserer Beziehung. Und dass ich mein Gefühl nie wirklich loswurde, bedroht zu sein, bedroht zu werden; solange ich in Dankbarkeit mit meinem Vater und der Mutter verbunden war.
Dass meine Dankbarkeit, mein Mitgefühl für meine Eltern daher kommt, weil ich dem Vater dafür dankbar war, wenn er mich nicht ertrug, dass er mich einmal dafür nicht bestrafte, wenn er von der Bestrafung für mich einmal auch absah. Wenn meine Mutter mich nicht immer nur wegschickte, dass sie mir ein paar Mal, doch das Gefühl tatsächlich gab, ich würde ihr mit dem, was ich ihr sagen und bedeuten wollte, tatsächlich jetzt gefallen und ihr auch was bedeuten. Ich war schon dankbar für die Nicht-Bedrohung, für einmal Nicht-Gemeinheit fühlen müssen. Ich war dankbar für einmal Nicht-Bedrohen meiner Worte, Äußerungen, Gesten.
Sie ließen mich am Leben und gaben mir zu essen und auch Kleidung; dafür war ich dankbar.
Als Vater mir, da war ich vielleicht Zwanzig, vorrechnete, was ich ihm schon gekostet hatte, nahm ich das erst verwirrt, dann etwas unruhig, nur noch als eine Art Kuriosum wahr.
Mein Vater hatte alles aufgeschrieben. Die Ausgaben für Kleidung und Geschenke, Extra-Essen bei den Schulausflügen, die Eintrittskarten für das Bad, wo ich im Sommer Schwimmen lernte, was die Kabine einst gekostet hatte, in der wir unsere Badesachen und die Luftmatratzen und die Liege für die Mutter einst gelassen hatten. Das Eis, Benzin für meine Fahrt ins Kinderkrankenhaus, das hatte er dem Fahrer doch bezahlt. Die Brotzeit nebenher, die Schuhe, alles mögliche, etc, die Hefte für die Schule, mein Schwamm, die Schiefertafel, die Materialien für meine Bastelstunden, das Geld für einen Setzkasten in meiner ersten Schulklasse, das Geld für meine Nachhilfe dann im Gymnasium, und für die beiden Notenhefte früher noch, im Kindergarten für den Flötenunterricht. Die Flöte und ihr Preis, stand auch dabei. Das fällt mir alles ein und die Gemeinheit meines Vaters. Wie die Gemeinheit in mir arbeitet, weil ich den Vater nicht mal dafür damals hassen hatte können. Ich weiß noch, dass ich sprachlos war, als er mir seine Listen in einem Aktenordner zeigte. Ich konnte dazu gar nichts sagen. Ein Lächeln und ein Ziehen in der Schulter und in meiner rechten Leiste, dann ging ich, und Vater schaute mir so nach, als wäre ich nur ein Stück Dreck, ein Parasit, den er ernährt hatte.
Im Morgengrauen werden wir, bewaffnet mit brennender Geduld, die strahlenden Städte betreten.
Arthur Rimbaud
Brennende Ungeduld ist immer Angst vor einer Strafe und trägt die Furcht in sich, wenn etwas jetzt nicht gleich passieren wird, dann wird sich etwas doch ereignen; was Dunkles, Böses oder gleich Gespenstisches, wie ein Geräusch, ein Heulen oder Weinen, ein Jammern, unerhört. Das unerhörte Flehen eines Kindes in der Not. Der dumpfe Schmerz, der in mir ist seit schon so vielen Jahren. Die Mutter wird nicht näher kommen. Sie wird nicht mein Gefühl erahnen. Niemals. Sie wird nie wissen, wie und wann ich einsam war und bin. Sie wird das niemals je erfahren.
Mit der Gewissheit schlief ich ein und wachte damit auf. Doch sollte ich sie nur als Dankbarkeit für meine Mutter fühlen dürfen. Dass nichts Gewissheit ändern kann, kann ein Kind nicht begreifen, es sei denn jemand hilft dem Kind, die Leere in sich zu verstehen und somit zu befragen.
Die eigene Erfahrung hat den Vorteil vollkommener Gewissheit.
Arthur Schopenhauer
Wenn ich geduldig sein sollte und auf die Mutter warten, dann musste ich geduldig sein und wenn ich für sie dann voll Ungeduld, mich für sie wiederum verzehrte und verzehren sollte, dann tat ich das. Doch eines war mir als Kind niemals klar, was ein Kind nie zu realisieren wagt, dass meine Mutter niemals zu mir ehrlich war, wenn ich in ihre Nähe kam. Sie konnte meine Liebe nicht ertragen, ob ich nun ungeduldig war oder geduldig auf sie wartete. Weder die Liebe voller Ungeduld, noch mein Vertrauen, änderten was an meiner Mutter, oder am Verhalten meines Vaters.
Sie konnten mich mit ihrer Ungeduld und mit Geduld doch gleichermaßen quälen. Sie forderten von mir, dass ich im Grunde immer nur mit ihnen harmonieren sollte.
So suchte ich dann später unentwegt nach dem Gefühl von Harmonie in mir und dabei fiel mir niemals auf, dass es nur notgedrungen diese Suche gibt; aus früher Not heraus geboren. Und dass ein Kind, welches Gefühle haben darf und Wut erleben, niemals dann später, so süchtig nach der Liebe ist und gleichermaßen harmoniebedürftig. Und gleichzeitig hatte ich das Gefühl, ich würde Harmonie zerstören, ich sei ein Störenfried, ich würde meine Eltern anlügen und dabei ärgern, wenn sie es doch nur gut meinten, dann würde mein Gesicht und meine Tränen und mein Leid, mit dem ich zweifelte, im Grunde doch nur wieder lügen und zerstören, was Vater mir bereitet hatte, zerstören wieder nur das gut Gemeinte.
Sie hatten alles gut gemeint, sagte die Mutter. Als wäre da ein Plan, göttliche Ordnung, Harmonie, den ich mit dem Gefühl des Zweifels, der mir schon scheinbar immer im Gesicht geschrieben stand, in Frage stellen und anzweifeln.
Als würde das ein Kind tatsächlich tun können; die Harmonie in Leid verwandeln!? Die Harmonie an sich, die es im Grunde gar nicht gibt. Ich wäre Störenfried des Königreichs, der Paradies Zerstörer. Ich machte doch das Paradies kaputt, wenn ich die immer gut gemeinten Taten meiner Eltern, auch weiterhin in Frage stellen würde. Ein Nestbeschmutzer, Tagedieb, der seinem Herrgott seine Zeit noch stahl, indem ich ohne Hoffnung war und nicht mehr wusste, was ich tun sollte.
Das Harmoniebedürfnis verhinderte die Wut.
Man kann nicht immer nur Recht haben wollen, sagt Mutter so, als würde sie Verständnis haben.
Ich habe das als Kind niemals verstanden, was sie mir doch im Grunde vorgeworfen hat. Dass ich nicht für sie lügen würde. Sie warf mir meine Wahrheit vor, die Unschuld meines Herzens. Sie hasste mich dafür, dass ich Unrecht noch fühlen und empfinden konnte. Deswegen schreie ich im Traum, in Mutters Nachtküche, weil ich das Unrecht endlich wieder fühlen kann. Was sie mir abgerungen hatte, war, mit ihrem gut gemeint Gefasel, mit ihrem Harmoniebedürfnis, dass ich mein Unglück akzeptierte, als etwas ganz natürliches, naturgemäß zur Harmonie gehöriges. Die Mutter schützte sich vor meinem Hass. Vor meiner Wut und meinem Zorn. Wie ich mich später dafür schämte, wenn ich vor anderen die Liebe nicht verstand, und Liebe nur in Frage stellte. Weil ich den Hass als Hass gar nicht verstand, den ich in mir verborgen, für meine Mutter hegte. Ich fühlte mich in ihrer Nähe niemals sicher, weil meine Mutter nichts von dem verstand, was ich ihr sagen und bedeuten wollte. Dass ich sie doch von ganzem Herzen hassen wollte, für alles, was sie mir antat.
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