Texte von Hugo Rupp

Entwürdigung

 

Enough of Science and of Art;

Close up those barren leaves;

Come forth, and bring with you a heart

That watches and receives.

Mach Schluß jetzt mit der Wissenschaft,


klapp zu die Folianten:


Bring mit des wachen Herzens Kraft,


zu fühlen und empfangen!

Aus dem Gedicht: The Tables Turned / Den Spieß herumgedreht, von William Wordsworth

Vergeblichkeit und Hoffnungslosigkeit bedeutete für mich, dass ich als Kind die Heilung nur in falsche Hände legen konnte, wie jedes Kind, mit seiner Zukunft seinen Eltern ausgeliefert bleibt, solange es den Schmerz, das eigne Leid nicht zu begreifen scheint, weil es von einer Angst beherrscht wird, die es nicht begreift.

Ich habe niemals was von Angst gesagt, niemals bin ich zu meinem Vater und habe ihm etwas erzählt. Ich habe nie etwas erzählt. Ich konnte nie etwas davon begreifen.

Dass jedes Kind verdient, was ein Erwachsener ihm antut. Was Gott betrifft, dass das die Menschen auch verdienen würden, wenn er sie so bestrafte.

Dass jedes Kind wie ich den Schmerz verdienen würde. Die Basis jeder Religion, Gewaltherrschaft. Dass ich mir selbst den Schmerz verdienen sollte. Nicht einmal Schmerz und Schinderei waren umsonst. Als würde sich ein Kind Gewaltherrschaft und Unterdrückung, Lieblosigkeit selbst aussuchen, aussuchen können. Als würde sich ein Kind Lieblosigkeit aussuchen, so fühlte ich mich bei den Eltern letzten Endes.

Weil ich doch immer denken musste: Nicht wütend werden, weil sonst passiert gleich was.

Winfrey: Wissen Sie was? Das ist interessant — Nachdem ich anfing, mich mit all dem zu beschäftigen, nachdem Sie mir Ihren Brief schrieben und mir klar wurde, mein Gott, er hat recht — ich schätze, ich war wirklich niemals wütend. Wirklich — ich wünsche, ich hätte die Gelegenheit, wieder in diesem Haus zu sein, dann würde ich sagen „Geh mir aus den Augen, du Hurensohn!“

Mr. Vachss: Mm-hmm.

Winfrey: „Ich verlasse dieses Haus!“ Aber zu diesem Zeitpunkt wollte ich nicht — nein, das kann man im Fernsehen nicht sagen — ich wollte nicht — ich wollte dort keine Szene machen, weil sowieso schon Krankheit in diesem Haus war, usw.

Mr. Vachss: Sehen Sie, genau das ist die Tarnung der Täter in solchen Situationen. Er sagt dem kleinen Mädchen „Wenn Du das der Mama erzählst, wirst Du Ihr sehr wehtun.“

Winfrey: Ja.

Mr. Vachss: Und: „Sie ist wirklich krank, daran könnte Sie sterben.“‚

Winfrey: Mm-hmm.

Mr. Vachss: Jeder Kinderschänder, den ich je getroffen habe, fand in dem Kind eine Quelle der Liebe, die er gegen eine Enthüllung einsetzen konnte.

Aus: Im Gespräch mit Oprah: Andrew Vachss, Erstausstrahlung in The Oprah Winfrey Show, 16. Juli 1993

Als wäre ich ein Elefantenmensch. Die Schultern hoch, den großen Kopf tief eingezogen, gut, doch besser geht es nicht, geh ich durch jede Nacht allein. Auf meinem Weg treffe ich niemanden. Ich bin hier ganz alleine unterwegs. Schon immer so allein, so weit ich weiß. Soweit ich das noch wissen kann. Doch meine ich, dass das die volle Wahrheit ist, denn Elefanten können sich erinnern, an alles was geschehen ist, sagt man. Ein Elefantenmensch ist nur ein Kind, das alles von alleine weiß, weil niemand sich in seiner Nähe wohlfühlte. Das habe ich mir so gedacht. Dass niemand sich in meiner Nähe wohlfühlen würde.

Du bleibst gefälligst hier, sagt er.

Ein Elefantenmensch ist immer ganz allein, weil niemand ihn in seiner Nähe duldet.

Du gehst gefälligst in dein Zimmer. Jetzt!

Ich gehe weiter, weiter, weiter, bis ich am Sportplatz wieder bin. Die Nacht ist weder kalt noch warm und nichts verhüllt das Dunkel, weil ich nur wieder hier alleine bin.

Entweder strengst du dich jetzt an, oder wir hören auf. So wirst du niemals was gewinnen. Und jemand der nicht mal gewinnen will, den kann man in einem Leichtathletikverein gar nicht gebrauchen.

Mein Bein tut plötzlich weh, ich ziehe es auch nach, ich hinke ein klein wenig. Ich kann nicht schneller laufen. Ich kann das Rennen gegen meinen Freund, den anderen, niemals gewinnen. Ich kann das nicht.

Wenn du nicht mal gewinnen willst, dann brauchst du gar nicht mehr trainieren. Dann lohnt sich das nicht mehr und dann gehörst du auch nicht mehr hier her.

Dann kannst du auch nicht mehr in einer Staffel laufen. Denn nur die besten laufen da. Sie würden sich mit dir ja schämen müssen. Wenn du nur laufen willst, das kannst du auch woanders. Dazu brauchst du nicht auf den Sportplatz gehen. Du bist nicht gut genug. So wirst du nie ein guter Sportler.

Der Elefantenmensch weiß das genau, dass er nicht länger in Gesellschaft bleiben kann. Sie werden ihn nicht länger dulden.

Jetzt hau doch endlich ab. Das färbt doch ab, dein wehleidiges Getue. Wenn du dich nicht einmal schinden willst, dann hör gefälligst auf.

Der Vater macht mich klein und kleiner, damit ich schließlich gar nichts kann. Das konnte ich als Kind nicht realisieren, dass ganz egal, was ich gerade machte, mich Vater aus der Fassung brachte und solang drangsalierte, bis ich aufgab, aufhörte, kapitulierte.

Ich gab mir immer selbst die Schuld, dass ich nicht gut genug, nicht schnell genug, nicht intensiv genug, nicht hartnäckig genug bei einer Sache bleiben konnte.

Nur du gehörst hier nicht mehr her.

Und meine Mutter: Entweder bist du still und schläfst jetzt sofort ein, oder der Schwarze Mann wird zu dir kommen. Der nimmt dich mit. Dann bist du ganz allein. Dann gibt es keinen kleinen Hugo mehr.

Es gibt etwas, das jedes Kind eventuell ein Leben lang nicht loslässt und verängstigt. Die Angst nicht mehr dabei zu sein. Nicht mehr nach Hause kommen können. Nie mehr ein Haus, ein Dach, ein Zimmer, einen Schlafplatz, ein Herz, ein Wort, ein kleines Wort wenigstens, von mir aus auch Geschimpfe und Beleidigungen, von mir aus auch die Schläge, nur nicht im Herzen ganz allein zu sein, von allen Schmerzen eines Kindes, ist dieser Schmerz allein und notgedrungen über alles herrschend, vom Schmerz, der einzige zu sein. Der Elefantenmensch unter den Kindern, den keiner haben will.

Wie soll ein Kind tatsächlich wütend werden, wenn es die Angst in seinem Herzen trägt: Du kommst mir nicht ins Haus. Ich will dich nicht mehr sehen. Bleib mir vom Leib. Ich will dich nicht mehr sehen.

Von Anfang an. Wie soll ein solches Kind nur seine Eltern als Erwachsener vergessen und verlassen können, wenn das Gefühl, niemals geliebt zu worden sein, vollkommen unerfüllt in einem Herzen liegt, ohne das Wissen um die Wahrheit, dass niemand das verdient, als Kind hinausgeschmissen zu werden. Und obdachlos zu sein, weil man nicht brav war oder so gehorsam, wie das die Eltern gern gehabt hätten.

Die Angst von allem ausgeschlossen sein, das Elefantenmenschen Dasein, das keine Heimat haben können, weil ganz egal wohin man kommt, die Menschen einen nicht empfangen.

Weil niemand ein Kind haben mag, das schreit und nicht brav ist.

Sie dachten alle so, weil alle das von einem Kind erwarteten, dass es den Vater und die Mutter ehrt. So wie sich das für sie gehörte.

Die Angst bestraft zu werden, ist eine Angst, die ohne Vorsicht und Vorsehung, von einem Kind nicht mal betrachtet werden kann. Verstanden schon gleich gar nicht.

Sie führte mich an eine Stelle, von wo ich runtersehen kann.

Da geht es runter. Wenn du nicht aufhörst hier zu schreien, dann werfe ich dich da hinunter.

Sie nahm mich und sie hielt mich aus dem Fenster.

Wenn du nicht still bist, lasse ich dich fallen. Hörst du. Ich lass dich einfach fallen. Und wenn mich später jemand fragt, wie ist denn das passiert, dann sage ich: Er hat sich losgerissen. Das ist passiert.

Sie sagte das ganz ohne Rührung. Die Augen meiner Mutter waren klein. Die gleiche Mattigkeit in ihrem Herzen, genau so graute mir vor ihr. Vor dieser unbeschreiblich Grausamen, der ich gefallen und gehorchen musste.

Der Mechanismus unbedingten Leidens bleibt geheim, Leid sprachlos weitergeben und ertragen müssen, solang die Wut auf die Verursacher nicht zweifelsfrei gefühlt wurde. In einem Kind als Zwang und Forderung nach Abfuhr und nach Rache zweifelsohne, vollkommen blind und unbewusst erhalten.

Ich tat das meiner Schwester an, was mir die Mutter zehn Jahre früher angetan hatte. Da war ich zwölf und meine Schwester war zwei Jahre alt. Während ich sie im dritten Stock aus einem Fenster hielt, war ich vollkommen ruhig. Ich lachte und das war ein Spaß für mich, solch eine Macht auch mal zu haben. Herr über meine Schwester. Ich machte meiner Schwester Angst, weil ich das einfach konnte, weil ich das wirklich gut beherrschte, mit Lügen und Gewalt der Schwester Angst zu machen, die sich dagegen doch nicht anders wehrte, als stumm und still, vollkommen starr vor Angst, fast lautlos noch nach Luft zu schnappen, die ihr entgegen schoss, wenn ich sie rutschen und abgleiten ließ. Als müsste sich die Schwester noch für dieses Schnappen, für ihre Angst zusätzlich noch entschuldigen und schämen. Als müsste ihr das peinlich sein, mich vielleicht so noch aufzuregen. Sie wollte mich besänftigen. Was sie und ich nicht wissen konnte, war, dass nichts den unbewussten Hass eines missbrauchten Kindes mehr anstachelt, als jene stille Angst, die es verleugnen hatte müssen.

Von meiner Angst hatte sich meine Mutter doch ernährt.

Heimkehr

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? Ich weiß es nicht, ich bin sehr unsicher. Meines Vaters Haus ist es, aber kalt steht Stück neben Stück, als wäre jedes mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, die ich teils vergessen habe, teils niemals kannte. Was kann ich ihnen nützen, was bin ich ihnen und sei ich auch des Vaters, des alten Landwirts Sohn. Und ich wage nicht an die Küchentür zu klopfen, nur von der Ferne horche ich, nur von der Ferne horche ich stehend, nicht so, dass ich als Horcher überrascht werden könnte. Und weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.

Franz Kafka

Innerer Widerstand. Ich wehrte mich doch innerlich, die Krämpfe in den Beinen in der Nacht. Ich wollte weg und musste doch dableiben. Ich konnte nicht begreifen.

Sie hat mich über einem Abgrund baumeln lassen, und meine Angst hat unaufhörlich an mich appelliert, nur ja jetzt nichts zu sagen und zu zeigen, nur ja jetzt kein Geschrei und keine Wut. Nur jetzt nichts mehr beklagen. So kam der Zwang in mein Gebein und meine Innereien, mir nichts, aber schon gar nichts mehr anmerken zu lassen, wenn mir etwas gefährlich und zuwider wurde. Ich habe mich tatsächlich so betragen, als wäre alles, was meine Mutter mir angetan hatte, aus einem Märchenbuch entsprungen oder pure Phantasterei. Als wäre alles nur ein Spiel gewesen, Spiele, Spiele spielen, an die sich meine Mutter nie später mehr erinnern wollte. Alles aus lauter Jux und Tollerei. Als gäbe es dafür auch keinerlei Erklärung. Als wäre alles doch im Grunde irrational, absurd und voller Widersprüche, so in Ordnung. Als wäre eine Erklärung für Schmerz und Leid vollkommen überflüssig. Geworfen sein ins Sein, Absurdität, Mystik und Okkultismus und Zauberei, der Horror vacui, alles soll unerklärlich bleiben; mit diesem ganzen spirituellen Scheiß.

Das Schlimme war, ich konnte mich nicht selbst befreien, aus meiner Leidensfalle. Ich konnte mich nicht losreißen. Ich konnte nicht einmal laut schreien. Ich konnte mich nur innerlich zurückziehen. Erstarren. Nicht begreifen. Still sein. Herz still stand. Ich konnte mich auf nichts mehr konzentrieren, als auf den Griff der Mutter, ihre Hände, ihr Gesicht, ihr Lächeln und dazu die kalten Vogelaugen. Ich konnte nichts tun, außer lautlos in mir weinen, warten, und nicht mehr zittern, weil das mich doch vielleicht noch losgerissen hätte. Ich konnte nicht einmal mehr zittern. Schau an. Da kommt das also her, dass eine Angst so groß sein kann, dass sie der Körper nicht mehr zeigt. Dass durch Entwürdigung alles in einem Kind vernichtet werden kann, das sich selbst äußern konnte. Wenn alle die gesunden Reaktionen, Empfinden selbst, für sich und andere, nur immerzu entwertet wurden.