Texte von Hugo Rupp

Entlarvung

 

Warum hast du mir nicht erzählt, dass du Schwierigkeiten in der Schule hast? Du kannst mir das doch sagen. Was hast du dir nur dabei gedacht. Nur Sechsen und Fünfen. Was meinst du, wie ich mich gefühlt habe, vor deiner Lehrerin, als ich ihr gegenüber gesessen bin und ihr gesagt habe, in Englisch seist du ja ganz gut. Was hat er denn erzählt, hat sie mich gefragt. Zwei Dreier und einen Vierer. Ich bin mir noch nie so blöd vorgekommen. Was meinst du, wie ich mich geschämt habe, vor dieser Frau in ihrem beigen Kostüm, so wie sie vor mir gesessen hat. Was hast du dir nur dabei gedacht, mich anzulügen und dermaßen zu blamieren.

Wut, die ich in mich frass, die frisst mich auf.

Mein Husten, Hüsteln und mich Räuspern. Mein immer wieder mich umdrehen und umschauen. Auf jeden Laut bin ich gespannt.

Jetzt sei gefälligst still. Ich will nichts hören und nichts sehen. Und keinen Mucks!

Ihr Hüsteln und ihr Räuspern, das habe ich von ihr. Ich habe ihr das immer wieder abgekauft, ihr nachgemacht, dass ich mir aus ihr etwas machen würde. Wenn sie, nachdem sie mich beschimpft hatte, auch keine Luft bekam.

Ich stelle dir eine ganz normale Frage. Was regst du dich so auf?

Beim Zähneputzen abends.

Jetzt hast du mich schon wieder nass gemacht! Na warte, was passiert, wenn das der Schwarze Mann von mir gleich hört!

Solange ich, solange man, ununterbrochen schreibe ich das hin, und merke nicht, dass ich wie meine Mutter klage und ganz genau so mit mir sprach: Solange du nicht ruhig bist… jetzt sei schon still… solange du nicht schlafen willst… solange du nicht endlich still sein willst… wenn du nicht endlich schlafen willst… wenn du nicht schlafen willst, dann kommt der Schwarze Mann… und nimmt dich mit…

Solange ich nicht ohnmächtig ihr gegenüber bin, solange ich noch Wut empfinden kann, hört sie nicht auf mich aufzuregen und zu quälen.

Wenn du nicht endlich still sein willst…

Ich hielt es später auch nicht aus, wenn jemand wütend auf mich wurde.

Sei endlich still!

und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern; und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Leid.

Sonst trifft mich Gottes Zorn, wenn ich nicht still bin, sondern wütend werde.

Die Oma betet mit mir Vaterunser. Sie streicht mir über meinen Kopf, hält meine Hand und betet Vaterunser vor. Ich folge ihr, ich bete ihre Worte nach. Ich nehm sie mit in meinen Schlaf, wie Mutters Warnung vor dem Schwarzen Mann.

Ich hatte meine Oma stets herbeigesehnt. Sie war doch meine Rettung einst. Ich übte für sie immerzu Vergebung. Doch wollte sie mir meine Wut auf meine Mutter und den Vater nicht verzeihen. Was habe ich nur hin und her gesucht und überlegt, warum empfinde ich für sie nichts mehr. Warum habe ich sie nicht im Krankenhaus besucht? Warum habe ich für sie nur mehr so wenig übrig.

Und gestern bin ich aufgewacht um 5 Uhr früh und betete ein Vaterunser. Und habe so gesagt, und bitte für uns Sünder, jetzt in der Stunde unseres Todes …

Warum am Sonntag, dachte ich. Warum kommt das am Sonntag immer wieder vor, dass meine Mutter und mein Vater sich in mir melden? Warum versuche ich am Sonntag ausgesprochen oft, noch Fragen über beide wachzurufen?

Am Sonntag kam die Oma immer zu uns in der früh. Am Samstag hatte sie mit mir gebetet. Am Sonntag fuhren wir mit ihr und meistens auch mit meiner Tante und dem Onkel Martin in die Berge. Da kotzte ich auf jeder Fahrt. Ich hatte dafür meine festgelegten Plätze. Mein Vater hielt dort automatisch an. Und Mutter parfümierte sich danach. Nichts sollte nach Abneigung riechen.

Versuche dich doch einmal in unsere Lage zu versetzen. Du machst es deinem Vater und mir nicht gerade leicht.

Ich warte auf Schikanen, auf Fehler im System. Ich warte ohnmächtig darauf. Ich warte auf den Schwarzen Mann, dass der mich kommen holt; für irgendwelche Sünden, Schwächen, Fehler, Vorfälle. Ich warte auf den Schwarzen Mann. Ich warte voller Ungeduld, ohnmächtig wütend, auf die Kontrolle meiner Wünsche, Träume und Gefühle. Und später übe ich Kontrolle, so über mich und andre aus.

Ich reagierte schließlich ohne Unterlaß, auf was sich regte und bewegte und Laute von sich gab. Denn alles was es gibt, was lebt, würde mich irgendwann auch schikanieren. Ich trete leise auf und mache keinen Lärm.

Mein Warten auf Bedrohung und Bestrafung.

Und immer wieder die Versuchung, jemandem weh zu tun. Mit Schuldzuweisungen, Vorwürfen, mit Todesspielen, Mängellisten. Und immer wieder unterlasse ich etwas.

Wir können dir jetzt nicht mehr helfen.

Und plötzlich sehe ich die Augen meiner Schwester. Mit denen ich die Mutter ganz genau so stumm und voller Angst, ohnmächtig angeschaut hatte. Was tust Du mir nur an! Warum schikanierst du mich pausenlos? Du tust mir weh und merkst es nicht einmal. Warum hörst du nicht einmal auf, wenn ich dich darum bitte? Mit Augen voller Leid und Unverständnis. Warum hörst du nicht auf mich zu quälen?

Ich habe meine Schwester ganz genau so schikaniert, da war ich 11, wie ich von Anfang an behandelt worden war.

Und in der Nacht dann schikanierte ich mich scheinbar selber. Dabei versuchte ich aus der Schikane einen Traum zu machen; als würde ich nur spielen. Ein Spiel, das nie eins für mich war.

Du wirst noch an mich denken!

Schikane wurde ich nicht wieder los.

Du wirst noch an mich denken. Das schwör ich dir!

Damit war nicht so sehr die Angst gemeint, wie ich so lange dachte, sondern Versuchung zu der selben Schikaniererei, wie meine Mutter sie an mir ausleben hatte können. Aus ohnmächtiger Wut wird schließlich ohnmächtiges Wüten.

Siehst du! Du wirst mir immer ähnlicher.

Sucht nach Schikanen. Wie Mutter lachen konnte, wenn etwas hundsgemeines ihr gelang oder passierte.

Ich tu dir nichts!

Sie hat mir das beigebracht. Mich selbst und andere belügen.

Ich will doch nur dein Bestes. Ich will dir doch nichts tun!

Ich merkte nicht, dass ich mit Lügen mir auch wehtat. Ich schadete mir selbst und nahm es gar nicht wahr. Weil ich mich über meinen Zustand stets belog, an guten wie an schlechten Tagen. Mich regte schließlich alles auf.

Du bist so undankbar. Schau dir nur einmal an, was andere nicht haben, und was du hast. Schau nur, was du allein zu Weihnachten von mir und deinem Vater alles bekommen hast.

Wie ich mir später immer wieder eingeredet habe, wenn mir etwas gefiel und wenn mir was missfiel, ich wüsste nicht, was mir noch wirklich fehlte.

Ich merkte selber nicht, was andere tatsächlich hatten und was ich nicht besaß. Ich merkte nicht, was andere an mir vermissten, wenn sie mich anschauten, als wäre ich ein böser Geist. Ich hatte kein Gefühl für Liebe und für Nachsicht. Ich fühlte Einsamkeit. Ich fühlte mit dem Herzen eines Amokläufers; nach außen hin entspannt, scheinbar gefühllos ruhig, doch in mir ohnmächtig vor Wut.

Ich fühle endlich die Versuchung.

Ohnmächtig wüten, um Panik in mir zu beenden. Die Angst davor aus dem Gedächtnis löschen, dass nicht mehr alles nur in mir zerbricht und auseinander fällt fortwährend.

Wenn Vater das von mir erfährt, wie du mich angelogen hast. Wenn ich ihm das erzähle, wie unverschämt du lügst und zu mir warst. Dann kannst du was erleben. Mach nur weiter so, sagt sie. Lüg nur so weiter, und Vater schickt dich in ein Heim.

Ich schaute sie nur an.

Was meinst du, was passiert, wenn der das von mir hört!?

Gott und der Teufel und der Tod, der Schwarze Mann und eine Heilige. Sie mahlte sich und alle andern an die Wand; mit den Gesetzestafeln.

Was meinst du was passiert, wenn Vater hört, dass du nicht richtig aufpasst auf dein Fahrrad!

Deswegen träumte ich so oft, mein Fahrrad würde mir gestohlen.

Mit Panik im Gedächtnis, ohnmächtig wütend sein. Mein Schrecken und Erschrecken. Mein Fenster in die Kindheit. Der Schwarze Mann kommt zu mir heim und wird mich mit sich nehmen. Mein Vater kommt und schlägt mich tot. Er schickt mich in Verbannung, in ein Heim. Und Tod und Teufel kommen über mich. Erstunken und erlogen.

Ist Mutter eine Heilige?

Sie hat mir immer wieder weißgemacht, Wut würde mir nur schaden.

Jetzt bist du wieder ausgerutscht! Kannst du nicht aufpassen. Kannst du nicht einmal richtig gehen, damit du nicht hinfällst?

Ihr Maul und ihre Zähne und die Augen, wenn sie auf mich einschimpfte, als wollte sie mich aufschlitzen.

Kannst du nicht richtig gehen!?

Wie ich dann immer wieder darauf achtete, Vorsicht!, nur immer vorsichtig, jetzt pass gefälligst auf… Mit Vorsicht im Benehmen und nur nicht aus der Reihe tanzen; nur nicht auffallen, nur nicht hinfallen. Nur nicht zum Gespött werden. Als sollte ich versinken. Wie ich mich selbst abbremste. Wie ich mich runterfahre und beruhige.

Geh, lass mich endlich wieder los. Zieh nicht so an mir. Du bist doch schon ein großer Junge!

Zwei Jahre bin ich alt und klammere mich an den Beinen meiner Mutter fest, nachdem die Krankenschwester im Kinderkrankenhaus gesagt hatte, es könnte sein, dass ich für sechs Monate allein in ein Sanatorium müsste.

Du brauchst doch nicht zu weinen. Was regst du dich denn jetzt schon auf!?

Und wenn sie dann gleich wieder süßlich schaute. Jetzt sind wir wieder gut. Das ist doch alles nicht so schlimm.

Stell dir nur vor, was du besitzt und andere nicht haben. Was alles dir gehört und was die anderen nicht haben.

Wenn ich sie rief. Wenn ich sie brauchte. Wenn ich in Not war und verzweifelt, dann schämte sie sich für mich.

Was bildest du dir ein!?

Jetzt merke ich, was das viel früher hieß, womit sie mich von Anfang an zerkleinert und zerrieben hatte.

Das ist doch nicht so schlimm!

Deswegen lief ich Amok. Dagegen rannte ich mit meinem Schädel und mit allen Sinnen an.

Das ist doch nicht so schlimm!

Ohnmächtig wütend machte sie mich damit.

Und ihr Gesicht, wie panisch mich das machte, wenn ich von weitem sie nur sah, wie alles nur Fassade, Wahn und Unverständnis für mich war.

Das ist doch nicht so schlimm, sagt sie nur immer wieder, wieder, später, später, immer wieder. Und dazu ihre mitleidigen Blicke.

Deswegen führte ich mich auch so auf und provozierte, stichelte und war sarkastisch, zynisch und gehässig. Doch irgendwann dann lachte ich wie sie, wenn was geschehen war. Ich lächelte und äußerte mich ganz genauso süßlich und genüsslich über Tod, Verlust, Vergänglichkeit. Wenn etwas schreckliches geschah. Das ist doch nicht so schlimm, war die vollkommene Verachtung.

Das ist doch nicht so schlimm, nahm mir die Wut und jede Symmetrie. Ich kam mir schief, verrissen, und verschoben vor. Verkrümmt, verbogen und verkümmert.

Das ist doch nicht so schlimm.

Das wurde ich nicht wieder los.

Das ist doch nicht so schlimm.

Gegen die Tobsucht meiner Mutter hat mir nur dieser Satz geholfen. Und so verschob sich meine Wut.

Das ist doch nicht so schlimm, sagt ausgerechnet sie, die sich an jedem Tropfen Wasser stören konnte. An jedem Ton, an jedem Lachen, Gehen, und wie ich mich bewegte und benahm.

Das ist doch nicht so schlimm. Da musst du doch nicht gleich so weinen.

Sie stellen mir in Aussicht, dass ich in ein Sanatorium komme. Weg für ein halbes Jahr, und ganz allein, und dieser Dreckhaufen von einer Mutter sagt doch tatsächlich, das wäre nicht so schlimm.

Das ist doch nicht so schlimm.

Wie sie genüsslich immer wieder das aufsagt und herbetet. Weil sie das überhaupt nicht interessiert, wie ich mich fühle.

Geh weg! Ich kann dich nicht mehr sehen.

Ich sprach mit mir auch so.

Schau dass du weiterkommst. Geh jetzt gefälligst in dein Zimmer. Schau endlich zu, dass du allein zurechtkommst. Ich kann das ewige Gejammer nicht mehr hören. Hörst du. Und sei gefälligst still. Wenn Vater das jetzt mitbekommt, dann kannst du was erleben.

Wie ich mit gleicher Selbstbeschimpfung meine Wut verschob. Wie ich das lernte, mich zu beschimpfen, für das, was ich tat, nicht tat, nicht wagte und mir versagte. Wie ich damit die Wut verschob, auf mich und alle andern. Wie ich damit die Wut, die ursprünglich doch ihr gegolten hatte, auf mich und alle anderen bezog; nur nicht auf sie, die mir die Wut von Anfang an verboten hatte. Das schlimme ist, dass einem Kind wie mir schließlich nichts anderes mehr übrig bleibt, als sich belügen und beschimpfen und betrügen und jeden andern auch. Wenn ich mir etwas wünschen soll und etwas nur tun soll, was mir im Grunde doch missfällt, dann bleibt nichts anderes mehr übrig, als so erbost zu sein; wie meine Mutter.

Jetzt hör zu schreien auf!

Wer schimpft, schimpft sich auch immer selber damit aus.

Damit sich Wut verschieben lässt.

Dass ich mit schimpfen und beschuldigen die Wut verschob. Dass ich mit meiner Selbstbeschimpfung und dem Schimpfen über andere, auch immer wieder meine Wut verschob. Wie ich die Mutter damit schonte, indem ich meine Wut verschob. Wie sie mich das gelehrt hatte, indem sie ihre Wut auf mich ablud und immer nur verschob. Verschoben ist nicht aufgehoben.

Und jetzt sei still! Das ist doch schließlich nicht so schlimm!

Jetzt weiß ich, was mich so erbost hatte; nur immer meine Wut verschieben, sie immer wieder nur verschieben müssen. Mein Wutverzicht wurde belohnt, und sie bestrafte mich, solange ich noch wütend wurde.

Nur wenn ich meine Wut verschob, wurde ich auch gelobt.

Siehst du, jetzt ist es wieder gut. Jetzt sei schön still. Jetzt ist doch alles wieder gut!

Wenn eine Waschmaschine zitterte. Wenn etwas lauter wurde oder leise, für sie war alles voller Wut. Wie ich dann später selbst auf jede Art Geräusch hinhörte. Wie ich mir schon bei einem leisen Ton vornahm, deswegen mich nicht aufzuregen.

Dass ich meine Wut verhindern sollte, wusste ich. Dass ich die Wut aber verhindern wollte, das wusste ich noch nicht. Dass ich die Wut der Mutter immerzu verhindern wollte, das wusste ich. Doch dass ich überhaupt, im Grunde jede Wut verhindern wollte, bestätigt erst das Kind, das ich mal war. Um endlich doch geliebt zu werden. Um der Versuchung nachzugeben, dass nur mehr ohne Wut die Liebe zu mir kommen würde. Vollkommen ohne Wut. So also machte ich die Wut unmöglich. Ich wollte doch wie jedes Kind belohnt und geliebt werden.

Dazu habe ich jetzt keine Zeit!

Die Wut, die ich verschob, für ihre unterlassene Liebe.

Ich kann mich jetzt nicht um dich kümmern.

Sie mochte nur Distanz und Friedlichkeit von mir, nichts anderes war mir erlaubt gewesen. Und ich erwartete auch insgeheim dann später ausschließlich friedlich sein und zärtliche Distanz von einer Frau. Ich wusste selber nicht, dass ich mir überhaupt nichts anderes mehr wünschen konnte. Ich hielt die Wut nicht länger aus. Doch ohne Wut kann Liebe nicht am Leben bleiben.