Texte von Hugo Rupp

Einsamkeit

 

Martin Pawley: I hope you die! / Ich hoffe du stirbst!

Ethan Edwards: That’ll be the day. / Der Tag wird kommen.

The Searchers, Der Schwarze Falke John Ford

Tu dir weh, war ihre eigentliche Anweisung. Immer nur weh tun. Tu dir weh, werde dankbar. Das kann dich verbessern. Tu dir weh und bete, dass sich die erbarmen, welche nie Erbarmen zeigen. Tu dir weh und zeig Erbarmen, dass sich die erbarmen, welche kein Erbarmen zeigen. Tu dir etwas an, dass Erbarmen dich ergreift. Tu dir weh, das ist dein Erbarmen. Für dich und die Sünden aller. Und die Schuld vergeben. Tu dir etwas an, dass dem Schuldigen der Zorn vergeht. Dass der Zorn vergeht, tu dir etwas an. Tu dir etwas an, dass auch Dankbarkeit in dir entsteht. Tu dir etwas an und du wirst sehen, dass so Schuld und Schuldigkeit vergeht. Tu dir etwas an, damit zeigst du Würde. Dass dich Schuldigkeit umgibt; dich und deinesgleichen. Tu dir endlich etwas an, dass du brav wirst, endlich brav wirst. Tu dir etwas an, dass die Schuldigkeit vergeht. Bis die Schuldigkeit vergeht, meide Zorn. Kein Kind findet Eltern, die es nicht verdient. Kein Kind findet ohne Dankbarkeit Erbarmen, Eltern, die es nicht verdient. Dankbarkeit bezeugen, das hab ich verdient. Minderwertig bin ich auf die Welt gekommen. Minderwertig geh ich wieder ein, wenn ich keinen Dank bezeuge.

Das Kind als Almosenempfänger

Du kannst nicht einmal danke sagen, sagte sie.

Alles was ich kriege, kriege ich trotzdem. Trotz der Schuld in meinem Wesen. Trotz der Wut in meinem Stuhl. Trotz des Bauchwehs und der Schmerzen, die ich meiner Mutter vorwerfe. Trotz der Ruhe, die ich meiner Mutter stehle. Trotzdem Undank meines Herzens. Selten war ein Kind nicht böse. Trotz des Undanks meines Herzens, wirft mein Vater mich nicht raus. Trotz des Undanks meiner Worte, gibt mir Mutter was zu essen. Trotz des Undanks im Gebaren, dass ich immer wieder lache. Trotz des Undanks im Verwahren. Wahren meines Hasses. Meines hassenswerten Schmerzes. Wahren und verwahren.

Dass ich hassenswert erscheine, wenn ich wütend werde, schreie. Wenn ich nicht mehr brav sein will. Wenn ich weiter, weiter, weiter schreie. Wenn ich hassenswert für alle bin. Wenn ich hassenswert erscheine, weil ich ohne Dank und ohne Anstand bin. Wenn ich böse und verschlagen, wenn ich ohne Demut, ohne Reue schaue und verneine, was die Mutter von mir will.

Bin von Anfang an zwischen Hass und Selbsthass meiner Eltern groß geworden. Pendelte dann später zwischen Hass und Selbsthass hin und her. Zur Gewohnheit, hin und her, verachtete ich die Gesichter, ihr Grimassenschneiden voller Hass. Selbsthass, der sich lustig über Schmerzen machen konnte. Mein Gesicht dabei, war die Maske meiner Mutter, und die meines Vaters trug ich. Unscheinbar zufrieden, Dankeschön, Ostergruß, für die Wiederherstellung. Reinwaschung der Vatersünden.

My life’s been a circle of violence and degradation long as I can remember. I’m ready to tie it off.

Mein Leben war schon immer ein Kreislauf von Gewalt und Erniedrigung, solange ich zurückdenken kann. Ich bin bereit für einen Schlussstrich.

Rust Cohle True Detective, Episode 7

Sein Selbsthass war für mich als Kind nie fassbar. Sein Neid und seine Eifersucht, sein Hass, die waren für mich greifbar. Deswegen nahm ich ihn auch später noch für mich in Schutz, weil Neid und Eifersucht für mich verständlich waren. Mit einem eifersüchtigen und neidischen Vater konnte ich Mitleid haben. Selbst Hass erschien mir immer noch verständlich. Dass ich den Selbsthass übersah. Das Dunkelste, das er mir immerzu vermittelte, das merkte ich gar nicht. Wenn er mir all die Sachen wegnahm und verbot, die ihm als Kind verboten worden waren. Wenn er mir damit so weh tat, wie ihm als Kind genauso weh getan wurde. Selbsthass, der mich zerstörte. In Wort und Tat und Konsequenz. Niemals klein beizugeben und gestatten, was einem selbst als Kind auch nie gestattet war. Nur so verliert man seine Liebe endgültig.

Mein erstes Band. Kein Phantasieprodukt. Kein Sehnsuchtsfeld. Kein eingedeckter Tisch, auf den ich meine Augen richten kann. Und auch kein eingebildetes Objekt, auf dessen Dasein ich mich freute. Mein erstes Band, emotionaler Knebel. Ein Band, das mich und meine Mutter und den Vater immer wieder neu verschnürte und verband und dabei immer wieder neu verwunden sollte. Was ich verzweifelt immer nur vergebens lösen und aufgeben hatte wollen, von dem ich aber gar nicht wusste, was es war. Selbsthass. Mit Selbsthass taten wir uns immer wieder nur von neuem weh und leid. Verbunden schließlich über unsre Einbildung, wir wären uns nichts wert und keinem anderen was schuldig. So redet sich ein Kind die gute Wut im Grunde ständig aus und kriegt dafür statt Liebe, nur immer Hass, auf sich und die Verleugnung der Gefühle, ab.

Schau her, hab ich geschrien. Schau her, hab ich gesagt aus Schmerz. Schau her, es geht mir nicht gerade gut. Schau her, ich habe Hunger. Jetzt fühle ich mich nicht ganz wohl. Schau her, jetzt habe ich auch Angst. Schau her, mir ist auch schwindelig. Was ist nur los? Schau endlich her! Schau endlich her, ich bin allein.

Doch meine Mutter wollte das nicht wissen und erfahren.

So dachte ich als Kind, die Mutter wäre nicht an mir und meiner Art Gefühl interessiert. Das dachte ich von meinem Vater auch, dass er nichts wissen wollte, was Schmerz und Leid und Wut und Liebe anbetraf. So blieb ich brav.

Doch heute weiß ich, was für mich tatsächlich war. Sie waren beide nicht nur nicht an mir und den Gefühlen interessiert, sie interessierten sich doch überhaupt nicht für Gefühle; und sie vertrieben und verscheuchten sie, egal von wem sie kamen.

Aus dir wird nichts Gescheites werden!

Dann verließen alle drei gemeinschaftlich die Wohnung, was sie schon seit Monaten nicht getan hatten, und fuhren mit der Elektrischen ins Freie vor die Stadt. Der Wagen, in dem sie allein saßen, war ganz von warmer Sonne durchschienen. Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, daß diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren, denn aller drei Anstellungen waren, worüber sie einander eigentlich noch gar nicht ausgefragt hatten, überaus günstig und besonders für später vielversprechend. Die größte augenblickliche Besserung der Lage mußte sich natürlich leicht durch einen Wohnungswechsel ergeben; sie wollten nun eine kleinere und billigere, aber besser gelegene und überhaupt praktischere Wohnung nehmen, als es die jetzige, noch von Gregor ausgesuchte war. Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.

Franz Kafka Die Verwandlung

Aus dir wird doch nie etwas Gescheites.

Solange du nicht auf uns hörst, wirst du nicht gescheiter werden.

Das Gescheite meiner Eltern machte meine tiefe Not, dass Gewaltausübung und Erniedrigung eines Schwächeren, doch im Zweifel gar nichts Schlimmes, Schlechtes zu bedeuten hätten.

Aus Gewalt etwas Gescheites machen. Etwas, das auch Stolz sein kann. Das erweckt und aufbaut. So wird Vater endlich auch zufrieden.

Wenn ich nicht gehorchte, dann war ich der Dumme, und so würde aus mir auch nichts Rechtes und Gescheites werden.

Sei nicht lästig, hörst du! Sonst machst du es nur noch schlimmer.

Sie bezeichnen mich als lästig, dass ich lästig, enervierend werde, dass ich alles nur noch schlimmer machen würde, als es ohnehin schon ist. Dass ich alles nur verschlimmern würde mit dem Weinen und dem Schreien. Mit dagegen halten, wenn ich mich beklage. Dass ich die Gewalt und die Schmerzen nur verschlimmern würde, wenn ich nicht aufhörte.

Werd doch endlich mal gescheiter.

Dass ich das verschlimmern würde, was der Vater mir antat, dass ich das begreifen lerne, macht mich erst gescheit. Dass ich das begreife, macht mich erst gescheit. Dass ich mich nicht länger wehre, dass ich das begreifen lerne. Wenn ich mich zu Wort melde, wenn ich Vater etwas frage, mach ich alles nur noch schlimmer, wenn ich ihn befrage, wird der Vater immer schlimmer. Wenn ich ihn was frage. Dass die Welt noch schlimmer würde und auch die Gewalt, wenn ich darauf reagierte.

Halt doch endlich mal dein Maul.

Gleich ist es vorbei.

Halt doch einfach still. Gleich ist es vorbei.

Immer nur verschlimmern und verschlechtern, wenn ich was zu meiner Mutter und zu meinem Vater sage. Überhaupt was sagen, ohne den Gehorsam zu verweigern, kam gar nicht in Frage.

Daher kam das also: Fragen zu verschleiern, Fragen zu versagen, Fragen zu verneinen, Fragen würden nur mehr schaden. Daher kam das also, dass ich irgendwann auf Fragen, auch nur mehr allergisch reagierte.

AM: Natürlich ist es normal, dass ein kleines Kind seine Unzufriedenheit, Bitterkeit oder auch den Zorn mit dem Körper ausdrückt, solange es nicht sprechen kann. Diese Emotionen steigen auf, weil es etwas nicht bekommt, das es BRAUCHT (nicht nur weil es „es gerne hätte“). Man kann versuchen, seine Reaktionen zu verstehen, wenn man darauf achtet, was vorher vorgefallen war, und Ähnliches später zu vermeiden. Aber natürlich kann man dem Kind nicht jede Enttäuschung ersparen. Nur darf man ihm nicht verbieten, darauf so zu reagieren, wie es seinem Alter entspricht. Lesen Sie mein Buch „Am Anfang war Erziehung“, vor allem die ersten 50 Seiten.

Antwort von Alice Miller auf Leserbrief Die Körpersprache des Kindes 
Friday 12 June 2009

Was siehst du mich so an!? Was willst du denn schon wieder? Du hast doch alles, was du brauchst!

Jetzt realisiere ich, dass meine Unruhe, die mich doch immer wieder mitten in der Nacht aufwecken und aufschrecken konnte, aus meiner Kindheit stammt. Die Eltern warfen mir die Unzufriedenheit schon vor, da war ich noch so klein. Sie nannten mich schon damals einen Spielverderber, wenn ich nur aufwachte, nach meiner Mutter schrie.

Ich lernte unzufrieden sein, wenn jemand mit mir unzufrieden war. Wie meine Mutter und mein Vater mir das beigebracht hatten. Ich war nicht notgedrungen unzufrieden und ich konnte es nicht sein, wenn jemand zu mir schlecht und böse war, wenn jemand mich bestrafte. Ich war nicht unzufrieden später, wenn mich ein Lehrer, wie die Eltern klein machte, erniedrigte und quälte. Ich war nicht unzufrieden. Ich hasste mich dafür, nach all den Jahren Quälerei. Ich kam gar nicht auf die Idee, ich sollte oder dürfte unzufrieden sein, auch ohne die Erlaubnis eines Dritten.

Ich konnte gar nicht unzufrieden sein mit einer anderen Person, und wütend konnte ich nicht werden, wenn mich aus heitrem Himmel wer verließ und so einfach vergaß. Ich durfte doch nicht unzufrieden sein, weil mir das meine Eltern nie erlaubt hatten.

Wenn meine Eltern mit mir unzufrieden waren, dann sollte ich mich ändern. Sich selbst verbiegen nennt man das.

Deswegen war ich nie zufrieden, wenn ich was machte und was tat. Ich konnte nicht zufrieden sein, solange niemand mir bedeutet hatte, er wäre mit mir nicht mehr unzufrieden.

Sei doch nicht immer gleich so ungeduldig und so unzufrieden.

Sie hatten mich verantwortlich gemacht für ihre eigene Unzufriedenheit und Unzulänglichkeit. Sie machten mich verantwortlich für ihr Versagen; und so entstand die Schuld und mein Gefühl, ich wäre doch von Anfang an nur unzufrieden, unzulänglich und sonst nichts wert gewesen.

The emptiness that we confess

In the dimmest hour of day

The Hat – The Angry River Lyrics feat. S.I. Istwa & Father John Misty

Ich öffnete die Wunden und die Narben und ließ die Einsamkeit heraus, die ich von Anfang an in mir gespeichert hatte. Mit Unzufriedenheit und tiefer Not, von der die Eltern nie was wissen hatten wollen; ich ließ mich endlich aus und frei.