Texte von Hugo Rupp

Die Zwickmühle

 

Es kommt mir so vor, als ob ich in einer anderen Welt leben würde, in der mir niemand glauben kann. Was soll ich dagegen tun? Wie, um Himmels willen, soll ich mich unter diesen Umständen verteidigen?

Aus: Willem Frederik Hermans, Die Dunkelkammer des Damokles

Musst du schon wieder mit was kommen!? Warst du nicht erst vor ein paar Tagen krank?

Sie wirft mir krank sein vor.

Daher die Enge meines Herzens. Von Bitterkeit bin ich so angefressen wie ein Tier, das seine Wunden selbst nicht lecken kann. Ich biss mich in der Seele fest, was meine Wut verhindert hat.

Fehlt dir denn irgendwas!?

Sie wollte Lügen hören. Sie hätte meine echte Antwort nur bestraft. Sie wollte überhaupt nichts von mir hören.

Deshalb die vielen Flecken auf den Bildern. Die schwarzen Punkte, auch mal Schlieren, Schleier, sie machen meine Kindheit für mich aus. Die schwarzen Flecken, Kerben, Wunden, der nie verheilte Narbengrund, die Kindheit ohne Zeugen. Die Flecken, die es nur in meinen Augen gab, die niemand sonst für mich bemerken wollte. Die unsichtbaren Wunden, die meine Mutter nie wahrnahm.

Ich zeigte ihr die Hand. Die Oberfläche meiner linken Hand. Ich hielt ihr immer wieder meine linke Hand entgegen, damit sie sehen konnte, dass ich nicht krank wäre, dass keine Lungenkrankheit in mir sei. Sie schaute und sie lächelte.

Ich wartete im Grunde unablässig auf das Schlimmste und eine Katastrophe. Weil niemand bei mir war. Ich musste immer nur alleine auf was warten und wusste mir auch keinen Rat. Ich schaute meine Hand den ganzen Tag lang an. Ich wartete auf dieses Zeichen, und dass sie mich dann isolieren, wegbringen würden.

Ich schaute noch jahrzehntelang auf meine linke Hand und wusste nicht, warum ich dort nur hinschaute. Ich hatte es vergessen, was es als Kind für mich bedeutet hat, auf Schreckliches allein zu warten müssen. Mit einem Schrecken nur allein zu sein; und damit ausgeliefert.

Ich blieb dem Schrecken treu. Er ging nicht von alleine wieder weg. Ich konnte ihn auch nicht verlieren, solange ich auf seine Wirkung wartete. Ich wartete auf meine Mutter.

Reiß dich gefälligst jetzt zusammen. So schlimm ist das nun wieder nicht, sagt sie.

Ich wartete auf ihr Gesicht. Wie sie mich ansehen würde, wenn dieses Mal, als Zeichen meiner Krankheit, für mich zum Vorschein kommen würde. Wie sie mich dann behandeln würde.

Ich sah den Ekel bereits vor ihr. Mit Unmut in der Stimme, wie feindselig sie spricht und dabei schaut. Sie schüttelt ihren Kopf und lacht tatsächlich, weil sie das nicht wahrhaben will, dass ich auf Knien vor ihr bin und bettle. Nicht wegschicken! Nicht wegschicken! Ich sehe die Verbitterung in ihrem Angesicht. Wenn ich um Trost und um Berührung bettelte, dann ließ sie mich allein.

Ich war an meiner Einsamkeit nicht schuld, fällt mir gerade ein. Es hatte keinerlei Bedeutung, was ich zu ihr auch sagte. Für ihr Verhalten, war meine Äußerung vergebens. Ich hatte keinen Einfluss auf sie. Ich konnte gar nichts tun. Ich hatte keinerlei Erfolg. Sie kümmerte sich nicht um Liebe. Sie merkte gar nicht, was ich wollte. Sie konnte sich selbst auch nicht bessern.

Doch heute als Erwachsener, da kann ich etwas tun, was ich der Mutter gegenüber, als Kind niemals gewagt hätte, ich kann den Wunsch nach Besserung aufgeben.

Seitdem begreife ich die Zeit und jenen Raum, in dem ich so verloren war, und was ich niemals überbrücken hatte können. Den Grund für mein Gefühl, unendlich einsam sein. Womit ich später dann auch rechnete, was ich erwartet hatte irgendwann, von jedem Menschen, dem ich näher kam. Was ich auch selbst ausübte. Das Schlimmste, was es für ein kleines Kind nur geben kann, buchstäblich und im übertragnen Sinn, das habe ich ertragen: Sie ließ mich einfach fallen. Sie stieß mich einfach weg.

Ich hatte plötzlich eine solche Angst in mir und konnte das nicht merken, dass meine Mutter mich entsetzt hatte, dass sie das war, die mich nur immer wieder neu entsetzen konnte. Wie später mit dem schwarzen Mann. Sie sagte mir, der würde mich gleich holen, wenn ich nicht unverzüglich schlafen würde. Ich hatte Angst vor diesem Mann, der mir im Traum dann auch erschien. Ich hatte Angst an jedem nächsten Tag vor neuen bösen Schatten. Wenn es am Abend dunkel wurde. Ich nahm den Schwarzen Mann als Drohung mit, doch niemals dabei meine Mutter. Ich konnte sie als Auslöser, als Ursache der Angst nicht ausmachen. Ich hatte viel zu große Angst vor dem Geschehenen. Die Falle schnappte immer zu, wenn ich versuchte auf sie loszugehen und mich mit Schreien nur zu wehren. Sie ließ mich doch gerade dann allein und einfach wieder fallen.

Infrage stellen meiner Mutter war unmöglich. Deswegen habe ich mein Fragen schließlich eingestellt. Ich war in eine Zwickmühle gefangen. Ich konnte weder für mich sprechen, noch etwas gegen meine Mutter sagen. Ich konnte nichts mehr für mich tun. Ich musste mich gefangen und geschlagen geben. Ich konnte Mutters Grausamkeit als Kind nur ohne Wut ertragen. Ich hätte neben ihr damit nicht überleben können.

Du bist jetzt still, sonst werde ich dir dein ungewaschenes Maul stopfen, sagt sie.

Sie stopfte mir eine Banane in den Mund, nachdem sie mich die ganze Treppe runterfallen hatte lassen. Sie stopfte mir tatsächlich eine Banane in meinen Rachen, als ich vor Schmerz und Wut nur schreien hätte wollen. Deshalb mein Husten und mein Schleimen, mit gelbem Rotz aus meiner Nase. Das also musste stellvertretend für mich raus, statt Hass auf meine Mutter, den ich mir nie als Kind erlauben hätte können.