Wie traurig das doch ist, nie wissen dürfen, wie das sein kann für ein Kind, wenn sich wer um wen kümmert; mit Leib und Seele liebt.
Solange ich den Mustern meiner Kindheit treu blieb, indem ich meinen Eltern aufs Wort folgte, solange konnte ich selbst nicht erleben, was es für mich bedeutet hat, ein Kind zu sein.
Der Ort, der ich bin und sonst niemand, mein Herz, die Seele meines Geistes, wie immer man das heißt, was immer dort geschehen ist, bin ich und sonst niemand. Der weiß, woher die Hilfe kam. Woher sie niemals kam. Wie leer der Ort tatsächlich war, wenn ich nur mich dort sehen und wieder finden kann, dann sehe ich, wer dort noch ist. Wer mich beschützt hat vor den Schlägen und der Gewalt, den Worten, die mein Herz bestraften, die ungehindert in mich drangen.
Wer schadet und ein Kind verletzt, verwundet jeden Ort, an dem sich dieses Kind dann später aufhält und verortet. Wer ein Kind schlägt, verwundet in ihm jede Aussicht auf Zuneigung. Der schadet jedem Augenblick der später ist. Der schadet jedem Wort, das sich aus diesem Kind bewegt.
Da kannst du dich jetzt hinhocken und mit dir selbst dann reden, sagt er.
Wer weiß, was das bedeutet, ohne Zuflucht sein!?
An seiner eignen Hand alleine gehen.
An einer Hand so gerne jemand haben mögen. An einer Hand wenigstens später, irgendwann, doch jemand haben.
Wer weiß, was das bedeutet, ohne Heimat sein, weil niemand dich beschützt, wenn eine Hand zuschlägt?
Natürlich wünschte ich mir einen Bruder, der mit mir gehen würde, der mich nach Hause auch begleitete, der ganz genau die Wege kennt, wo niemand mir auflauern wird, der mich beschützt und nicht mehr weggeht, egal was auch passiert. Der Wunsch bezeugt die Tatsache, dass niemand für mich war, im Angesicht des Schreckens und der Angst. Dass meine Seele niemand kennt, der nicht verschwunden ist wie ich. Wer nicht am Tag und in der Nacht nach seinen Armen suchte, nach Bäumen, hinter denen wenigstens für eine Zeitlang Sicherheit zu finden wäre. Wer dann nach oben schaut, sieht vielleicht Blätter rauschen. Die Bäume haben kein Gesicht, nur Blätterhände schütteln unentwegt nur Blätter, vereinzelt und auch miteinander.
Jetzt fällt der Watschenbaum gleich um, sagt er.
Ein Bild. Mit Fäusten, aufgehängt an beiden Füßen, zitternd.
Geschlachteter Ochse, 1925, Chaim Soutine, zeigt für mich einen Menschen, der aufgehängt erscheint, geschlachtet und geschlagen, die menschliche Gestalt, kopfwärts nach unten hängend, das Blut im Kopf, wo alles Blut zusammenfließen musste, die Arme wie ein Boxer, der geschlagen ist, noch immer Abwehr zeigen wollend, sich wehren müssen, immer noch, nachdem der Unterleib zerschunden und zerhackt wurde. Die Arme mit den Fäusten immer noch bereit, Gewalt selbst tot abwehren müssen. Im Tod noch Schläge gegen seine Seele abwehrend. Das muss ein Kind gewesen sein, das niemand schützte. Das keine Zuflucht fand. Der sich dann noch den Bruder zeichnete, der an der Hand mit ihm nur Häuser fand, aus denen Licht wie böses Blut in Fenstern brannte. Kein Ausweg, ohne Zukunft sein, wer nicht beschützt wurde.
Das Zittern seiner Nervenbahnen als innerer Befund. Niemand kann das Gefühl als Kind vertragen, einsam und ohne Schutz zu sein. Niemand kann das als Kind ertragen. Nur sich und niemand sonst zu haben. Sich selbst bewahren müssen. Sich auch noch selbst und ganz allein, sich selbst für sich bewahren, aufheben müssen. Sich selbst aufheben müssen. Allein sich selbst bewahren. Aus einem Bild sein und beschwören, da war niemand.
Du selbst jedoch, bist jetzt bei dir. Die Wut steckt dir in allen Gliedern. War unentdeckt bei dir. Als Hilfe über all die Jahre und Jahrzehnte. Lag unentdeckt bei dir. Mit Zittern wird die Wut, von Angst vollkommen übermannt.
Gefallen müssen war das Schlimmste. Nicht einmal wagen, nicht zu gefallen! Nur nicht missfallen. Nur nicht auffallen mit einer Äußerung nun gegen ihn und sie. Nur schön leise sein, nichts tun, was ihnen nicht gefallen könnte. Nur schön ruhig sein. Schön brav sein und ganz leise. Tu, was sie dir sagen, nimm dich zusammen und sei still.
Der Junge in der Leichenhalle gab ein Beispiel ab, das ich als Mahnung für mich damals so verstand. Der tote Junge, der da lag, sein schwarzes aufgerissenes Auge zeigte er, sein anderes geschlossen. Die Blicke nirgendwo. Wie man nur schauen kann, ohne sich dabei zu fühlen. Wie man schlafen kann, ohne Schlaf zu finden. Wie man schlafen kann, ohne dabei wirklich da zu sein. Wie man liegen kann, ohne sich zu rühren. Träume voller Angst sprechen von der Reue, reuen müssen, immer wieder. Immer nur bereuen müssen. Brav sein ohne Ende. Wie man brav ist, ohne wenn und aber. Hände über seiner Brust gefaltet, wie ein guter Sohn, um den Eltern zu gefallen. Hält die Hände schön gerade, über seiner Bettdecke.
Lass die Hände schön heraußen!
Kannst sie ruhig falten, wie beim Beten.
Auch der Junge mit den toten Augen tat den Eltern den Gefallen. Hielt die Hände schön gefaltet, so wie Gott das gern hat und das sieht, dann ist Gott zufrieden. Tat den Eltern den Gefallen, folgte ihrem Willen.
Niemand wird von diesem Jungen noch was hören.
Man stellt sich vor, daß Soutine deformiert, um zu deformieren, mit einer Art Perversion, die den Betrachter in Erstaunen versetzen, wenn nicht gar empören will. Welch schwerer Irrtum. Er leidet vor seinen allzu formlosen Leinwänden, in denen seine wundervolle Welt wankt wie im Innern seiner selbst. (Elie Faure, Soutine, Paris 1929, S. 6)
Im Grunde musste ich Gefallen finden an Gewalt, die man mir beibrachte, die man an mir ausübte. Um zu gefallen muss ein Kind, während es geschlagen wird, vielleicht lächeln.
Jetzt hat es dir wohl die Sprache verschlagen!?
Du bist doch sonst nicht auf den Mund gefallen!?
Ich schaute, ohne was zu zeigen. Das war das mindeste, was ihm gefiel. Ich musste ihm gefallen. Das konnte ich als Kind nicht merken, dass ich tatsächlich alles tat, um mich nur irgendwie zu retten, damit mein Vater auch zufrieden mit mir sein konnte.
Jetzt lässt du deine Schultern hängen!
Wo ist denn jetzt dein Mut!?
Ich atmete für ihn. Um seine Wut zu stillen, gefiel ich seinen Hassvorlagen. Ich reagierte auf den Hass mit Demut. So gefiel ich ihm. Ich reagierte mit Zuneigung. Ich tat ihm das zuliebe. Ihm seine blinde Wut zu heiligen. Mein Vater hasste Widerworte. Ich folgte seinem Hass. Dem Muster seiner Wut.
Der geschlachtete Ochse und der tote Junge.
Ich machte meine Hände klein. Viel kleiner noch als Regen. Verbog mich samt den Schmerzen. Ich machte meine Augen zu und schlief mit offnem Mund. Ich zeigte dabei keine Scham. Verwundet bin ich nicht. Das sagte ich ihm unablässig ins Gesicht. Das sagte ich statt meiner Schmerzen. Ihm zum Gebet. Mir fehlt doch nichts. Mir ist doch nichts geschehen. So folgte ich den Blicken meiner Mutter. Ich widersprach mir selbst. Mein Vater hasste Widerworte.
Für ihn bin ich ein Stein. Ein Stein nach seinem Herzen. Ich wankte nicht vor ihm. Ich zeigte keinen Schmerz und keine Angst. Wie dieser tote Junge, der ganz allein in seinem Sarg, ganz ohne Widerrede bleibt. Der ganz allein dort bleibt und kein Wort sagt. Was immer auch passieren wird, was immer auch geschieht als Vorstellung von einem „Helden“. Woher das kommt, etwas zu tun, was einem weh tut und selbst schadet.
Es fiel mir damals niemals auf, wie panisch meine Eltern wurden, wenn ich mich wegbewegen wollte, weg aus dem Kreise ihrer Furcht. Wenn ich dem Glauben meiner Eltern untreu werden wollte. Weg aus der Mitte ihres Herzens. Weg wollte aus dem Steingarten. Der Wohnung und der Heimat meiner Eltern. Wo jeder mit sich selbst nur sprach und niemals, niemals füreinander. Unfähig Liebe selbst zu äußern. Dass dies die Zuflucht war, die Rettung die mir blieb, die Liebe für mich nicht zu äußern, die Wut im Angesicht des Vaters.
Wenn das ehemalige Kind seine Wut begreift, kann es damit etwas werden, was es niemals vorher sein durfte, nämlich Zuflucht für sich selbst. Ohne Angst dabei zu haben, wenn es sich gefällt, merkt es, dass es sich verwandelt und sich selber retten kann. Wut war immer eingekapselt. Wut war immer schutzlos, angreifbar gewesen. Wut war immer in Gefahr. Jener Lebenswille, der nur sich meint und sonst niemanden. Niemand gefallen müssen, um endlich wer zu sein, für sich. Sich selbst nicht und auch keinem anderen, um zu gefallen, schaden. Du bist auch wer, auch wenn du nicht Gefallen findest.
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