Texte von Hugo Rupp

Die Wut des ungeliebten Kindes

 

Wo ist denn der Ball jetzt hin? Hast du es jetzt geschafft!? Ist er jetzt weg? Wo hast du ihn denn das letzte Mal hingetan?

Ich stehe da und schaue, weil ich nicht weiß, wo ich ihn hingetan habe.

Weißt du das nicht mehr?

Das letzte Mal? Was ist das letzte Mal. Ein letztes Mal, was ist das?

Wo hast du denn mit dem Ball gespielt? Du musst doch wissen, wo du mit dem Ball das letzte Mal gespielt hast!?

Ich schaue in den Boden. Ich schaue in eine Ecke. Ich schaue weg. Der Ball ist weg und ich finde ihn nicht. Ich habe schon überall nachgeschaut. Nur im Schrank nicht. Sie öffnet meinen Schrank. Da liegt der Ball, oben bei den Pullovern. Ich habe ihn da nicht hingetan. Ich bin froh, dass er da ist.

Siehst du! Da ist der Ball.

Ich weiß nicht, wie er dort hingekommen ist.

Du fragst dich, wie der Ball dorthin gekommen ist!?

Ich schaue sie an und schnaufe leise.

Ich habe ihn dort hingetan. Nachdem du ihn einfach liegen hast lassen, habe ich ihn aufgeräumt.

Ich verstehe, dass immer etwas falsch ist. Dass ich immer etwas falsch mache. Dass ich immer etwas falsch machen muss.

Man räumt seine Sachen auf, mit denen man spielt. So einfach ist das. So einfach kann das sein.

Sie macht immer Zusätze. Sie hängt immer einen zusätzlichen Schluss an ihre Worte. Sie kann nicht einfach aufhören. Ihr letztes Wort zerstört mir jede Möglichkeit, dass ich in Zukunft etwas richtig machen könnte. Es ist das Unheil fördern. Sie fordert und fördert Unheil zu Tage. Sie bringt das Unglück erst hervor. Sie richtet mein Verhalten. Sie baut Fallen auf, in die ich tappe. Dann ermahnt sie mich. Oder sie findet etwas. Oder sie erfindet etwas gegen mich. Sie lässt mein Tun nie ohne Worte. Sie kommentiert mein Spiel. Mein Verhalten. Alles was ich tue und auch wie ich mich bewege. Auch was ich nicht tue. Von dem ich keine Ahnung habe, dass es das gibt. Für mein nicht Tun bestraft sie mich auch. Für etwas, das nur sie sieht und niemals ich. Sie sieht alles, auch das, was ich nicht sehen kann.

Was passt dir denn schon wieder nicht?

Ich habe nichts getan.

Was glaubst du, wer den Ball aufräumt, wenn ich ihn nicht aufräume.

Ich bin nicht auf die Idee gekommen zu fragen, warum man Bälle aufräumen muss.

Man kann doch einen Ball nicht einfach so herum liegen lassen. Man könnte darüber stolpern und fallen und sich dabei ein Bein dann brechen. Du willst dir doch kein Bein brechen, oder?!

Ich weiß es nicht. Ich habe mir noch nie ein Bein gebrochen. Warum soll ich mir ein Bein brechen wollen. Warum sollte ich mir ein Bein brechen wollen? Soll ich mir ein Bein brechen?

Du willst doch nicht, dass dein Vater böse wird, wenn er das hier sieht, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt. Oder?

Ich will nicht, dass Vater böse wird.

Du willst doch nicht, dass ich ihm sage, dass du dein Zimmer partout nicht aufräumen wolltest. Dass das Essen nicht pünktlich auf dem Tisch steht, weil ich dein Zimmer noch aufräumen musste, weil es wieder so ausgesehen hat. Das willst du doch nicht. Oder? Dass ich deinem Vater sage, wie es wieder in deinem Zimmer ausgesehen hat!?

Das Band, das mich mit meiner Mutter und meinem Vater verbindet, sind ihre Drohungen. Ihre Versprechen. Ihre Versprechungen. Ihre beiderseitigen Beschuldigungen. Es gibt keine Möglichkeit für ein Kind, dieses Band zu durchschneiden. Es gibt keine Möglichkeit, die Worte zu unterscheiden und auseinander zu reißen, um dahinter doch die eigene Wahrheit zu entdecken. Was ist eine leere Versprechung, was ist eine Drohung, die auf einer Lüge basiert. Was ist eine Lüge? Warum sie lügt, auf diese Frage kommt erst recht kein Kind. Es würde die Möglichkeit des Schutzes, der Autonomie voraussetzen. Die Frage: Warum lügst du?, setzt Freiheit voraus. Warum lügst du nicht, setzt ebenso Freiheit voraus. Für mich gab es weder einen richtigen, noch einen falschen Weg. Für mich gab es nur einen Weg, eine Möglichkeit. Der Sprache meiner Eltern so zu folgen, dass sie damit geachtet blieben.

Wenn du nicht willst, dass dein Vater böse wird, verstehe ich nicht, warum du deinen Ball dann nicht aufräumst.

Die Lüge lässt keine Wahl. Da war nichts außerhalb des Gehorsams. Gehorsam richtet alles hin, nach einer Richtung aus, nach einer Linie. Bringt alles auf die Spur der Eltern.

Wie solltest du die Ohren schließen? Wie solltest du das tun, so dass sie das nicht sehen und bemerken? Wie sollst du weghören? Es waren nicht die Worte deiner Eltern, die du schlucken musstest. Du musstest ihre Worte schon verdauen, doch über deine Ohren weg. Im Hals da stecken nur meine eigenen. Da sind nicht ihre Worte aufgehoben. Da sind die über meine Eltern, die verborgenen, am Kehlkopf und auch in meinen Backen. Da bläst der andere Wind, mir selbst entgegen.

Du sollst ersticken an den Worten. Hörst du! Ersticken sollst du, wenn du so mit mir sprichst. Die Worte sollen dir im Hals stecken bleiben. Du sollst an deinen eigenen Worten ersticken. Verstehst du!?

Sie machten mich tabu, das was mit meinen Worten kommen wollte. Die Gegenwart des Schmerzes. Das Leiden in den Worten. Sie machten das tabu. Ein Leiden in der Gegenwart des Kindes. Sie ließen mich nicht leiden. Sie ließen meine Worte nicht vor ihren Augen, Ohren zu. Sie banden mich mit ihren Worten zu, erstickten meine Widerworte.

Wenn ich mit meinem Vater so gesprochen hätte, der hätte mich erschlagen.

Das ist nicht mehr beeindruckend. Das ist es nicht, was mich so ängstigte. Das ist es nicht gewesen. Die Worte, die Erscheinung. Es gibt noch etwas anderes. Der Sinn für ihre Lage. Die Bettstatt ohne Boden. Mein Fallen, ohne Worte. Dass ohne sie nur Leere ist. In diesem Sarg, mit diesem Jungen. Dass nichts mehr aus dem Mund kommt, auch ganz egal, was jeder sagt und mit ihm macht. Es ist das nicht mehr sprechen können. Das ohne Äußerung. Gehorsam ohne eigne Worte sein. Das ewig eingeschlossen sein, mit eignen Worten. Kein Gegenüber haben, kein Gegenüber sein.

Ich hatte keinen mehr, der mit mir spricht.

Wenn ich den Mund des toten Jungen sehe, dann sind dort seine Worte. Er hatte sie im Hals versteckt. Er hielt sie dort verborgen, wie jedes stumm gemachte Kind, das seine Worte horten musste, weil es doch ohne sie nicht leben kann. Sie sahen seinen Mund nicht an. Sie rührten ihn nicht an. Sie wurden nicht berührt. Die Worte rührten sich in ihm, sie lagen dort auf seiner Zunge. Sie lagen auf den Lippen, doch niemand konnte sie dort sehen. Sie lagen einfach da, in allen Farben. Sie sagten, nicht berühren, bitte nicht, lasst meine Worte leben. Der Junge zeigte seine Leiden. Er lag dort voller Sätze, Worte, Schrift und Zeichen. Ich ging und Flaggen folgten mir, sie wehten, zeigten seine Farben.

Geh doch nicht weg, bleib bitte hier, ich bin doch ganz allein, lag auf den Lippen. Geh doch nicht weg von dir. Geh doch nicht weg. Ich sah die Worte nur und konnte sie nicht hören. Ich sah sie überall und wusste nicht, wie mir geschah. Ich wusste damals nicht, als ich alleine diesen Jungen im Leichenschauhaus besuchte, was mir geschah. Er sprach mit mir, wie ich mit ihm. Er zeigte mir die Stille seines Herzens. Er sagte: bleib, geh nicht mehr weg von mir. Ich bin doch alles, was ich habe. Ich habe nichts mehr sonst. Ich bin doch wirklich alles. Hab keine Angst. Ich bin nicht leer gestorben. Sieh meine Augen an! Sieh mich nur an, ich bin nicht leer gestorben. Ich bin nicht leer gestorben. Bezeuge mich, dann bin ich niemals mehr allein. Ich bin nicht mehr allein. Ich sehe und erkenne dich. Ich lese deine Lippen. Ich lese deine Sprache ab. Von deinen toten Lippen. Auch wenn du mich nicht hörst. Ich sehe deine Nähe. Wir sind uns doch sehr ähnlich. Hier sind die Bilder aufgehoben. Zeig ihnen ruhig meine Bilder. Sag allen, dass du mich besucht hast. Dass keiner außer dir her kam. Bezeuge mich. Schreib auf, was auf den Lippen lag. Bezeuge mich und du wirst wieder atmen können.

Ich mit der Schubkarre, der Totengräber. Der Straßenkehrer. Der Findling seiner Seele. Der sich selbst aufgehoben hat. Der sich selbst fahren kann.

Ich ging nach Hause und hatte Angst. Vor Schatten, allem Möglichen. Ich wich den Blicken von Passanten aus. Ich schlich den Gang entlang und achtete auf meine Schritte. Ich wollte leise sein, nur nichts aufschrecken. Ich fürchtete mich vor dem Unsichtbaren und wusste nicht, was dieses Unsichtbare war. Ich sagte: Ich bin auf dem Friedhof gewesen. Sie sah in meinen Augen Angst und lächelte. Ich habe dir doch gleich gesagt, geh dort nicht hin. Dann drehte sie sich um. Ich ging auf die Toilette und schaute, bevor ich mich setzte unter der Klobrille nach, ob dort etwas war, ein Wesen, was weiß ich. Ich kannte mich nicht aus. Die Mutter sagte immer nur: Das bildest du dir doch nur ein. Da ist doch nichts. Mein Vater sagte: Die Toten tun nicht weh. Von Toten hast du nichts zu fürchten. Er hatte recht. Sie hatte recht. Ich bildete mir alles ein.

Ich durfte meine Angst nie vorher zeigen. Jetzt konnte ich nicht anders. Ich konnte meine Angst nicht mehr verstecken. Ich schaute unter meinem Bett und suchte dort nach Toten. Ich suchte auch im Schrank, noch zwischen Sachen. Es schien mir möglich, dass irgendwo hier in der Wohnung, für mich etwas verborgen lag, für mich nur aufgehoben, das mich betraf, mich und den toten Jungen. Ich suchte nach der Angst und jeder der mich suchen sah, verweigerte die Anteilnahme. Sie sahen weg und lächelten.

Wie war die Angst in mich gekommen?

Wie kam ich auf die Idee, nur überall zu suchen. Nach den versteckten Möglichkeiten selbst zu suchen?

Warum versuchte ich nach Totem überhaupt zu suchen?

Ich wollte Tod nicht in der Wohnung haben. Nicht auf dem Klo, unter der Toilette, nicht im Schrank, erst recht nicht unter meinem Bett. Ich suchte Tote zwischen Hemden.

Der tote Junge hatte alles aufgedeckt, wie umgedrehte Karten. Er hatte alles umgedreht. Die Bilder lagen plötzlich oben. Die Angst und ihre Bilder. Ich lag in meinem Zimmer, auf dem Boden. Ich schlich mich in die Ecke nah am Fenster und zog den Vorhang vors Gesicht. Ich schloss die Augen immer wieder. Ich sah noch immer sein Gesicht, wie er in seinem Sarg gelegen hatte. Ich sehe immer noch sein Starren. Der schwarze Mann war hier. Hier, jetzt in meinem Zimmer. Er hatte mich gefunden. Er hatte mich gefunden. Mich ganz allein. Die Eltern lächelten. Elf Jahre war ich alt. So groß und soviel Angst, was soll aus dir nur werden. Du brauchst doch keine Angst zu haben. Wovor hast du nur Angst? Sag schon, vor was hast du denn solche Angst?

Sie fragten mich tatsächlich. Ich schwieg und wusste nichts zu sagen. Ich wusste nicht, wie meine Angst in mich gekommen war. Mit welchen Worten und auch Taten. Ich hatte keine Ahnung von der Angst, die in mir unaufhörlich werkelte. Ich hatte keine Ahnung, dass beide, wie sie vor mir standen, mit lächelndem Gesicht, dass jene, die mich über meine Angst befragten, doch meine besten Zeugen waren. Sie fragten mich nach meiner Angst und wussten selbst nichts von der ihren. Sie hatten sie in mich gepackt, in mir erschaffen, für ihre Zwecke aufgebaut und ohne jegliche Verantwortung. Sie waren doch die Baumeister. Ich folgte umgedrehten Kartenbildern. Ich folgte Bildern in der Wohnung. Ich folgte alten Spuren. Ich schlich genau die Wege, die ich als kleines Kind schon ging, nur um dem Vater zu entwischen und meiner Angst vor ihr, dass sie mich immer nur erschreckte. Ich war in meiner Angst gefangen. Sie hatten alle Bilder umgedreht. Die Karten wieder umgedreht. Die Karten wieder neu gemischt. Sie hatten sich versteckt. Ich konnte sie nicht sehen. Die Urheber. Die Förderer der Angst. Der tote Junge hatte alles aufgedeckt. Sein Anblick hat mich so erschreckt, dass ich nicht länger schweigen konnte. Mit seinem Blick, hab ich die Angst entdeckt und ihre Ursache. Die Angst hat mich nach Haus geführt, nur immer wieder nur nach Hause, und in den Gang, dann eine Treppe hoch, dann zu den Eltern. Die Angst führt mich zu meinen Eltern. Nicht weil ich dort die Rettung mir erhoffte und vielleicht Trost in meiner Not. Nein ganz im Gegenteil, ich bin nur immer wieder, ohne das zu wissen, an meine Quelle heimgekehrt. Wo meine Angst begann. Mit meinen Eltern. Durch meine Eltern. Das Opfer und sein Geist kehrt solange an den Ort des Schreckens und der Tat zurück, solange es nicht zweifelsfrei und sicher ist, was dort geschehen ist mit ihm. Ich suchte meinen Blick und meine Augen. Ich suchte meinen Kinderblick, von dem der Eltern grundverschieden.

Das bildest du dir ein!

Die Toten tun dir nichts!

Was wisst ihr schon von meinen Bildern? Was von der Einbildung? Woher kennt ihr denn meine Angst!? Was wisst ihr denn von Toten? Was redet ihr denn eigentlich? Ihr wolltet euch schon nicht verstehen! Ihr wolltet auch nichts hören, und nichts von euren Taten wiedersehen. Ihr wolltet mich wie einen Toten ruhen lassen und mich lebendig auch begraben. Ihr wolltet nichts von mir und meiner Angst, von meiner Art zu fühlen wissen. Ihr habt mich hingelegt und zugedeckt und seid gegangen. Ihr habt mich ausgestellt und allen Blicken ausgesetzt.

Was habt ihr mir nur angetan?

Was bildet ihr euch ein?

Der tote Junge zeigte mir den Zorn und seine umgebrachte Wut. Wie Indianer auf dem Kriegspfad sah er aus, wie ich das aus den Filmen kannte. Wild angemalt, mit wutverzerrtem Mund, die Augen aufgerissen, Raserei. Von Raserei auch festgehalten, von Hass beseelt, vom Hass auch angefressen. Er war die Wut, der Zorn, die Weißglut und der Hass. Das zeigte er und das verstand ich ohne zu verstehen. Sie hatten seine Wut erdrückt, jetzt war sie doch noch frei geworden. Sie stand ihm ins Gesicht geschrieben. Ich sah das und ich sah es wieder nicht. Ich sah dort alles, wie es für mich war. Vom Abfall der Gefühle. Sie konnten ihn nicht mehr bestrafen, jetzt zeigte er Gefühl. Er zeigte seinen Eltern jetzt und allen anderen, die seinen Sarg und ihn darin besahen, wie zornig und wie wütend er gewesen ist und was er immer nur verstecken und verstecken hatte müssen. Er konnte, durfte niemals seine Wut, dem Angesicht auch trotzend, selbst ergreifen. Er durfte seinen Zorn und seine Wut nicht wirklich zeigen. Und jetzt erst musste er sich nicht mehr dafür schämen. Er musste sich jetzt nicht mehr gegen sich entscheiden.

Der tote Junge dort, war meine Rettung, auch ohne dass ich das begreifen konnte. Er zeigte mir, vollkommen unverblümt, was niemand sehen und auch hören wollte, den Schrei, die Wut des ungeliebten Kindes.