Texte von Hugo Rupp

Die Vorhaltungen

Für Andrea Z.

Das Schimpfen, immer wieder schimpfen, wie meine Mutter ununterbrochen schimpfte, und Vater auch den ganzen Tag, wenn er zu Hause war. Nur immer wieder schimpfen. Endlich verstehe ich, was da dahinter steckt; nur blinde Wut und Hass.

Ich sag doch nur.

Ich sag schon nichts mehr.

Für meinen Vater war außer Geld verdienen alles Scheißdreck. Und wer sein Geld nicht ordentlich verdiente, war für ihn einen Scheißdreck wert. Wer nicht im Schweiße seines Angesichts etwas verdient hatte, war gar nichts wert. Und Kunst war nichts. Gar nichts, in seinen Augen. Und Mutter wusste das, deswegen lächelt sie, wenn ich mich anstrenge beim Rechnen und beim Zeichnen. Deswegen mochte Vater nichts, was ich geschrieben hatte oder malte. Er hasste das, wenn etwas scheinbar ohne körperliche Anstrengung geschah. Wenn jemand Kunst machte, dann hasste er das.

Für meinen Vater war das alles nur ein Scheißdreck. Und einen Scheißdreck wert.

Ich machte später auch im Grunde alles wertlos.

Hass sagt ja andauernd, ich bin doch wer. Ich bin doch auch jemand. Ich will doch auch was wert sein.

Die einzige Ersatzwährung, für den Verlust von Empathie. Mit Hass lässt sich ertragen, was für ein Kind vollkommen unerträglich ist, allein in Einsamkeit zu leben und ohne einen Sinn.

Wenn niemand mehr da ist, dann hasse ich mich selbst.

Mein Vater schrie ja seine Schmerzen an. Er schrie ja seine Schreie an. Er schrie ja nicht um sich. Er schrie, um seine Schmerzen nicht mehr ertragen zu müssen.

Ich schrie ja auch nicht mehr um mich.

Ich schrie ja um nichts mehr zu hören. Ich schrie ja nicht um mich. Ich wollte meine Schmerzen nicht mehr hören. Ich wollte nichts mehr hören. Ich schrie ja, dass ich nichts mehr hörte. Ich schrie ja nur an sich. Ich schrie ja nur mehr lautlos. Vor lauter unterdrücktem Zorn. Der schrie in mir lautlos. Ich schrie ja nicht an mich. Ich schrie ja um die Schmerzen auszulöschen. Ich schrie ja gegen mich. Ich schrie, um alle Schmerzen auszulöschen. Um jeden Schrei im Schreien schon zu löschen. Ich schrie ja nur mehr gegen mich. In mir und gegen jeden. Ich schrie um meine Schreie nicht zu hören, die ich vergeblich in der Einsamkeit verschrien hatte. Verschreien hatte ich mir beigebracht. Ich konnte meine Schreie nicht mehr hören. Und ich ertrug dann später keine mehr. Mein Schimpfen war zum Schrei vertreiben. Mein Hass auf alles Schreien. Damit ertrug ich meine Schreie, damit verstummte ich mein Leid.

Ein Linker wird kein guter Schreiner.

Wie ich die linke Seite dann aufgab und keinen Wert mehr dafür fand. Wie ich mit rechts dann weitermachte, verfuhr, und mich selbst dafür dann auch hasste. Dass ich mich immer nur verbog, für meine Eltern, ihre Lehren. Wie ich den Hass damit einsog. Wie sich der Hass in mir breitmachte. Ich war bereit für Hass, wann immer jemand an mich appellierte. Ich war bereit. Ich hatte mich bereit gemacht, ohne zu wissen, was ich machte.

Ich hasste die so sehr, die mich als Kind so drangsaliert hatten, mit ihren Worten, Taten, und ihren Vorhaltungen. Wie sie mich einfach ignorierten. Deswegen hasste ich die Ignoranz so sehr. Weil sie das doch gemacht hatten. Ich dachte immer nur, ja so. Die sehen das gar nicht. Die hören das gar nicht. Dabei verstummten sie nicht automatisch. Sie hatten das gekonnt, die Ignoranz so darzustellen, als würden sie nicht wissen, um was es geht, Gleichgültigkeit als Zufall und zufälliges Verhalten darzustellen. Dabei schaut Vater mich so an, als wüsste er genau, was er jetzt tut. Er tut mir weh. Ganz offensichtlich.

Endlich verstehe ich, was mich als Kind so fertig machte, wenn Vater mir etwas verbot, wenn er mir etwas nahm, wenn Mutter mir die Freude nahm, sie schauten dabei so, als wären sie erfolgreich. Als wäre wirklich nur der Hass für sie ein Grund zum Feiern.

Ich feierte mich selbst mit der Verachtung. Ich zelebrierte Hass. Ich hatte endlich einen Grund zum Feiern. Wenn ich das sah, wie die Verachtung funktionierte. Wenn jemand wütend wurde oder traurig, nachdem ich ihm was an den Kopf geworfen hatte. Dann ging die Sonne in mir auf.

Warum ist dein Himmel grau? Nicht blau?! Und deine Bäume haben keine Blätter. Warum ist dieses Feld nur braun?!

Ich war im Geiste immer wieder aufgebracht. Doch hassen konnte ich sie nicht. Das hielt ich mir im Geiste immer wieder vor. Ich kann die Eltern doch nicht hassen. Ich warf mir mein Verhalten vor. Und die Vermeidung.

Was bildest du dir ein!?

Ich warf mir beides vor. Dass ich sie hasste. Dass ich sie hassen wollte. Und dass ich das nicht konnte.

Was bildest du dir ein!?

Nur immer wieder Vorhaltungen.

Sie hatten ihren Hass auf mich, ein kleines Kind.

Was bildest du dir ein!?

Endlich begreife ich, ein Kind wird ohne Hass geboren. Es gibt gar keinen Todestrieb. Es gibt kindlichen Hass gar nicht. Ein Kind ist niemals destruktiv. Es kann das gar nicht sein. Ein Kind kann doch nur spielend lernen.

Hast du schon wieder was kaputt gemacht!

Sie hatten sich ja selbst mit ihrem Hass gewürdigt. Ich war gar nicht gemeint. Was meine Eltern mir vorhielten, das waren sie nur immer selber.

Deswegen hat mich das verrückt gemacht. Ich musste was beweisen, was ich gar nicht beweisen kann.

Jetzt sind wir wieder gut!

Ich sollte sie nur ja nicht hassen.

Deswegen hielt ich meinen Griffel schön mit rechts und murrte nicht. Deswegen hielt ich meinen Mund, wenn Vater mich verprügelte. Deswegen war ich still, als er mir keine Schultüte kaufte. Und als er mich zusammenschlug, da war ich seelenruhig. Ich musste ja beweisen, dass sie nicht böse sind. Deswegen hielt ich still. Ich blieb ganz einfach stumm, wenn Mutter fortging und verschwand. Wenn sie mich liegen ließ, mit den Gedanken an den Schwarzen Mann. Ich sagte irgendwann nichts mehr. Damit die Angst mich nicht auffressen kann. Ich sagte nichts. Ich musste ja beweisen, dass sie nicht böse sind; das heißt, ich war nicht wütend, wenn sie mich aus dem Fenster hielt. Ich darf nicht böse sein, sonst lässt sie mich ganz einfach los und fallen. Ich kann nicht einmal böse sein, wenn Vater mich beschimpft und mich zusammenstaucht, dass ich vor aller Augen nur mehr Dreck wert bin; am Boden kauere; ich weine bitterlich. Ich musste ja beweisen, dass sie nicht böse sind, sondern nur immer ich.

Ich bin sein Wurm. Ich bin doch nur ein Wurm und so benehme ich mich, weil ich nicht böse bin. Weil ich versuchte immer zu beweisen, dass ich nicht böse bin.

Ich aß brav alles auf. Ich lernte ohne Ende. Ich tat der Mutter schön und ich verehrte meinen Vater. Ich leistete gar keinen Widerstand. Ich machte mir und allen anderen was vor, mir sei alles egal, vollkommen gleichgültig. Mir wäre alles wurscht, mein Leben und das eines jeden anderen. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass ich das alles brauchte, weil ich nicht böse sein wollte. Ich wollte nie mehr böse sein. Ich hielt mir das ja immer wieder vor, du darfst nicht böse sein, führ dich nicht auf, du musst schließlich beweisen, denk endlich nach, du darfst nicht böse sein, wenn du was machst, wenn du was sagst. Um keinen Preis der Welt, darfst du jetzt böse sein. Du darfst nicht böse werden. Merk dir das endlich.

Ich spiegelte mich damit nur im Hass, im Hass der Mutter und des Vaters.

Deswegen konnte ich nicht ohne Hass auf mich schauen. Deswegen konnte ich nicht auf mich achten. Ich war ja niemals ohne Hass.

Ich kam mit Hass nicht mehr zu mir.

Ich schämte mich ja immer wieder sehr. Wie kann ich nur die Mutter und den Vater hassen. Wie kann ich nur. Was kann ich nur dafür. Ich muss ja schlecht sein und wertlos. Ich schämte mich so sehr. Dabei war das ja gar kein Hass.

Was bildest du dir ein.

Da war nur Wut. Ich machte meine Eltern niemals kleiner. Sie machten sich vor mir so klein und taten so unglücklich.

Nur Hass macht mich gemein mit meinen Eltern und ihresgleichen. Nur Hass macht mich gemein. Mit meinen Vorhaltungen, die ich mir selbst und jedem anderen gegenüber mache.

Jetzt bist du schon wieder in den Dreck getreten! Jetzt hast du dich schon wieder schmutzig gemacht.

Ich hielt mir irgendwann selbst meinen Atem vor und schimpfte mich dafür. Ich dachte, dass mein Atem schlecht würde, wenn ich zu schnell, ausdauernd atmete.

Du stinkst ja schon aus deinen Ohren, sagt meine Mutter. Und Vater sagt, du stinkst aus deinem Maul, wie nur ein Bettler aus dem Hosensack. Oder ein Zigeuner.

So hasste ich die Eltern, indem ich mir wehtat und ruhig blieb.

Es wäre ihre Schuldigkeit gewesen, mich Kind zu lieben und nicht zu hassen.

Endlich verstehe ich, was ich als kleines Kind gespürt hatte, wie man den Hass mit Vorhaltungen vor sich schützt, verbirgt, und sich damit scheinbar unschuldig macht.

Wie Hass begann.

Der Anfang eines jeden Hasses. Ich halte mir und jemand anderem was vor, was ich selbst nicht ertragen kann.

Du hast gesagt!

Du hast mir doch versprochen!

Das habe ich niemals gesagt.

Das bildest du dir doch nur ein.

Hass geht mit Vorhaltungen los; nicht widersprochen immer weiter.

Du hast es mir versprochen!

Ich habe doch gesagt, freu dich nicht zu früh.

Endlich hör ich Gebete, die Worte, mit denen ich mich über Wasser hielt. Sie waren alle an die Mutter einst gerichtet. Sie war mein alpha und mein omega. Und sie hat mich belogen.

Du darfst nicht alles wörtlich nehmen.

Ich scheiß auf deinen Mund.

Ich scheiß auf deine Krone.

Ich scheiß auf deine Zunge und den Mund.

Ich scheiß auf deine Zähne.

Ich scheiß auf deinen Mund.

Du wirst noch an mich denken. Das wird dir nochmal leid tun.

Ich hatte Angst vor meinen Schmerzen. Ich hatte Angst vor der Erinnerung daran. Ich hatte Angst vor der Erlösung. Deswegen hielt ich sie mir vor. Deswegen träumte ich lautlose Schreie. Ich wollte mich von meinen Schreien selbst befreien. Ich löste mich von meiner Wut und dachte, das wäre die Erlösung.

Lassen sie ihn ruhig weinen.

Das schadet nicht.

Da kann er sehen, wo er bleibt.

Allein sein, hat noch niemandem geschadet.

Ich musste was Besonderes sein, sonst hätte ich nicht überlebt. Die Einsamkeit, sie musste auch etwas Besonderes bedeuten, sonst hätte ich sie nicht überlebt.

Siehst du, jetzt geht es dir schon besser.

Ich hatte mich besiegt. Jetzt lässt sie mich nicht länger liegen.

Schau, wenn du mehr für deinen Vater übrig hättest, dann würde er auch anders sein.

Sie wirft mir Liebesmangel vor, dass ich zu wenig Mitgefühl ihm gegenüber hätte. Sie warf mir immerzu was vor, damit ich nicht mehr wütend wurde. Damit ich endlich aufhörte, mich zu erinnern. Damit ich nicht mehr wie ein Kind vor ihr und Vater reagierte.

Du bist doch schon so groß.

Da muss man doch nicht länger weinen.

Ich strengte mich so an, um Mutter zu gefallen. Ich strengte mich unendlich an, damit ich nicht alleine bliebe. Ich strengte mich dermaßen an, dass sie mir nicht schon wieder was vorhalten würde. Ich strengte mich so an, damit ich Ruhe vor ihr und ihren Vorhaltungen hatte. Ich strengte mich so an.

Sie hat mir meine Schmerzen vorgehalten, weil sie nicht wusste, was sie damit machen sollte.

Ich weinte nur mehr mit dem rechten Auge. Das linke ließ ich außer Kraft. Das war ja schließlich meine falsche Seite. Ich war so einsam und fühlte mich dermaßen schuldig, dass ich mit einem Auge lächelte, während ich mit dem andern weinte. Ich lachte meine Einsamkeit schließlich von ganz alleine aus.

Was denkst denn Du schon wieder?!

Es ist nicht meine Schuld gewesen, dass ich bei meiner Mutter keine Liebe fand.

Endlich verstehe ich die Logik. Es ging gar nicht um mich. Es ging um mein Verhalten, Verlangen nach der Liebe. Sie wollte alles an mir besser machen, was ich hatte, was ich gab und was ich war. Deswegen dachte ich, ich sei selbst schlecht. Ich sei nur schlecht, in allem, was ich machte und was ich war. Sie wollte alles besser machen und machte alles schlecht.

Genau das macht man ohne Liebe.

Ich musste immer alles besser machen, sagt mir die Wut. Ich musste schon vom ersten Atemzug an alles besser machen und machte damit alles damit vorherige nur schlecht. Ich lernte von mir selbst, durch ihre und dann meine eigenen Vorhaltungen, ich machte alles schlecht, ich würde alles immer nur schlecht machen, weil meine Mutter einfach nicht aufhörte mit ihren Vorhaltungen.

Deswegen hatte ich so eine Wut, wenn mir nicht gleich etwas gelang. Ich musste einfach alles besser machen, auch wenn das gar nichts brachte; nur noch mehr Schmerz, Enttäuschung und Verzweiflung, und traurig sein und noch mehr Wut. Ich konnte mit dem wütend sein nicht aufhören, weil ich die Wut auch noch verbessern wollte. Die Vorhaltungen hörten nicht mehr auf, solange ich mir nicht erlauben konnte, mich endlich nicht zu bessern.

Der Schmerz in meiner rechten Seite, das ist der irre Wunsch nach unaufhörlicher Verbesserung; dass meine rechte Seite so gut wird, wie meine sogenannte schlechte Linke.

Ein Linker kann kein guter Schreiner sein.

Es darf nicht sein, dass jemand sich selbst widerspricht. Dem falsch Gelernten widerspricht. Es soll nicht sein, dass ich mir selbst mich vorhalte, wenn ich dem widerspreche, was ich selbst unter Schmerzen lernen musste. Es darf nicht sein, dass ich mir nicht vorhalte, wenn ich auf meine Mutter wütend bin.

Ich kann auf Mutter gar nicht wütend sein, wenn ich sie mir nicht wütend wieder vorhalte.

Du solltest dein Verhalten ändern.

Du sollst nicht nach mir schreien!

Du sollst nicht nach ihr suchen!

Du sollst nicht nach Liebe suchen. Musste ich mir an jedem Tag vorhalten und vorhalten lassen. Du sollst nicht lieben. Musste ich mir vorhalten.

Merk dir das doch endlich!

Du sollst nicht mehr Liebe suchen.

Lass dir was einfallen.

Und lass dir das gefallen.

Lass dir gefallen und vorhalten. Du musst nicht nach Liebe suchen.

Du musst nicht nach Liebe suchen.

Musste ich für die Eltern lernen.

Nicht nach Liebe suchen.

Das war die Vorhaltung.

Ich soll nicht nach Liebe suchen, halte ich mir vor. Was Mutter mir vormacht. Sie sucht nicht nach meiner Liebe. Sie sucht nicht danach. Sie sucht nie bei mir nach Liebe. Diese Vorhaltung: Du suchst nicht nach Liebe. Musste ich mir vorhalten. Wurde mir so vorgehalten. Du sollst nicht nach Liebe suchen, unter keinen Umständen.

Ich sollte nicht nach meiner Liebe suchen.

Es ist ein Irrwitz sich vorzustellen, daß die Wahrheit in der Wahl liegt, da jede Stellungnahme einer Verachtung der Wahrheit gleichkommt.

E.M. Cioran Über das reaktionäre Denken

Ich hatte meine Wut als kleines Kind gar nicht gewählt. Ich war damit kein böses Kind gewesen. Die Wut hat mich gewählt und mich berührt, damit ich mich nicht aufgebe. Und das, was mich einst so gequält hatte, was meine Mutter mir andauernd vorgemacht und vorgehalten hatte, schreiend: Dir fehlt doch nichts! Du hast doch nichts! Du hast doch keinen Grund, dich hier so aufzuführen.

Die mütterliche Stimme, mit der ich später mir und jedem anderen vorhielt: Das wirst du noch bereuen.

Sie hatte mir das beigebracht, mein Leiden zu verachten. Endlich begreife ich, dass ich mir das nicht einbilde.

Das hat doch nichts mit mir zu tun!

Dass ich mir was ununterbrochen selbst vorhalte, was meine Mutter mir vom ersten Tag an vorgehalten hat.

Du solltest dich was schämen!

Als würden wir uns gegenseitig anschreien und das dann vorhalten: Ja hörst du mir nicht zu! Hörst du denn selber nicht, wie laut du schreist?! Hörst du denn deine eignen Schreie nicht?! Kannst du denn nicht dein eigenes Geschrei hören?Kannst du nicht endlich damit aufhören?!

Ich mochte sie nicht mehr. Ich mochte meine Schreie nicht mehr hören. Ich konnte schließlich meine eigene Wut nicht mehr ertragen, da alles Schreien, Weinen, Toben, mir scheinbar gar nicht half.

Sie mochte meine Liebe nicht.

Das solltest du dir abgewöhnen!

Das ist doch gar nicht wahr!

Wie ich auf meine Mutter immer wieder so hereinfiel. Sie spielte mir ihr Mitleid vor, wie eine gute Schauspielerin. Ich fiel darauf herein. Wie ich dann später immer wieder Mitgefühl für die Personen in den Filmen hatte und entwickelte, die doch nur grob, abweisend und verachtend waren.

An meinen Schreien aber, erkannte ich erst ihre Lügen. Erst mit der Wut wurde mir klar, was wahr ist und was sich nur so anhörte.

So tun, als würde ich nichts merken, das tat ich immerzu für sie. Als würde ich nicht merken, wie mir geschah.

Ich hab so lang geschrien, bis ich vor meiner eigenen Heiserkeit erschrocken bin.

Versteh das doch.

Ich kann doch auch nicht immer, wie ich gerne möchte.

Ich kann doch auch nicht alles haben.

Was schaust du mich so an?!

Du tust ja so, als wärst du ganz alleine auf der Welt. Was regst du dich so auf?!

So kam ich drauf, dass ich mir meine Wut vorhielt, wann immer ich an meine Mutter dachte. Ich dachte an die Wut. Und so versuchte ich dann abzuwägen, abzuwarten.

Das halte ich mir vor, seitdem mich Mutter angelächelt hat, als würden wir uns gut verstehen.

Was wirfst du uns denn vor!?

Was regst du dich denn immer wieder nur so auf!?

Ich sollte nicht auf die Idee kommen, von ihr ganz einfach wegzugehen. Sie wollte mich behalten und festhalten. Mit ausgesprochenen und mit nicht ausgesprochenen Vorhaltungen. Ich sollte nicht wegkommen. Solange ich auf ihre Vorhaltungen reagierte, mit blinder Wut, war alles wieder für sie gut; solange ich ihr was vorhielt, war ich ja niemals richtig wütend. Ich konnte bei ihr immer nur so tun, als wäre ich ein anderer. Was ihre Vorhaltungen mit mir machten.

Damit verleugnete ich meine Schmerzen, wie meine Mutter immer schon vor mir. Verleugnungen sind Vorhaltungen und umgekehrt.

Wie ich den eignen Schmerz verachte, so wurde er verachtet. Wie ich den eignen Schmerz verachten lernte. Mit Vorhaltungen lernte ich, mich und mein Kinderleid zu leugnen.

Und hat es dir geschadet?!

Ihr wart nicht gut für mich.

Jetzt spreche ich von mir. Nicht meine Leiden machten mich so böse, sondern die Vorhaltungen darüber. Und meine eigenen Vorhaltungen dann später, mit denen ich mein Leid verleugnen lernte. Verleugnung meiner Schmerzen, hatte mich böse gemacht. Nur die Verleugnung meiner Schmerzen und der Wut.

Ich nahm mich selbst nicht länger für wahr.

Ich nahm mich selbst als böse wahr, doch immer nur ausnahmsweise. So machte ich das Böse immer wieder gut. Als würde ich nicht wirklich böse sein können.

Du bringst mich noch zur Weißglut mit deiner Schreierei.

Merkst du das nicht!?

Kannst du nicht endlich damit aufhören!?

Das dachte ich dann schließlich auch.

Dabei versteckte ich mein böses Blut hinter den Strömungen der Vorhaltungen, Flüche und Verwünschungen. Damit verleugnete ich mich. Damit verleugnete ich alles Böse; und das der Mutter und des Vaters doch erst recht.

Die Mutter geht im See unter. Gleichgültigkeit drückt ihr Gesicht im Angesicht des Todes aus. Verachtung, nur Verleugnung aller Schmerzen, und blinde, stille Wut. Dieses Gesicht hat mich zu Tode erschreckt. Sie legt mich ab und übergibt mich der Lautlosigkeit, Vergessenheit und lächelt dabei milde. Die völlige Verachtung, das war ihr mildes Lächeln über meine Schmerzen. Die Vorhaltung, die mich als kleines Kind verrückt gemacht hatte. Die Übereinkunft, die sie lautlos mit mir traf. Solange du was sagst, werd ich mich nicht mehr um dich kümmern.

Nicht deine Schmerzen machen dich gesund, sondern dein Schweigen und Verleugnen. Wenn du so weiter schreist, dann wirst du keine Luft mehr kriegen.

Sie brachte mir Verleugnung bei.

Meine verrückte Mutter, die mir mein Schreien und mein still sein, Schweigen, vorgeworfen und vorgehalten hatte.

Was ist denn jetzt schon wieder los?!

Warum bist du nicht endlich still?!

Du sagst ja gar nichts mehr!

Har es dir deine Sprache jetzt verschlagen?!

Ich musste mich verleugnen. Ich musste für sie spielen. So sein, gerade wie es ihr gefiel.

Endlich verstehe ich den Sinn. Sie wusste gar nicht, was ich wollte, sie wusste das ja selbst nicht mehr von sich. Sie wusste selbst nicht, was sie wollte. Endlich verstehe ich den Irrsinn. Wenn man so tut, als wüsste man tatsächlich alles besser. Deswegen alle Vorhaltungen. Sie wusste gar nicht, was sie wollte. Sie wusste gar nicht, was ich nötig hatte. Sie wusste nicht, was sich ein kleines Kind wünscht und was es braucht. Sie kannte ihre Schmerzen aus der eignen Kindheit nicht mehr. Das macht ja die Verleugnung. Deswegen hielt sie mir ja immer wieder alles vor. Da war ja immer nur Verleugnung, Verachtung aller Schmerzen, mit all den Vorhaltungen. Sie wusste nicht mehr, was sie als Kind wie nichts gehasst, gefürchtet und verschrien hatte. Die gleichgültige Mutter. Die einem Kind im Grunde alles Gute nur verbietet und verweigert und alles Schlechte nur vorhält und nicht begreift, dass sie was Falsches macht und Falsches lehrt.

Warum wirst du denn gleich wieder so böse?!

Es war Gleichgültigkeit, Verleugnung meiner Schmerzen, was mich so böse machte.

Denn jede Stimme, die sich nicht gleichzeitig vor dir bereit erklärte, auch wieder still zu sein, notfalls sofort zu schweigen, war dir verhasst und streng verboten.

Wenn ich nicht gleich verschwinde, wie du willst, wirst du so böse. Mit deinen Worten ausgedrückt: Wenn du nicht gleich still bist, bring ich dich um.

Mit dieser Vorhaltung ging ich mein Leben lang hausieren und merkte es selbst nicht.

Dir sollte man mal ordentlich den Kopf waschen!

Das war für mich, als müsste ich mir selbst die eigne Stirn bieten. Entweder bist du still, oder du kannst etwas erleben. Ich hielt die Einsamkeit nicht länger aus. Deswegen hielt ich meinen Mund und ich zerbrach mir mein Gehirn; und ich zerkratzte mir die eigene Stirn.

Ich habe mir mein Leben lang den Kopf zerbrochen, wann meine Mutter kommt. Weil ich so schreien würde. Deswegen gäbe es für mich auch keine Rettung.

Reiß dich zusammen, sei ein Mann, und hör endlich zu klagen auf.

Es gab für mich nur Vorhaltungen, mit denen ich mir selbst begegnete. Ich konnte mir nur immer wieder selbst damit begegnen und ausweichen. Das war im Grunde meine Endlosschleife. Das war mein unentwegtes Denken. Ich dachte vorher nach, was jetzt wohl wieder kommen würde. Nur gab es von der Angst nicht einmal eine Atempause. Ich dachte nach, was mich und meine Wut befreien könnte.

Mir keine Vorhaltungen mehr zu machen. Die meine Mutter mir den ganzen Tag, von Anfang an, gemacht hatte. Sie hat mich dressiert. Dass ich mir selbst nicht mal den Zorn auf sie zu zeigen wagte.

Doch endlich ist er da. Mein Zorn. Der steckte fest, in meinem rechten Bein, in meiner ganzen rechten Seite und auf der Stirn. Mein tiefer Zorn auf meine destruktive Mutter und ihre Vorhaltungen.

Mein Traum vom See, vor 35 Jahren, das erste Mal geträumt. Endlich verstehe ich. Ich kann mich nicht von meiner destruktiven Mutter lösen. Was mir mein Traum noch vorgehalten hat, ich kann mich nicht von meinen Schuldgefühlen lösen. Das geht nur mit dem Zorn auf sie.

Nur so kann ich die eigene Destruktivität von der der Mutter unterscheiden. Nur mit dem Zorn auf sie, lern ich, wie Selbsthass in mir brennt. Nur so begreife ich, womit mich meine Mutter schon so früh tatsächlich angesteckt hatte, mit ihrer Destruktivität, indem sie mir vorhielt, was sie doch selbst verleugnet hatte.

Jetzt hast du mir zum Fleiß schon wieder was kaputt gemacht.

Wie ich mich mit den Leuten angelegt habe und mich gestritten habe wegen Nichtigkeiten, wie ich mich aufgeregt habe. Mein Leben war von meinem unterdrückten Zorn bestimmt und ich hab das gar nicht gemerkt, dass dieser unterdrückte Zorn für meine Mutter ist. Für ihre unschuldige Miene, wenn sie mich aus dem Fenster hält, mit ihrem stillen, leisen Lächeln. Ich wusste nicht, woher das kam, dass ich es mir mit allen immer nur verscherzte, warum ich mich so plagte und mich mit jedem überwarf. Dabei hab ich mich nie beschützt gefühlt.

Sie ist jetzt ein paar Jahre tot. Das wichtigste für mich, dass ich das weiß, dass ich das bin, der so dermaßen zornig auf sie ist und war.

Was ich endlich verstehen kann: Mein Zorn war immer da. Er war ja da. Er ist ja nie von ungefähr gekommen. Dabei hab ich mir immer nur gedacht, er kommt von ungefähr, er ist nur ungefähr. Er war ja da in meinem Bein, mir ins Gesicht geschrieben, in meiner rechten Seite und auf meiner Stirn. Jetzt endlich kommt er raus. Jetzt endlich darf mein Zorn auf meine Mutter rauskommen. Wie alles doch begann. Wie alles doch noch neu beginnen kann für mich, ohne den unterdrückten Zorn.

Ich muss mir meine Wut nicht mehr vorhalten. Ich habe sie mir ununterbrochen vorgehalten, wie Mutter mir das vorgemacht hatte. So konnte ich mit meinem Zorn niemals bei meiner Mutter landen. Ich hielt ihn anderen ununterbrochen vor. Mein Zorn war immer da, doch wusste ich niemals für wen, für wen die Fäuste in den Hosentaschen waren und all die Destruktivität und die Gewaltphantasien.

Der Körper ist der Hüter unserer Wahrheit, weil er die Erfahrung unseres ganzen Lebens in sich trägt und dafür sorgt, dass wir mit der Wahrheit unseres Organismus leben können. Er zwingt uns mit Hilfe der Symptome, diese Wahrheit auch in unserem Bewußtsein zuzulassen, damit wir in Harmonie mit dem in uns

lebendigen, einst mißachteten und gedemütigten Kind kommunizieren können.

Alice Miller

Diese Genauigkeit, Akkuratesse, mit der sie mich an jedem Tag behandelt hat. Wie sie exakt und sorgfältig, als gäbe es für jeden Ton und jedes Wort tatsächlich eine Vorschrift, mich immer gleich behandelt hat, wenn meine Nase lief, zum Beispiel, und ich ein wenig hustete, dann hat sie mich gleich angeschnauzt und voller Zorn und Hass ihr Maul verzogen. Wie nichts sie davon abgehalten hat, weder mein Weinen, noch mein Lächeln, wenn meine Nase lief, auch nicht mein Kopfschütteln, wenn ich verzweifelt doch versuchte, sie irgendwie noch umzustimmen, aufzuheitern, sie mich dann ablegte, mir lächelnd, Gute Nacht, sagte, und wenn du nicht gleich schläfst, dann kommt der Schwarze Mann.

Endlich spür ich den Zorn auf diese gnadenlose Dressiererin.

Selbsthass und Destruktivität. Nur Zorn kann so ein Kind wie mich, von seinem Selbsthass und den Vorhaltungen, der eignen Destruktivität befreien.