Texte von Hugo Rupp

Die Vereitelung

 

Ich suchte mich. Mit hohem Fieber fing ich mich. Verzweifelt suchte ich in Schränken nach mir. Ich suchte hinter Vorhängen. Ich suchte mich, indem ich mich versteckte. Ich setzte mich zu mir in einen Schrank und war nicht da. Ich konnte mich nicht fassen.

Ich krieg dich schon. Ich krieg dich schon. Du wirst uns nicht entwischen, sagten sie.

Ich ahmte später meine Eltern nach. Die Abwehrhaltung meiner Eltern, wenn sie sich angegriffen fühlten, dann griffen sie mich an.

Du musst nur deinem Vater folgen.

Du musst dem Vater folgen, egal was er auch tut.

Du hörst jetzt, hörst du mich. Ich werde dir das jetzt beibringen. Hörst du!? Hörst du mir endlich zu. Du hörst auf deine Mutter!

Hörst du mir zu, was ich dir sage! Du rennst nicht einfach weg. Hörst du. Wenn ich dir sage, halt, dann bleibst du auch gefälligst stehen! Wenn ich halt sage, dann hörst du auf zu rennen. Du hörst auf das, was ich dir sage. Schau mich gefälligst an.

Ich blendete die Wahrheit aus. Als würde ich in kaltem Wasser stehen, und aus dem Wasser einfach nicht rauskommen. Es muss doch etwas geben, das mich retten kann, das mich wegbringt von meiner Angst und meinen Eltern. Es muss doch etwas geben, denkt so ein Kind. Es muss doch etwas geben, das Angst besiegt.

Ich folgte jedem Wort. Ich hämmerte und schlug mit meinen Lippen. Ich hämmerte mit Worten auf mich ein, als würde ich ein Amboss sein. Ich wurde blindwütig und furchterregend, laut, anklagend, beschämend und verletzend. Ich suchte nach Bedrohungsmöglichkeiten. Nach Möglichkeiten jemand anzugreifen.

Ich blendete mich aus. Ich folgte meinen Eltern und blendete die Wirklichkeit vollkommen aus. Ich blendete die Wirklichkeit, wie Vater für mich war und meine Mutter, vollkommen aus. Indem ich ihnen folgte, indem ich das tat, was sie von mir hören wollten, indem ich das auch sagte, was ich von ihnen hörte, indem ich das dann immer wiedergab, verteidigte ich meine Eltern. Wie schrecklich ist das doch, die Täter zu verteidigen, mit ihren Mitteln. Ich redete mit ihren Zungen.

Ich folgte der Geschichte meiner Eltern. Ich folgte ihrem Wort. Das war mein Schatz. Mich auszublenden, mein Zittern zu besiegen; wie ich geschüttelt war, in mir, wie ich voll Angst den Kopf in seine Richtung nicht mehr zu drehen wagte, als er mich schlug, geschlagen hatte. Ich kehrte immer wieder um. Ich wagte nicht den Kopf zu heben. Ich kehrte immer wieder mit den Augen um. Ich kehrte immer wieder an den Berg zurück, wo er mich erstmals ins Gesicht geschlagen hatte.

Folgsam mein Kinderleiden so ertragen, als wäre es das beste von der Welt, nicht änderbar, nicht zu verhindern. Dann ist für meine Eltern alles bestens.

Nicht mehr nach andern Möglichkeiten suchen, nicht eifersüchtig sein. Nicht einmal andere beneiden. Nicht später noch die Schwester dann beneiden, dass sie nicht so behandelt wird wie ich.

Was andere tun, das interessiert uns nicht, sagt er und sie.

Ich wagte nicht einmal mehr mich zu freuen.

Damit die Taten der Eltern nicht aufgedeckt werden, darf der Patient nicht herausfinden, wie es zu seinen selbstzerstörerischen Verhaltensmustern gekommen ist, warum er zum Beispiel süchtig ist, Unfälle verursacht oder sich überflüssigen medizinischen Operationen unterziehen muss. Doch ohne die Konfrontation mit der Kindheit wird er diese Muster nie auflösen können.

Abbruch der Schweigemauer, Alice Miller.

Dann verließen alle drei gemeinschaftlich die Wohnung, was sie schon seit Monaten nicht getan hatten, und fuhren mit der Elektrischen ins Freie vor die Stadt. Der Wagen, in dem sie allein saßen, war ganz von warmer Sonne durchschienen. Sie besprachen, bequem auf ihren Sitzen zurückgelehnt, die Aussichten für die Zukunft, und es fand sich, daß diese bei näherer Betrachtung durchaus nicht schlecht waren, denn aller drei Anstellungen waren, worüber sie einander eigentlich noch gar nicht ausgefragt hatten, überaus günstig und besonders für später vielversprechend. Die größte augenblickliche Besserung der Lage mußte sich natürlich leicht durch einen Wohnungswechsel ergeben; sie wollten nun eine kleinere und billigere, aber besser gelegene und überhaupt praktischere Wohnung nehmen, als es die jetzige, noch von Gregor ausgesuchte war. Während sie sich so unterhielten, fiel es Herrn und Frau Samsa im Anblick ihrer immer lebhafter werdenden Tochter fast gleichzeitig ein, wie sie in der letzten Zeit trotz aller Plage, die ihre Wangen bleich gemacht hatte, zu einem schönen und üppigen Mädchen aufgeblüht war. Stiller werdend und fast unbewußt durch Blicke sich verständigend, dachten sie daran, daß es nun Zeit sein werde, auch einen braven Mann für sie zu suchen. Und es war ihnen wie eine Bestätigung ihrer neuen Träume und guten Absichten, als am Ziele ihrer Fahrt die Tochter als erste sich erhob und ihren jungen Körper dehnte.

Die Verwandlung, Franz Kafka

Imitation ist Nachahmung der Realität. Gewalt ist immer Nachahmung. Sie hatten mein Bedürfnis nach Liebe und nach Trost stets angegriffen. Und wer den Trost, das Trostbedürfnis eines Kindes angreift, greift direkt seine Fähigkeit zur Liebe an.

Die Nachahmung der elterlichen Wut. Ich „tröstete“ mich später dann mit Wut. War wütend gegen Mitleid, Mitgefühl und gegen Traurigkeit in mir und jedem anderen. Und dennoch darauf eifersüchtig. Wie ich als Kind den Trost von meinen Eltern nötig hatte, da wurden meine Eltern wütend. Ich wurde später wütend, wenn mich wer lieben wollte, und neidisch. Ich konnte mich doch nicht mehr freuen.

Wenn man die Wut für sich nicht finden kann, muss man die Wut der Eltern nachmachen. Die Wut bleibt eine Nachahmung. Wer seine Wut, die seines kleinen Kindes kennt, muss nicht mehr blindwütig wie seine Eltern sein. Wer seine Wut, die eines kleinen Kindes auf seine Eltern kennt, ist nicht mehr länger Nachahmungstäter. Der hört auch damit auf, die Wut im Kind gleich auf der Stelle zu erschlagen, wenn sie zum Vorschein kommt, auf die Verletzung und Verwundung hin.

Ein Kind erstickt an seiner für die Eltern unerlaubten und ungeheuerlichen, unglaublichen und unerhörten Wut. Ein Kind erstickt nicht an seiner Not, auch nicht an seinem Schmerz. Es stirbt, weil es von seiner nie gefühlten Wut erdrückt, erstickt, und förmlich zu zerplatzen droht. Es wird erdrückt von seiner nie gefühlten Wut.

Ich wusste früher nie, dass meine nicht gefühlte Wut, sich gegen mich auch richten kann. Dass etwas, von dem ich gar nicht wusste, dass es in mir war, mich zwingen könnte mich zu töten.

Ich hatte vor Jahrzehnten eine Phantasie. Ich wollte in die Werkstatt meines Vaters gehen. Dort würde ich mich in die große Furnierpresse legen. Mit der linken Hand wollte ich den Hebel umlegen, der das Zusammenfahren der Presse auslöste. Meine linke Hand wollte ich draußen behalten. Die Hand, die mein Vater verachtet hat. Für ihn konnte ein Linkshänder kein guter Schreiner werden.

In der Schule musste ich dann von links auf rechts umlernen. Die Lehrerin war eine Nonne.

Niemand verteidigte die Sprache meines Körpers. Niemand verteidigte mein Wohlergehen. Niemand verteidigte die Sprache meiner Seele, die eines Kindes. So also lernte ich mich zu vereiteln und jeden Widerstand auch aufzugeben gegen meine Eltern, Lehrer. Mich niederschlagen lernte ich. Die Niederschlagung meiner Wünsche und Bedürfnisse, blindwütig niederschlagen. Mit Niederschlagung des Gefühls, Vereitelung der wahren Äußerungen.

Wie soll ein Kind sich lieben lernen, wenn seine wahren Äußerungen nur immer wieder vereitelt und niedergeschlagen werden? So ein Kind wird böse. Je weniger ein solches Kind von seiner Niedergeschlagenheit und Vereitelung dann später weiß und selbst erfahren kann, desto böser wird es schließlich werden. Es lernte schließlich niedergeschlagen werden und dabei jede seiner natürlichen Äußerungen selbst vereiteln.