Texte von Hugo Rupp

Die Verachtung der Eltern

 

Er ist nicht so, sagt sie.

Er ist nie so, wie ich ihn vor mir sehe. Das ist er nicht. Das ist nie so, wie ich ihn sehe. Das darf nicht sein. Was ich auch immer sehe, er ist das nicht, nicht so, wie ich ihn erlebe. Das ist er nicht. Was er auch tut, das ist er nicht. Das ist nicht so gemeint. In Wirklichkeit ist er das nicht. Das ist nicht so gemeint. Nichts ist, was er auch tut, böse gemeint. Er meint nie etwas böse. Das predigt meine Mutter. Ich darf, was Vater tut, nicht immer nur ernst meinen. Er meint es auch nicht immer ernst, sagt sie. Er hat das nicht gewollt, hat nichts von dem gewollt, was mir so bös erscheint. Das ist nicht absichtlich gewesen. Er meint es niemals böse. Was er auch tut, mein Vater ist nie böse. Ich bin das böse Kind. Mein Vater ist nie böse.

Ich bin drei Jahre alt.

Das Schlimmste ist, allein zu sein. Dass Warten eine Hilfe sei.

Die Stimme meiner Mutter.

Sie redet ohne Unterlass und ich verstehe kein Wort. Die Stimme ist das einzige, was mich in meiner Einsamkeit besucht. Ich traue dieser Stimme alles zu. Sie ist mein ein und alles. Ohne die Stimme bin ich verlassen. Ich hänge fest an ihren Lippen. Das Schlimmste ist, wenn sie verstummt, wenn sie nicht weiter redete.

Ich hing an ihren Lippen. An jedem Wort, das ihren Mund verließ. Wenn sie weg ist, dann rede ich in mir mit ihren Worten einfach weiter. Ich rede weiter ohne Unterlass, damit die Leere mich nicht frisst. Niemand rührt mich mit seinen Händen an. Nur ihre Worte kommen näher und an mein Ohr und streicheln über mein Gesicht und mitten über meine Nase. Die Worte sind viel kleiner noch als Regen. Sind kleiner noch als meine Hände. Sie sind mein einziges, was in mir ist und bleibt.

Wenn Vater schweigt, mich nicht anspricht, mich einfach liegen lässt, als wäre ich aus Stein, verrät er mich mit seinem Schweigen. Ich bin dann nichts und bin nie was gewesen.

Sie sagt: Undankbar bist du deinem Vater gegenüber!

Im Vater war der Hass und keine Liebe für mich aufgehoben. Ich habe mich so fürchterlich geschämt, für ihn, der mich nicht lieben kann. Ich schämte mich dafür, dass ich der Mutter vorenthielt, auf Vaters Liebe stets zu warten. Ich schämte mich für den Betrug, dass ich ihn lieber haben wollte. Ich wollte ihn doch so sehr lieben, dass er auch mich dann einmal lieben würde können.

Wer ein Kind schlägt,

der kann es gar nicht

lieben. Wer ein Kind liebt,

der schlägt es nicht

und

lässt es nicht allein in

seiner Einsamkeit, verloren,

ohne Nähe liegen.

Sie redet nur von Vater, Mutter. Sie spricht, wenn mir etwas geschieht, ausschließlich erst von meinem Vater. Ich stehe da, bei ihr, und rase in mir voller Wut und sie erklärt mir meinen Vater. Was mein Herr Vater ist. So wie sie sagt, so soll und muss er sein. Das was sie sagt, so wie er ist, so ist er, soll er sein. Als gäbe es ihn zweimal. Das eine Mal für mich und dann für meine Mutter wirklich. So wie sie ihn beschreibt, so gibt es ihn für mich nicht wirklich. Ich soll Vater, Mutter ehren.

Wenn welche Fahnen schwenken in der Kirche, wenn auf dem Friedhof eine Abordnung an einem Grab mit Fahnen steht. Wenn Fahnen auf den Masten wehen. Wenn Vater mit mir dort am Kriegerdenkmal steht, steht für mich immer dort der Satz: Du sollst den Vater ehren. Sie stehen da und schwenken ihre Fahnen. Sie stehen stolz und schießen in die Luft.

Das Bild der Fahnen, die mir hinterher wehen. Die mich verfolgen und vom Friedhof jagen. Nachdem ich mir den toten Jungen angeschaut hatte. Der an Leukämie gestorben war. Jetzt weiß ich, was meine Angst und meine Furcht und meine ungeheuere Wut so festgebunden hat und mir die Luft abschnürte. Ich wollte nicht so enden, wie dieser arme Junge dort. Allein und ausgestellt in einem Sarg. Den Blicken ausgesetzt, und niemand der ihn schützte. Ich fasste das als Strafe auf. Dass Gott den Jungen dort bestraft hatte. Dass dieser Junge sich versündigt hatte. Dass dieser Junge, den ich vom Sportplatz kannte und der so frech zu allen war, dass dieser Junge, der selbst vor den Erwachsenen nicht Halt machte und über jeden lästerte, dass dieser Junge doch bestraft wurde, weil er Gesetze brach, weil er gesündigt hatte. Das hatte ihn getötet, dachte ich. Ich wollte nicht wie dieser Junge enden. Allein in einem Bett, den Menschen ausgeliefert und ohne eine Möglichkeit zur Äußerung und ohne eigene Sprache. Ich betete: Ich will nie mehr frech zu meinen Eltern sein. Ich will nie mehr den Vater ärgern. Ich will nie mehr untröstlich sein.

Sie hatte mich gewarnt, allein zur Leichenhalle hinzugehen. Ich bin 9 Jahre alt gewesen. Er sah schrecklich aus. Wie sie mich voller Angst nach Hause kommen sah, war ihre erste Reaktion auch Angst, doch dann erinnerte sie sich wohl, dass ich zum Friedhof wollte und wie verwirrt ich schaute, von dort wohl kommen würde. Sie lächelte. Ich hatte das so lange schon vergessen, dass sie dabei tatsächlich lächelte. Als Strafe für meine Neugier wohl. Und ihr gefiel, dass ich mich fürchtete.

Ich zitterte. Sie lächelte.

Siehst du, was passiert, wenn du auf mich nicht hören willst. Siehst du, was dann passiert. Sie kam mit ihrem Kopf noch näher. In Zukunft wirst du auf mich hören. Hörst du! Lass dir das wenigstens eine Lehre sein. Dann ging sie wieder in die Küche.

Ich wusste nicht wohin.

Du wirst in Zukunft auf mich hören! Hörst du!

Sie sagt das und sie lächelt wieder, dann wird ihr Lachen weniger und ihr Gesicht wird hart. Ich habe meine kleine Schwester gesehen, da war ich noch ein Kind. Bei uns zuhause aufgebahrt. Im Haus. Sie war die Jüngste von uns allen. Sie haben ihr ein weißes Kleid genäht. Sie ist an Diphtherie gestorben. Sie ist erstickt. Jetzt weißt du, wie das ist.

Wenn man nicht seine Eltern ehrt. Dass das mit mir passieren kann. Ich hasse nichts so sehr, wie meinen Glauben an die Schuld, dass wenn ich meinen Eltern widerspreche, mir Schaden zufüge und auch Verdammnis bringe. Ich wusste nie, woher mein Glauben stammte. Mein Hass für mich und meine „Schuldigkeit“.

Solang ich meine Eltern

ehren und ihren Worten

unbedingten Glauben

schenken muss, aus lauter Angst

vor ihnen, kann ich

nicht an mich denken und

mich frei fühlen.

Die Lieblosigkeit der Eltern

Sie klebt an mir. Ich werde sie nicht los. Sie drückt mich unter Wasser, hält mich dort fest und lässt mich nicht nach oben kommen. Sie hält mir meinen Mund fest zu, mit beiden Händen und hindert mich am schreien. Sie lässt mich nicht ans Tageslicht, hält mich in der Dunkelheit zurück und klebt mir meine Augen zu. Verheult bin ich. Ein schmutziges Gefühl, es schliert und juckt auf meiner Haut. Ich kratze mich und kann mich waschen wie ich will, doch nichts von dem Gefühl wird weniger. Es lässt sich nicht abwaschen. Ich kenne seinen Namen nicht. Ich hörte niemals jemanden in meiner Nähe davon reden.

Mein Vater hatte es, und meine Mutter.

Ich höre ihre Stimme. Ich kann nicht atmen ohne sie. Es ist der Klang der Worte, ihr so sein für mich und nicht anders. Die Stimme meiner Eltern, wie ich sie für mich kenne. Es ist der Klang, die Worte für mich haben, wie ich sie höre und verstehe. Die Muttersprache. Wie meine Eltern für mich reden. In ihren Stimmen ist der Klang. Feindselig ist ihr Ton. Feindselig und bedrohlich. Die Leere, wenn sie weg sind, alles still, hat keine Liebe und Gefühl für mich dann übrig. Nichts bleibt von ihr was tröstlich ist, in mir, wenn sie weggeht. Leblos ist lieblos sein. Lieblos ist auch vollkommen gleichgültig sein. Abwaschen wäre mir lieb gewesen. Sie lagen neben mir und ihre Körper waren kalt. Im Eis lag ich und suchte Wärme. Lieblosigkeit trat an mein Bett. Ihr Mund ein dunkler Schlund, der auf und zu geht, wenn sie spricht. Wenn sie in meine Augen schreit. Ich würde mich so gerne kratzen, doch bin ich eingeschnürt und kann mich nicht berühren. Ich bin verpuppt und meine Zehen zählen Tage, Nächte, bewegen sich und zählen Sterne.

Warum schreit dieses Kind ununterbrochen, fragt er.

Ich weiß es nicht, sagt meine Mutter.

Ich wehre mich.

Ich fühle, was meine Eltern von mir wollen, dass ich was besseres sein soll für sie. Dass sie was besseres als mich verdient hätten.

Meine Mutter deckte alles schreckliche und Furchterregende mit ihren Überredungskünsten, ihren Lügen für mich zu. Sie deckte meinen Vater zu. Sie schützte ihn vor meinen Augen. Sie blendete vollkommen meinen Vater für mich aus. Sie deckte seine Taten und ließ mich außer acht. Sie half stets ihm, wenn er vollkommen lieblos war.

In jener Nacht, als er mit Schmerzen im Bett lag, da hörte ich ihn schimpfen. Er fluchte und er schrie. Es war die schiere Angst, die mich verzweifelt hoffen ließ, dass Vater endlich sterben soll. Er soll doch endlich still sein, nicht mehr dauernd schimpfen, fluchen. Ich schämte mich für mein Gefühl, dass ich tatsächlich so was wollte. Der Teufel sollte mich auch holen. Und ganz egal, was auch geschieht, es muss doch einmal Frieden sein. Mein Vater war ein toller Hund. Tollwütig und gefährlich. Ich will nicht immer nur Angst haben. Ich hasse meine Angst vor ihm. Ich hasse mich dafür, dass ich mich vor dem Vater ständig fürchte. Wenn er mir näher kommt. Und wie er seinen Mund bewegt, wenn er zu sprechen anfängt und beginnt, wenn er mit seinen Flüchen anfängt und mich einfängt. Wenn er mit seinen Armen eine Falle macht, in die ich laufen muss. Dann hält er mich ganz fest und drückt mich, dass ich keine Luft bekomme. Er tut mir immer weh, wenn er mich anfasst und berührt. Ich will den Vater nicht mehr sehen. Ich will die Augen nicht mehr sehn. Ich will, das was aus seinen Ohren wächst, nicht länger anstarren, wenn er mich auf dem Arm fest drückt. Ich will die Nase meines Vaters nicht mehr riechen sehen, wenn er damit zu schnüffeln anfängt und böse wird und sagt, dass ich schlecht riechen würde, gerade so als hätte ich in meine Hose gemacht. Geschissen, sagt mein Vater. Der böse Mann soll gehen. Lass ihn weg sein und seinen Schweiß verschwinden. Ich rieche ihn und fürchte mich. Der Vater schwitzt und ist dann grob. Er packt dann meine Hände und dreht sie mir herum. Er fasst mir in die Hose und zieht an meinem Glied. Er fasst es an, damit ich besser Wasser lassen kann. Er zieht an meinem Glied. Er prüft, ob meine Vorhaut auch geschmeidig ist. Er prüft ob meine Vorhaut auch in Ordnung ist. Er tut mir dabei weh und lacht wie eine Feuerwehr beim Ausrücken. Mit einem Rasseln, Hals. Er schämt sich nicht, mich einfach anzufassen, als könnte ich das selber nicht. Er zieht und tut mir weh dabei. Er schneidet mir mein Bipperl ab, sagt er, wenn meine Vorhaut angewachsen ist. Dann schneidet er mir meine Vorhaut ab, mit einem Stemmeisen. Er schnitzt mich schon zurecht, sagt er. Er ist doch schließlich Schreiner. Er schneidet mir den Zipfel weg, damit ich besser Wasser lassen kann, sagt er. Ich will, dass dieser Mann jetzt stirbt, sofort, weg ist, damit ich wieder Wasser lassen kann. Ich will den Vater weg haben. Ich wünsche mir, dass Vater endlich aufhört mich zu quälen.

Sie sagte immer nur, dass niemand was gesehen hat, dass sie nichts davon merkte. Dass sie nichts davon wissen würde. Vom Leid, vom Schmerz, vom Kummer, von der Not und nichts vom Leid verstecken müssen. Dass ich mir alles immer nur einbildete. Dass meine Phantasie mit mir durchginge.

Dein Vater ist kein schlechter Mensch. Er ist ein guter Vater!

Sie schützte immer meinen Vater. Sie schloss die Wahrheit aus.

Dein Vater ist ein guter Mensch. Er würde nie was böses tun, sagt sie.

Ich schau in ihren Mund. Es ist, als würde ich darin verschwinden. Das was sie sagt, macht mich zu nichts und noch viel weniger. Es ist, als würde ich verdienen, was sie sagt. Was sie mir immer wieder predigt. Als würde ich verdienen, was sie sagt und was mein Vater tut, was alle mir antun und was mir widerfährt. Wie er mir ist. Als würde ich den Hass verdienen, seine blinde Wut und alle seine Flüche. Als würde ich seinen Hass verdienen. Und seine Lieblosigkeit mit dazu. Als würde beides nur das Beste sein für mich. Als würde das, was beide mir verabreichen, die einzige Art von Speise sein, die ich für mich verdiene. Als würde ich nichts anderes verdienen. Nur Hass, Lieblosigkeit, allein gelassen werden. Dass ich ihn ehren soll, trotzdem, macht mich zu einem Schuldigen. Dass ich verdiene, was er tut. Wie jeder seinen Gott verdient, der ihn bestraft und in die Wüste schickt und dort allein zurück lässt ohne Wasser und ohne eine Hoffnung. Als hätte jedes Kind so einen Gott verdient, der es bestraft. Als gäbe es die Unschuld nicht.

Ich fühlte mich vor meiner Mutter schuldig. Ich hatte seinen Hass verschuldet, das fühlte ich. Ich hatte seinen Hass auf mich verdient. Ich hatte Hass auf mich verdient und Lieblosigkeit. Das musste ich meiner Mutter, der Verkünderin meines Vaters, glauben. Sie war sein Engel. Als hätte ich den Gott verdient, der mich misshandelt und missbraucht und dann alleine lässt in meiner Not. Als dürfte ich mich nicht empören. Nicht hassen und nicht wütend sein. Nur meinen Vater und meine Mutter ehren. Das raubte mir fast den Verstand, dass ich nur Hass und Lieblosigkeit verdienen würde und keine Liebe. Dass ich wertlos und hassenswert selbst sei. Als wäre ich zu wenig wert.

Die Verachtung der Eltern

Ich konnte nicht verstehen, was es war, das mich nach Atem ringen ließ und mich am Schreien hinderte, wie zäher Schleim am freien Atmen. Ich fühlte mich austrocknen. Was mich am Leben hinderte, war die Verachtung meiner Wünsche und Bedürfnisse und meiner Reaktionen darauf gleichermaßen. Denn meine Eltern verachteten jedes Gefühl von mir, das ich ihnen entgegenbrachte, mit dem ich mich annähern wollte. Ich lernte zu verachten; Zärtlichkeit und mein Bedürfnis nach Geborgenheit und Schutz. Sie missachteten meine Zärtlichkeit und meinen Wunsch nach Nähe. Ich konnte ihnen niemals näher kommen, denn sie verachteten meine Nähe, auch wenn ich ihre Nähe suchte. Sie verachteten meine Liebe. Ich lernte Zärtlichkeit zurückzuweisen und Liebe zu verachten, wo ich sie später sah. Ich spürte das Verlangen nach geliebter Nähe, doch konnte ich sie in meiner Nähe nicht ertragen. Ein Kind, dessen Liebe verachtet worden ist, verachtet sich und seine Liebe später.

Es wurde höchste Zeit für mich, die Eltern zu verachten, so wie sie mich verachtet haben. Damit das Kind, das ich einst war, das erste Mal die Freiheit spüren kann, was es bedeutet, ohne Angst zu fühlen und zu atmen. Dass nichts von dem, was ich auch fühle, mir oder einem anderen Schaden bringen kann. Dass mein Gefühl nicht schädlich ist. Dass ich niemand mit meinem Fühlen schädige. Dass kein Gefühl selbst böse ist und niemand Schaden bringen kann. Es sind doch nur Gefühle. Nicht etwa Taten. Die Eltern zu verachten, die meine Liebe stets verachtet haben, bedeutet Liebe zu bezeugen, für mich, das eingeschlossene Kind, und sein Gefühl befreien.