Texte von Hugo Rupp

Die Ursache des Leidens

 

Sie ängstigt dich zu Tode und lässt dich dann allein mit deiner eigenen Angst. Sie ist das Ungeheuer, und du, das Kind, kann das nicht erkennen, dass sie es ist, und ihre Geschichten und ihre Handlungen und Unterlassungen ungeheuerlich sind. Weil niemand da ist, der sie mit dir sieht und hört, was sie dir sagt und wie sie dich erschreckt und ganz allein in einem Zimmer lässt. Weil niemand da ist, der dich mit ihr und ihrem Einwirken wahrnimmt. Der das Ungeheuerliche als solches sieht und auch benennt und sich empört und bei dir bleibt in deiner höchsten Not. Und wenn du weinst und deine Tränen mit der Wut sich mischen. Und niemand ist je da gewesen, dabei gewesen, wenn sie dich ängstigte mit ihren Worten, Taten und ihrem Lächeln dann. Sie wendet ihren Blick, geht weg und lässt dich verängstigt in größter Not zurück. Das Kind wütet in sich weiter, in dir und gegen alle Worte, und du findest keinen Ausweg für die Wut. Deine Wut selbst findet keinen Ausweg, weil dein Gegenüber fehlt. Die Ursache deiner Wut und deine Traurigkeit über dein Verfehlen macht sich breit. Verzweiflung hat dein Tun ergriffen, denn sinnlos ist dein Wehren und dein Schlagen, in dir nach allen Richtungen. Du findest keinen Anhaltspunkt, kein Gegner ist für dich, das Kind erkennbar. Das sind doch nur Geschichten und Worte, sagen später alle Leute, das sind doch nur Geschichten. Und du vergisst die Urheberin, die deine Wut und deine Angst mit ihren Worten und ihrem Verhalten ausgelöst hat. Das Kind ist nicht die Ursache seiner Angst vor allem Möglichen, Das hätten alle die, die wegschauen und welche die Täter sind, sehr gern. Du hast dich nicht sinnlos erschreckt. Du bist von ihr zu Tode erschreckt worden und dann alleingelassen worden. Dass sie selbst das Ungeheuer ist. So wird die blinde Wut auch in dir geboren, die gegen alles wütet und gegen jeden wettert. Das Kind richtet seine Wut ziellos jetzt gegen alles, weil es nicht erkennen kann, dass es die Mutter selbst ist, die es fortwährend ängstigt. Das Kind glaubt den Worten, muss ihnen glauben schenken, alleingelassen immer dort wo sie es will, wenn sie nach ihren Worten ihren Blick von dir abwendet und dich alleine lässt. Ihr Blick, der sich von dir und deinem Leid abwendet, der lässt dich stets allein zurück. Sie lässt dich mit dir selbst und deinem Schmerz allein. Da ist die größte Einsamkeit, der Moment, wenn du weinen anfängst, sie dich sieht und sich und ihre Augen abwendet. In diesem abgewendeten Augenblick verlässt dich dein Herz und Stille ist. Sie redet von den Toten und den Sterbenden und wendet sich dann ab. Sie redet von den Kranken und den Unglücklichen und wendet sich dann ab. Sie erklärt dir nichts und lässt dich stumm zurück. Verstummt, in Angst und ohne eine Möglichkeit der Gegenwehr…
Dieser abgewendete Blick ist für mich immer der schrecklichste gewesen. Dass sich jemand, wenn ich nur versucht habe, etwas von meiner Kindheit zu erzählen, abgewendet hat. Sie haben vollkommen Recht, wir fühlen uns als Leprakranke, weil man uns als solche auch behandelt. Als wäre das Reden über den Missbrauch von Kindern etwas anrüchiges, als würde plötzlich jemand sagen: „Schämen sie sich. So redet man nicht! Das ist zu hoffnungslos. Gibt es denn nichts gutes. Ist denn alles Schlecht. Freu dich doch!“
Dieser abgewendete Blick widerfuhr mir auch, wenn ich mich freute.