Texte von Hugo Rupp

Ende des Prozesses

Ich schämte mich für meine Wut. Damit hat alles angefangen, dass ich mich meiner Wut, mich selbst für meine Schmerzen schämen hatte müssen. Ich musste mich für alles schämen. Für alle meine Äußerungen, die Forderungen meines Körpers.

Das bildest du dir doch nur ein!

Die Wut, dass ich mich schämen musste. Endlich erklärt sich meine Wut von selbst. Ich musste mich als Kind erklären.

Was ist denn mit dir los.

Ich musste mich erklären. Ich sollte mich erklären. Ich wollte mich schließlich erklären. Sollte Gefühle immer nur erklären. Das tat der Wut nicht gut. Endlich begreife ich, warum ich mich nicht besser fühlen konnte.

Was ist nur mit dir los!?

Dass ich mich schämen sollte, erklärt mir meine Wut. Dass ich mich schämen sollte, gerade wegen meiner Wut, gerade wegen meiner Schmerzen, gerade wegen meiner Tränen. Weil meine Eltern das so wollten.

Endlich erklärt sich meine Wut von selbst. Der Schmerz an sich.

Ein Kind, das sich für seine Wut schämt, schämt sich an sich, für alle anderen Gefühle.

Was bildest du dir ein!

Natürlich hasste ich meine Mutter und den Vater.

Das bildest du dir doch nur ein!

Endlich erklärt sich meine Wut von selbst und ich muss sie nicht mehr erklären, endlich ist sie für mich nicht länger unerklärlich.

Ich musste mich ja schämen, wenn ich mich wehrte und verteidigte mit meiner Wut. Ich musste mich ja schämen, wenn ich mich nur verteidigte.

Insgesamt aber können wir sagen, dass wir diese schwerste Aufgabe in Liebe zu unserem Volk erfüllt haben. Und wir haben keinen Schaden in unserem Inneren, in unserer Seele, in unserem Charakter daran genommen.

Heinrich Himmler

So also kam die blinde Wut in mich. Direkt und nicht auf Schleichwegen. Mit seinen unentschuldigten, zahllosen Übergriffen. So kam die blinde Wut schließlich in mich und aus mir wieder raus, indem ich mich verteidige, indem ich mich mit meiner Wut gegen denjenigen verteidigen lerne, der mir als Kind so wehgetan hatte, mit seiner blinden Wut. Indem ich mich verteidige.

Nichts was in mir mehr nach Erlösung und Befreiung schrie, als meine Wut auf meinen Vater, auf diesen gleichgültigen, blindwütigen und selbstgefälligen Menschen.

Du bist jetzt still!

Hörst du!

Ich will jetzt nichts mehr von dir hören!

Endlich durchschaue ich die Angst. Ich hörte jeden Tag auf Vater und auf Mutters Stimmen, auf ihre Stimme des Gehorsams. Die Stimmen ihrer Scham. Die Stimmen der Beschämung. Ich hörte nur auf diese Stimmen, gehorsam wie ich schließlich war.

Ja schämst du dich denn nicht!

Hast du noch immer nicht genug!?

Sie konnten nur beschämend und bestrafend denken. Das habe ich an jedem Tag bei meiner Mutter und bei meinem Vater miterlebt. Was mich verzweifelt hat. Ich zweifelte an meinen Zweifeln schließlich.

Jetzt sind wir wieder gut.

Ich zweifelte an meinen eigenen Gefühlen. Ich zweifelte an meinem Zweifel. Ich zweifelte an meinem Grund. Ich zweifelte an meinen Gründen. Ich zweifelte an meinen Emotionen. Ich zweifelte an mir. Was mich so rasend machte. Ich sollte an mir zweifeln.

Was bildest du dir ein.

Ich hab dir nichts getan.

Ich sollte immer nur an mir, an meinen Schmerzen zweifeln; an meiner Wut gegen die Mutter und den Vater.

Jetzt sind wir wieder gut!

Sie wollten nicht nur gar nichts von sich geben. Sie konnten gar nichts von sich geben. Sie hatten kein Gefühl mehr zu vergeben. Außer an allen anderen zu zweifeln. Sie konnten nur Verzweiflung aus sich säen und somit von sich geben.

Was willst du nur?!

Was bildest du dir ein?!

Indem sie sich selbst nie beherrschten, doch selber nie beherrschen konnten. Und dabei gaben sie ein Beispiel ihrer selbst andauernd ab, wie die Erziehung zum Gehorsam, sie rasend und blindwütig und völlig gleichgültig gemacht hatte, gegenüber den Gefühlen eines kleinen Kindes.

Was bildest du dir ein?!

Jetzt sind wir aber wieder gut.

Zur Position des Kindes.

Um mit der beispiellosen Wut auf meine Eltern endlich herauszukommen und damit fertig zu werden, musste ich erst die Position des Kindes wiederfinden. Ohne Moral, ohne die doppelte Moral, ohne die doppelte Verneinung meiner Schmerzen.

Was bildest du dir ein!

Meinst du vielleicht, du seist was Besseres!?

Mit dir kann man es ja gar nicht aushalten!

Das ist ja fürchterlich.

Das ist ja nicht zum Aushalten.

Du mit deiner ewigen Schreierei.

Mit dir kann man ja gar nicht reden.

Mit dir kann man sich gar nicht unterhalten.

Mit dir kann man ja nicht auskommen.

Ununterbrochene Vertreibung und Bedrohung.

Wo willst du denn nur hin?

Wo willst du denn schon wieder hin?

Was läufst du denn gleich wieder weg?

Setz dich doch endlich einmal hin!

Bleib doch endlich einmal sitzen!

Kannst du nicht einen Augenblick mal Ruhe geben?!

Was ist nur mit dir los?!

Wo willst du denn bloß hin?

Wo willst du denn schon wieder hin?!

Bleib doch mal endlich sitzen.

Es ist doch schon so spät!

Warum bist du denn nur so unruhig?

Wo läufst du denn andauernd hin?

Warum bist du so aufgeregt?

Was ist nur mit dir los?!

Warum läufst du denn dauernd weg?!

Endlich begreife ich, dass ich ja schreibend und auch träumend, die Nähe meiner Eltern gar nicht suchte, ich wünschte mir ja nicht mal insgeheim der Mutter und dem Vater zu begegnen. Ich wollte ihnen gar nicht näher kommen.

Ich wollte ihnen nicht noch näher kommen.

Jetzt schlaf gefälligst ein.

Sonst kommt der Schwarze Mann!

Ich wünschte mir nur etwas Dankbarkeit von dir!

Ist das vielleicht zu viel verlangt!?

Sie ließen mich für alles büßen. Sie ließen mich nicht nur allein. Sie ließen mich nicht los. Sie ließen mich für meine Tränen büßen. Sie ließen mich allein, damit ich meine Wut zu büßen lernte. Nur deshalb haben sie mich immer nur bestraft, wenn ich zu weinen anfing, wütend wurde und dann zornig. Ich sollte mich den Eltern gegenüber verbunden fühlen lernen; doch nur gehorchen und gehorsam sein.

Sie konnten sich mir gegenüber nicht verbunden fühlen, weil sie sich nicht verbunden fühlen konnten gegenüber einem kleinen Kind. Sie konnten meine Schmerzen nicht bekunden, weil sie sich ihren eigenen gegenüber nicht mehr verbunden fühlen konnten.

Ich sollte mich ergeben und verbunden zeigen, auf meine Wut verzichten und vergeben lernen. Ich sollte immer wieder büßen. Und wenn ich mich verbinden wollte, mit meinen Tränen, meinem Weinen und der Wut, dann ließen sie mich ganz allein, alleine weinen. Ich sollte mich ergeben lernen, mit meiner Wut und meinen Tränen. Ich sollte mich ergeben lernen.

Ich musste mich mit ihrer Grausamkeit verbinden, wenn mir etwas passierte. Ich musste mich, wie meine Eltern mich als Kind behandelt hatten, schließlich auch selber so behandeln. Ich musste andere grausam behandeln, als wären sie verantwortlich für mich und meine Eltern. Wer sich mit Grausamen verbunden fühlen muss, muss selber grausam sein und sich nicht lieben. Der muss sich selbst nicht mögen lernen. So war es doch bei mir. Ich musste mich und niemanden mehr mögen lernen.

Wovor hat dieses Kind nur eine solche Angst?!

Dass mich mein Vater einfach holt, zurückholt und festhält und dann zusammenschlägt, und ich muss dabei ohne Ton sein. Dass er mich einfach nur zurückzieht, an meinen Ohren zieht und fürchterlich zu schimpfen anfängt und mir schwört, er würde mich umbringen, wenn ich noch einen Muckser machte.

Mucksmäuschenstill bist du, sonst kannst du aber was erleben!

Dass mich mein Vater holt. Dass er mich holen kommt, egal wo ich mich auch gerade aufhalte; wenn meine Mutter das befiehlt. Verbindung zwischen meinen Träumen, dem Traum vom Sportplatz und vom See. Sie ruft den Schwarzen Mann.

Es gab nie eine andere Verbindung, als reine Angst, die ich von meinen Eltern einst bekommen, von Anfang an erhalten habe. Die unerhörte und unerwiderte, die übernommene Angst, die sich doch nicht gehörte. Wenn Vater plötzlich nach den Worten rang, und Mutter sich umdrehte, als hätte sie ein unsichtbarer Geist gerade heimgesucht und in Gedanken umgedreht. Mit Angst in ihren Augen.

Was bildest du dir ein?!

Ich hab dir nichts getan!

Sie hatten ihre Angst. Endlich bin ich mir meiner Blicke und meiner Augen sicher. Dass ihre Übermacht doch nur auf ihrer Angst beruhte. Auf ihrer unterdrückten Angst, die sie in mich von Anfang an hineingetrieben hatten.

Nur jemand ohne Angst bleibt unangreifbar, unantastbar.

Endlich ist Widerstand für mich greifbar, für dieses Kind, das ich mal war. Endlich ist Widerstand gegen vermeintlich übermächtige Gegner denkbar und nicht nur aus der Luft gegriffen, illusorisch. Endlich ist Widerstand für mich begreifbar. Für dieses Kind, das ich gewesen bin, für meine Position, die des erschreckten und erschrockenen, des völlig aufgelösten Kindes. Aus Angst vor der Bestrafung. Endlich bin ich soweit, ihr doch noch zu entkommen.

Niemand kann sich verbunden fühlen, solange er sich fürchtet, im Grunde vor sich selbst. Ich konnte auch nur andere bestrafen und andern büßen lehren, wenn mich jemand berührte, wenn mir jemand zu nahe kam, wenn sich jemand verbunden fühlte, mir gegenüber stand auf gleicher Höhe.

Was bildest du dir ein!

Es gibt nicht nur die eine Position, die übermächtige, den Standpunkt meiner Eltern. Es gibt auch eine andere, die eines Kindes, das sich wehrt, gegen die Eltern, die scheinbar übermächtige und unbezwingbare Besatzungsmacht.

Mit Vater zu konkurrieren, bedeutete mit seinem Hass zu konkurrieren. Mit meiner Mutter zu konkurrieren, bedeutete mit ihrem Irrsinn, mit ihren Schreckgespenstern mitzuhalten, mit ihren Geistern und Stimmen mitzuhalten und ihren Geschichten, Märchen von Toten, Widergängern, Verheerten, Sterbenden, Verschwundenen, und solchen, die nie mehr auftauchten; die nie mehr auftauchen hatten wollen, wie all die Schreie, Ängste und Verletzungen aus unserer Kindheit.

Mit meinen Eltern zu konkurrieren, bedeutete im Wettkampf mit meiner eigenen Verleugnung sein zu müssen; die unterdrückten Schmerzen verschreien und verachten. Zu hassen, was das Zeug hält und nie klein beizugeben. Erbarmungslos zu sein und auch zu bleiben, egal was auch geschieht.

Ich kämpfte als Kind bei den Eltern nicht um Liebe, ich kämpfte gegen ihren Hass und ihre unterdrückte Wut und ihren unterdrücken Zorn. Ich kämpfte immer nur gegen Verleugnung von Gefühlen, gegen Verleugnung meiner eigenen Gefühle. Endlich begreife ich, dass es dabei niemals um Liebe ging, sondern doch immer nur um die Verleugnung unserer Enttäuschungen, unserer Wünsche nach der Liebe. Um Liebe muss man gar nicht kämpfen. Man kann ja gar nicht um sie kämpfen. Sie ist ja ein Geschenk.

Die Schreie, die ich gestern im Traum hörte, zu denen ich sofort mit meinem Rad hineilte, das waren meine eigenen. Die Schreie eines Kindes, für die ich mich so schickte, das waren meine eigenen. Die Schreie, die ich nicht länger überhörte. Die Schreie, die sich für meine Eltern nicht gehörten, die sich für meine Mutter und für meinen Vater nie gehört hatten.

Die Schreie in der Not.

Die Schreie, die ich endlich wieder höre, sind nur für mich geboren worden.

Die Schreie, die ich hörte, sind nur für mich gemacht.

Die Schreie, die einst in mir für mich geboren wurden, gehorchen nur der Emotion, der Liebe und der Freude und des Schmerzes.

Die Schreie, die ich hörte, sind nur für mich.

Und nicht für meine schlechten Eltern.

Die Schreie, die ich hörte, kann niemand mehr aus meiner Welt schaffen.

Die Schreie, die ich hörte, muss ich nicht mehr verteidigen.

Die Schreie, die ich hörte, gehörten mir.

Jetzt muss ich aber schnell, schnell heim, zu meiner Mutter, hab ich vor zwei Jahrzehnten noch gemeint. Ich müsste ganz schnell heim. Ich meinte gar nicht sie, sondern das kleine Kind, das ich gewesen war, das so allein und einsam neben meiner Mutter lag. Das Kind, das immer ganz alleine liegen musste, mit seinem Schmerz und seiner Pein. Ich konnte ihrem Hass als Kind nie ausweichen, deswegen schrie ich auch so laut und unaufhörlich in mir weiter. Deswegen war ich so verzweifelt und enttäuscht, und auch von mir, weil ich ja selbst auch nicht mehr weiter schreien hatte wollen.

Geht das schon wieder los?!

Hört das denn niemals auf?!

Ich konnte mich von der Gewalt nicht trennen. Ich konnte mich von der Gewalt nicht fernhalten. Ich konnte Vater nicht zurückhalten und meine Mutter auch nicht. Ich konnte mir die beiden nicht vom Halse schaffen. Ich konnte mich vom Hass nicht trennen. Ich konnte mich von der Gewalt nicht fernhalten. Ich konnte sie mir nicht vom Halse schaffen.

Das hatten wir doch schon!

Musst du dich immerzu nur wiederholen?!

Solange, bis ich förmlich platzte vor Zorn und Wut. Ich konnte mich vom Schmerz, niemanden auf meinen Schmerz aufmerksam machen zu können, nicht befreien, weil ich damit als Kind doch immer nur allein gewesen war. Ich musste mich zurückhalten. Ich musste mich zurücklassen. Weil ich mir nicht verziehen habe. Weil ich mir ohne meine Wut und meinen Zorn auf meine Eltern nicht verzeihen hatte können.

Beherrsch dich!

Nimm dich zusammen!

Verhalte dich gefälligst dementsprechend.

Was habe ich mich schließlich meiner Tränen und meiner Schmerzen geschämt, für meine Wut und meinen Zorn. Was habe ich mich doch schließlich ununterbrochen dafür geschämt, dass niemand, wirklich niemand für mich Partei ergreifen wollte. Was habe ich mich schließlich selbst für meine Wut und meinen Zorn und meinen Hass gehasst.

Auf meiner Suche nach der vollkommenen Verachtung und Gleichgültigkeit, um mit dem Schmerz alleine fertig zu werden, von Anfang an, ein ungeliebtes Kind zu sein, so sein zu müssen.

Ich dachte mir, so müsste ich für immer sein. Dabei vergaß ich meine Wut und dass ich mich damit doch mochte. Ich mochte mich, mit meiner Wut. Ich mochte mich doch mit der Wut.