Texte von Hugo Rupp

Die unbewusste Schuld

 

Gefühle, die mit Erlebnissen in der Kindheit in Zusammenhang gebracht werden können, unterliegen dem Gesetz der Verwandlung. Sie verändern sich mit der Zeit und machen neuen Gefühlen Platz. Der Zorn auf die Eltern bleibt unverändert, solange man ihn nicht fühlen kann, weil man sich vor diesem Zorn fürchtet, sich dafür beschuldigt und Angst vor der Rache der Eltern hat. Ist diese Angst einmal mit allen Begleitumständen erlebt und sind die Verknüpfungen verstanden worden, ist man nicht mehr länger bereit, sich für etwas schuldig zu fühlen, was andere getan haben. Diese Befreiung reduziert den Hass.

Alice Miller

Das gehört zum Schrecklichsten, dass die Mutter und der Vater tatsächlich keine Schuld empfinden, das heißt, kein Mitleid haben. Und da ist niemand, der uns hilft und uns beisteht und der die Eltern beschuldigt und ihnen Schuld nachweist, so wie ein Gericht das tut. Aber es gibt kein Gericht, das die Eltern für das belangt und deren Schuld nachweist. Es gibt niemanden der die Eltern für uns schuldig spricht. Ganz im Gegenteil. Alle sagen, dass wir die Eltern ehren sollen und ihnen immer auch vergeben müssen. Dieses Wissen ist entsetzlich. Kein Wunder, dass wir irgendwann aufhören an Schuld und Unschuld zu glauben, da wir doch immer nur unsere Schuld als Kinder, selbst an allem Schuld zu sein, fühlen mussten.

Not, in der Not bin ich noch wertloser für meinen Vater, dann sagt er nichts mehr, nicht ein Wort, verstummt, und geht aus meinem Zimmer. Krank, wenn ich krank werde, dann geht der Vater weg. Er hat für mich kein Auge übrig, wenn ich mich nicht gut fühle. Dann ist er weg. Er mag, dass ich nur lächle. Ich bin, wenn ich nicht lächeln will und nicht das tue was er will, für ihn vollkommen wertlos. Ich bin dann nichts, wenn ich ihm nicht gehöre und gehorche. Wenn ich das tue, was er will und ihm gehorche, dann bin ich wertvoll für ihn, weil ich ihm dann gehöre. Nur solange ich auf Vater höre, gehöre ich ihm an, solange bin ich wertvoll, und er lächelt mich dann an. Doch wenn ich das nicht tue, dann hab ich keinen Wert und bin zwecklos für ihn. Wertlos wie Luft und komische Ideen und Sachen, die in meinem Kopf herum spinnen.

Für ihn ist alles wertlos, was sich nicht von ihm schinden und Gehorsam beibringen lässt. Wer meinem Vater nicht Gehorsam zeigt, ist bei ihm unten durch, der ist nichts weiter wert wie Dreck unter einem Fingernagel. Krank konnte ich ihm nicht gehorchen. Krank war ich ohne Wert für ihn. Ich konnte krank nicht immer lächeln.

Gefühle haben keinen Wert, das lernte ich von meiner Mutter. Hier ist Verwandtschaft mit dem Vater. Hier gibt es eine Seelengleichung; was Vater, Mutter eint. Was beide fest zusammenhält. Ihr Wort, gleich wertlos jede Art von Fühlen zu bewerten. Wertlos ist alles, wofür sie sich nichts kaufen können. Brotlose Kunst ist alles, was nichts bringt, wofür sie sich nichts kaufen können. Nichts ist für meine Eltern etwas wert, was weiter nichts einbringt wie Schmerzen, Widerstand und Gegensätze. Wertlos ist alles, was fühlt und was sich zeigt, und was sonst keinen Nutzen hat. Mutter schrie Vögel an, damit sie endlich still sein sollten. Mein Vater schmiss einem Hund seinen Schlüsselbund auf die Schnauze, weil der ihn anbellte. Ich konnte gehen, laufen, kriechen, rennen, springen, hüpfen, lachen, und mich freuen, zeichnen, basteln, malen, schreiben, wie und was ich wollte, wenn meinen Eltern das nicht passte, dann war es nichts, dann hatte nichts von mir für sie dann einen Wert. Sie lachten über mich. Ich dachte immer nur, die Mutter macht das Leiden stumm, und Vater macht es wertlos. Sie machten aber beide, beides immer wieder.

Ich hatte Furcht vor meinen Geistern und meine Geister wussten nichts davon. Sie wussten nichts, weil sie sich selbst nicht fürchteten. So konnten sie furchtlos, wie sie in meinen Träumen waren, von mir auch nichts begreifen. Sie blieben immer fremd und unverständlich. Erst als ich meinen Vater sehen konnte und fühlen wie er wirklich war, für mich, da hörten meine Geister auf sich mir zu zeigen. Ich sah zum ersten Mal nun meinen Vater, durch die Gesichter meiner Geister, durch ihre Augen schauen. So schaute er, wenn er nach Hause kam und mich mit einem Schrei aufweckte. Ich sah das Furchterregende für mich und was mich so verwirrte, die Lüge meines Vaters, dass er mich nur zum Lachen bringen wollte, wenn er mich so erschreckte. Er weckte mich mit einem Schrei. Seitdem war Angst in jeder Nacht, bei mir in meinem Schlaf und meinen Träumen, nur dass ich mir nie trauen konnte, weil Vater mich anlächelte. Ich musste einfach glauben, mein Vater wollte mir nichts Böses tun, nichts Böses anhaben. Ich musste das so glauben.

Du willst doch nicht, dass deine Mutter auch krank wird, wenn du so weiter schreist, sagt er.

Du willst doch nicht, dass Vater geht, nie wieder kommt. Denn wenn du weiter schreist, dann wird er gehen und nie mehr wieder kommen, sagt sie.

Dass ich mit den Gefühlen töten kann und jeden auch verlassen, verdanke ich den Eltern. Sie haben mich damit erschreckt und obendrauf beschuldigt. Dass meine Wut sie töten kann. Sie blieben und sie waren immer nur unschuldig.

Ich ging mit meiner Schuld nur immer in die Irre, wo immer ich hinging und war, traf ich auf Schatten und auf Schuld.

Als ich mein fernstes unverstandenes Weinen in mir wieder fand, den Grund für mein unschuldig schuldig sein, begriff ich meine Wut.

Ich ging zum Friedhof um mir den toten Jungen anzusehen. Ich wollte ihn selbst sehen. Dass endlich der tot war, der mich beleidigt hatte, der mich ausgelacht hatte, im Fußballtraining. Der mich als Schwächling hingestellt hatte. Der war jetzt tot.

Ich würde das nicht tun, sagt meine Mutter. Versündige dich nicht, wenn du jetzt auf den Friedhof gehst, nur um dir diesen Jungen anzusehen. Nur zum Vergnügen.

Ich ging trotzdem und sah ihn dort allein in seinem Sarg. Ein Auge aufgequollen, der ganze Körper eine Maske. Ich bin erschrocken und augenblicklich habe ich mich umgedreht, doch war es schon zu spät, das Bild des toten Jungen war in mir, doch was noch schlimmer war, war mein Gefühl, dass ich tatsächlich jetzt bereute, der Mutter keinen Glauben geschenkt zu haben. Hätte ich doch nur auf sie gehört, dann wäre ich nicht so erschrocken, dann wäre ich nicht hier, und ein Gesicht, das Farbe in den Augen hat und schwarz umrandet Kohle ist und grausam ungestaltig, das würde jetzt nicht hinter mir hergehen, als wäre das schon immer so gewesen, als könnte ich nie mehr ohne diesen Jungen sein; als würde der jetzt ewig bleiben. Versündigt war es, was die Mutter sagte. Versündige dich nicht. Ich glaubte jetzt der Mutter, dass ich mich doch versündigt hatte, indem ich mich gefreut hatte, den toten Jungen zu besuchen, weil der mir tot doch nicht gefährlich werden kann, das dachte ich. Der Junge aber hatte mich noch tot erschreckt.

Ich fing das Beten an, dass dieses Bild von mir weggeht, dass dieses Bild nicht mehr in meinen Augen ist, wenn ich die Augen schließe. Ich betete tatsächlich, dass endlich dieses Bild weggeht, das mich auf Schritt und Tritt begleitete. Ich nahm die Sünde an, dass ich mich über seinen Tod gefreut hatte. Ich wusste aber nicht, wer mir die Schuld dafür nun wieder nehmen hätte können. Ich betete, weil niemand, weder mein Vater, noch meine Mutter sich um mich kümmerten. Sie lachten über mich. Sie schauten mich nun öfters wieder an. Denn das gefiel der Mutter um so besser, wenn ich so ängstlich war, dann war ich still und leise, dann war ich scheu und furchtbar ängstlich. Dann blieb ich nur zu Hause, blieb still in meinem Zimmer sitzen. Ich war, von Angst erfüllt, vor meinen Eltern still und leise.

Das soll dir eine Lehre sein, sagt mein Herr Vater. Denn über Tote lacht man nicht, sagt er. Das tut man einfach nicht.

Ich nahm die Schuld von meinem Vater an, dass ich mich schuldig fühlte, wenn ich dann später, nur an die Möglichkeit eines Widerstandes gegen ihn und meine Mutter dachte, wenn mir was auf der Zunge lag, wenn ich vor Wut in mir nur glühte, dann sagte ich doch nichts, ich wollte nicht die toten Augen wecken, ich wollte doch nie mehr mich so versündigen, dass mich die toten Augen dann besuchen würden, dass mich die Augen dieses Toten, sich nur für mich belebten, mich heimsuchten und töteten. Ich glaubte an Versündigung, ich glaubte an den Tod als seine Rache, dass ich den Tod herausforderte, wenn ich gegen die Eltern war, wenn ich berechtigt wütend, nur etwas gegen meine Mutter vorbrachte, spürte ich immer eine Schuld, wenn ich mich wehrte und wehren wollte, wenn ich in Not, in Notwehr etwas tat, selbst dann war Schuld in mir. Sie war wie ein Begleiter, tatsächlich schattenhaft, der niemals wieder von mir wich, auch unsichtbar in mir, auch wenn ich nicht mehr an ihn dachte, war dieser tote Junge in mir anwesend, als Schuldanerkenntnis, dass ich mich dort an seinem Sarg an ihm mit Freude und mit Wut versündigt hatte, indem ich ihn besucht hatte. Indem ich ihn besucht hatte, aus Freude über seinen Tod, dass er mich nicht mehr drangsalieren würde können und auslachen, dass er mich nicht mehr vor den anderen hinstellen würde können, als könnte ich nicht einmal stoppen, nicht einen Ball gerade schießen, als könnte ich nicht Fußball spielen. Ich hatte mich versündigt, weil ich mich über seinen Tod gefreut hatte, für den ich doch nichts konnte.

Dass dieser Junge wie mein Vater war und mich bloßstellte, aus lauter Freude mich auch quälte, indem er mich vor anderen hinstellte, mich demütigte und entwertete, das wusste ich doch nicht, dass dieser Junge wie mein Vater war, er war erst 14 Jahre alt. Ich konnte doch nicht wissen, dass dieser tote Junge wie meine Mutter war, die mich allein gelassen hat. Ich konnte doch nicht wissen, dass dieser tote Junge wie meine Mutter war, unnahbar kalt und ohne einen Blick und eine Ahnung für meine Art Lebendigkeit. Ich konnte doch nicht wissen, dass dieser tote Junge die gleiche Zärtlichkeit besaß wie meine Mutter. Ich konnte doch nicht wissen, dass dieser Junge meine Mutter war mit ihrer Art des Schweigens und Verschweigens, des immer schweigsam bleiben. Ich konnte doch nicht wissen, dass dieses Schweigen eine Drohung war für immer schweigsam bleiben müssen, sonst blüht der Tod auch so in mir, so wie im Körper dieses Jungen.

Ich fühlte mich fortan an jedem Tag an diesen Tod erinnert, dass wenn ich „Falsches“ für die Eltern fühlte, so enden würde wie der Junge.

Solange ich die Schuld der Eltern an meiner Schuld und meiner Angst vor Schuld nicht klar erkennen konnte, solange ich die Schuld der Eltern für mich nicht schuldig nannte, war Schuld und Scham an allem für mich möglich. Ich schämte mich und fühlte Schuld, wenn mir jemand gehässig blickend gegenüber saß, wenn mir jemand vollkommen Fremder nur einen Vorwurf machte, war Schuld in mir, die nach Erklärung suchen musste, und ich mich selbst tatsächlich schämte. Ich schämte mich und machte mich verantwortlich dafür, dass ich mich nicht gebührend weigerte, verweigerte und wehrte, zumindest gegen einen Fremden. Ich machte mich selbst schuld dafür. Dafür beschuldigte ich andere, beschämte auch Unschuldige, die mir doch nichts getan hatten. Die Schuld an allem möglichen, war meine tiefste Angst vor meinen Eltern, sie könnten mich nur wieder auslachen, verlachen und entwerten und wieder dann alleine lassen, alleine mit meiner Wut und Raserei und einem Zorn, der sich ausschütten wollte, wenn ich auf ihre Quälereien wütend wurde, wenn ich mich wehren wollte mit Gefühl.