Texte von Hugo Rupp

Die Stellungnahme

 

Bücher helfen ei’m nich. Jeder Mensch braucht ’n andern – jemand, der in der Nähe is.‘ Weinerlich fuhr er fort: ‚Ein Mensch geht kaputt, wenn er niemand hat. Macht keinen Unterschied, wer’s is, wenn man nur jemand hat. Kann dir sagen‘, rief er erregt, ‚man wird sonst zu einsam und wird elend.

John Steinbeck Von Mäusen und Menschen

Sie schimpft mich, wie ich sie noch niemals vorher schimpfen hörte. Dass ich nichts wert bin und so dumm. Dass ich mich doch nur dreckig machen kann. Dass ich für sie nur Dreck bedeute. Sie schimpft und schreit mich an. Sie schimpft mir in die Augen. Sie schreit in mein Gesicht. Und ich verstehe, was sie sagt. Das erste Mal verstehe ich die Worte ganz genau. Dass ich es bin, den sie da meint. Dass ich es bin, den sie ausschimpft, dass ich es bin, der ihren Zorn verdient, dass ich es bin, der dafür schuldig ist, was meiner Mutter Zorn erregt, dass ich es bin, der dreckig ist und klein und unbedeutend. Dass ich ein kleiner Dreck nur bin und sonst nicht mehr.

Schau dich nur an, sagt sie.

Das bin ich jetzt. Der so aussieht, wie meine Mutter sich benimmt, so bin ich immer wieder, wie meine Mutter mich beschimpft. So war ich immer später, wie meine Mutter mich beschimpft hat, im Beisein meines Vaters. Der Vater steht auch da. Der Vater hört selbst zu, wie sie jetzt schreit und nicht mehr aufhört mit den Worten, was ich für meine Mutter bin, was ich für sie begreiflich bin. Ein Nichts und wieder Nichts und wieder nichts.

Du bist zu blöd zum Scheißen! Sieh dir nur deine Hose an, sagt sie.

Ich weiß, dass dort ein Fleck ist. Weiß ich, weiß ich.

Schau dir nur deine Hose an, sagt sie und schimpft jetzt wieder weiter.

Ich schaue meine Hose an. Ich sehe meinen Fleck.

Fällt einfach hin, zu blöd zum Scheißen.

Mein Vater sagt kein Wort. Mein Vater sagt kein Wort. Der große Vater sagt jetzt kein Wort. Ich sehe heute erst, wie er erschrocken ist. Der Vater sagt kein Wort.

Ich schaue in den Boden. Ich bin doch hingefallen. Ich habe mich gebückt, bin hingefallen, auf mein Knie, bin hingefallen.

Du bist zu blöd zum Gehen. Das sag ich dir, sagt sie.

Ja, bin zu blöd, bin viel zu blöd, jetzt hör doch wieder auf, das sage ich in mir und hoffe, dass sie aufhört. Mit einem Mal verstehe ich, was sie mich nennt, was ich auch bin, was sie mich heißt, was ich hier mache und verbreche, was ich für meine Eltern bin. Ich höre alles. Ich weiß, was meine Mutter sagt, und bin, was meine Mutter sagt. Ich bin der Dreck für sie und meinen Vater. Der Dreck, der sich beschmutzt, der nichts ist, außer undankbar, den Eltern gegenüber, der nichts kann außer Kummer, Ärger, Sorgen machen und bereiten, der nichts verhindern kann, der einfach falsch macht, böse ist und nichts dagegen kann. Ich bin zu dumm zum Scheißen. Zu dumm zum Gehen. Zu dumm zum Stehen und zum einfach Gehen. Ich bin zu dumm, für mich allein. Ich bin ein dummer Hund.

Du dummer Hund bist wieder hingefallen. Ja schau nur wieder hin. Hab ich dir nicht gesagt. Pass endlich auf. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst gefälligst  aufpassen!? Hab ich das nicht gesagt!? Du dummer Hund, kannst nicht aufpassen.

Die Mutter tut verzweifelt. Weil ich für sie zu dumm bin und mich dreckig mache. Ich bin der dümmste Hund, weil ich mich selbst beim Essen beiße. Wenn ich mir auf die Zunge beiße, dann bin ich wieder nur ein dummer Hund.

Du bist doch unbelehrbar. Dir kann man sagen, was man will! Du hörst nicht zu. Du hörst nicht zu, wenn wir dir etwas sagen. Du stehst nur da, tust dumm und hörst ja gar nicht zu. Was ich dir immer sage. Pass doch gefälligst auf! Das sage ich dir heute schon zum x-ten Mal. Soll ich es dir noch mal erklären!?

Ich schaue Richtung Vater. Sie sieht das gleich.

Der sagt dir auch nichts anderes.

Ich sage nichts. Weiß darauf nichts zu sagen. Weiß überhaupt nicht, was ich ändern soll, weil ich tatsächlich immer wieder dreckig werde. Wie soll ich sauber bleiben? Die Mutter hat schon recht. Ich bin zu blöd zum Scheißen. Hab mich doch angeschissen, als sie mir meine Windeln einfach hängen ließ. Zum Lachen und zum Scheißen komisch, wie sie mich immer wieder auslachte, weil ich mich so beschmutzte, weil ich nicht sauber bin, nicht sauber bleiben konnte, weil ich nicht sauber bleiben kann, weil ich nicht sauber sein konnte.

Das konnte ich nicht wissen. Dass ich nicht sauber sein konnte. Dass ich nicht schuldig war. Ich dachte immer nur: Wie blöd muss denn ein Hund wohl sein, noch blöder als die Kuh. Wie eine Kuh beim Scheißen. So blöd bin ich. Zu blöd um aufzupassen.

Du bist zu blöd um aufzupassen. Das ist es, was ich immer sage. Du passt nicht richtig auf. Du passt nicht auf. Du musst nur richtig aufpassen. Das sage ich dir immer wieder. Du bist zu blöd. Du schaust nicht richtig hin. Du hörst nicht richtig zu, sagt sie.

Ich höre hin und schaue hin und mache mich trotz allem dreckig. Ich bin zum scheißen blöd. Der blödste Hund. Ich bin so blöd wie meine Eltern immer sagen. Ich bin tatsächlich blöd. Das merke ich jetzt selbst. Weil ich nicht richtig zuhöre, weil ich nicht richtig schaue, wo ich hintrete, wo ich jetzt wieder stehe, bin, wie ich nur wieder bin, was ich gerade tue, schaue ich dann hin, wo ich nur unentwegt darauf achte, wo ich gerade bin und dass ich nicht hinfalle, dass mich die Mutter nicht schon wieder schimpft, dass sie nicht wieder schimpft. Ich will kein blöder Hund sein, nicht schon wieder.

Du blöder, blöder Hund, schau dich nur wieder an. Was hast du denn jetzt da gemacht. Jetzt ist die Hose hin. Jetzt ist sie endlich hin. Das hast du jetzt geschafft. Wer soll dir eine neue kaufen. Das sag gefälligst deinem Vater selbst. Ich sage ihm das nicht. Frag du gefälligst selbst dann ihn. Ich bin es leid, für dich zu fragen. Wenn etwas hin ist und kaputt, soll ich dafür dann immer sorgen? Geh selbst zu deinem Vater und bitte ihn um eine neue Hose. Vielleicht hört er dir zu und du hast Glück. Ich glaube nicht, dass er sich freuen wird, wenn er schon wieder eine neue Hose für dich kaufen soll. Sieh dir nur deine Hose an. Wie kann man nur mit seinen Sachen so umgehen. Du passt auf deine Sachen niemals auf. Du hörst noch immer nicht, was ich dir sage.

Ich stehe da. Ich will mich endlich bessern. Ich will, so schaue ich, und meine Schultern hängen wieder, ich will mich doch selbst bessern.

Ich habe kein Vertrauen mehr in dich. Was immer ich auch sage, du sorgst doch nie dafür, dass das auch eingehalten wird, was ich dir sage und empfehle. Wenn du mir einmal nur gehorchen würdest. Wenn du nur einmal das tun würdest, was ich sage, dann wäre alles gut. Doch dazu bist du nicht imstande. Nur einmal das zu tun, was ich dir sage. Nur einmal wenigstens.

Ich schaue meine Mutter an. Ich höre jedes Wort. Sie wirft mir Feigheit vor und macht mich klein.

Du hörst nicht zu. Du hörst nur einfach weg. Du schaust mich hier groß an, als könntest du kein Wasser trüben. Als wüsstest du nicht ganz genau, von was ich rede. Lass sie nur reden, denkst du jetzt. Lass sie nur reden, reden, reden, was deine Mutter immer redet, lass sie nur einfach reden. Doch jetzt ist endlich einmal Schluss. Jetzt kannst du selbst mal schauen, wie du zu einer Hose kommst. Du kannst nicht zu hören. Du lernst aus deinen Fehlern nichts. So wirst du nie etwas begreifen, wenn du nicht zuhörst, was ich sage.

Ich hörte immer ihre Stimme. Ich hörte sie bei jedem Schritt, auch wenn ich das nicht einmal wusste. Sie war konstant und unberechenbar. Sie konnte mich bei jedem Anlass schimpfen. Sie war für mich vollkommen unberechenbar. Ich hörte zu, wie sie mir vorwarf, ihr nicht zuzuhören. Ich schaute zu, wie sie mir vorwarf, ihr nicht zu zuschauen. Ich schaute immer zu. Ich tat nichts anderes. Ich schaute stets in ihre Richtung. Ich hörte doch auf alles hin. Damit ich niemals wieder fallen würde. Ich fiel deswegen hin, weil ich auf alles schaute, hörte, und mich nicht sah, mich übersah dabei, weil ich mich selbst nur übersah und überhörte. Ich musste auf die Mutter hören und hörte nicht auf mich. Ich sah auch nicht auf mich. Ich achtete auf Worte, Worte, nur immer ihre Worte. Ich achtete darauf, dass ich zu blöd zum scheißen wäre, zu blöd um aufzupassen.

Du dummes, dummes Kind, was hast du jetzt bloß wieder angestellt. Als wäre ich nicht schon genug gestraft. Wie du nur wieder aussiehst! Schau dich nur an. Was machst du nur mit deinen Sachen.

Ich weiß nicht, was sie meint. Ich mache nichts. Was auch passiert, ich mache das nicht absichtlich.

Das ist es, was ich nie verstanden habe, dass sie mir Absicht vorwirft. Dass meine Mutter mich beschuldigt, dass sie mir Schuld gibt, für das, was ihr an mir nicht passt. Sie warf mir das tatsächlich vor, und ich erkannte niemals diesen Sinn. Dass keine Schuld in mir das alles tat. Dass ich mich doch nicht absichtlich zu Boden fallen ließ. Dass ich doch nicht bewusst und absichtsvoll mich auf die Knie hatte fallen lassen, dass ich doch nicht für sie mir weh tat und mich dreckig machte. Sie warf mir Absicht vor. Verfluchte, was ich tat. Verfluchte auch Zukünftiges, dass alles, was ich tun würde, ihr nur zum Fleiß tun würde.

Du machst das doch absichtlich. Gib das doch endlich zu!

Sie schrieb mir Schuld in mein Gehirn.

Ich sehe dir doch an, dass du mich anlügst hier. So ist es nicht gewesen! Sag schon. Hab ich nicht recht!?

Es gab in meiner Kindheit keine Zufälle für mich. Es gab Vorsehung, Schuld und wieder Schuld und absichtliches Fehlverhalten. Für mich, von mir, für sie. Das galt nicht für die Eltern. Als gäbe es in mir, in einem Kind, nur Schuld und einen Drang etwas kaputt zu machen. Ich war für sie Maschine. Mit einem Todestrieb, mit einer Programmierung zur Gewalt. Als wäre ich gewalttätig, feindselig geboren worden. Als gäbe es in einem Kind ein unsichtbares Erbe; Genetik eines bösen, unberechenbaren Kindes. Dabei war sie die Unberechenbare.

Verfluchte Schmerzen, sagte ich und gab mir selbst  dafür die Schuld. Auch wenn mein Körper sprechen wollte, dann brachte ich ihn zum verstummen. Verflucht noch mal, halt deinen Mund. Du bist doch schuld an dem Dilemma. Ich steckte mich selbst an, mit einer Schuld, die niemals wirklich war. Ich steckte mich mit Worten immer wieder an, dass ich selbst schuldig sei, wenn mir was fehlte und mir weh tat. Wenn ich in Not war und mich fürchtete, wenn mir vor Angst die Beine zitterten und mein Kopf wackelte. Wenn ich den Vater kommen sah und Mutter ihren Mund nur öffnete.

Er sagte nichts zu ihrem Tun. Er hatte Angst vor ihr. Er fürchtet sich vor meiner Mutter. Mein Vater fürchtet sich.

Ich musste mir um ihn nun auch noch Sorgen machen. Wenn ich nicht brav bin und hinfalle, wenn ich nicht so gehorche, wie meine Mutter das so will. Ein Kind entschuldigt seinen Vater, für seine Feigheit hier und jetzt im Angesicht des blinden Zorns, der Tobsucht seiner Mutter. Ich fühlte mich verbunden. Vielleicht zum ersten Mal. Mein Vater fühlt wie ich. Mein Vater ist ein feiger Hund.

Ich stand mit ihm vor meiner Mutter, zwei Jahre alt war ich. Ich hätte so und so nichts mehr herausgebracht. Ich schützte meinen Vater. Er hatte  Angst vor ihr.

Ich habe keinerlei Erinnerung, die meinen Vater zeigt, wie er der Mutter widerspricht, für mich, dass er auf meiner Seite steht, wenn sie mich wüst beschimpft.

Deswegen konnte ich auch keine Wut entwickeln. Ich sah in ihm mich selbst, ein Kind allein mit seiner Mutter. Er konnte sich nicht wehren. Wie ich.

Ich hatte keinen Grund auf Trost und Schutz zu hoffen.  Mir hat niemand geholfen. Mir hat mein Vater nicht gezeigt, dass ich ein Anrecht, einen Anspruch, wenigstens die Hoffnung haben könnte, auf Trost und Schutz für mich. Ich bin trostlos; im Beisein meines Vaters.

Das ist halt so, sagt sie. Da kann man gar nichts machen.

Sie schaut mich an. Ich weine in die Luft. Ich weine in den Regen. Mir gegenüber steht die Frau, die keine Tränen sehen mag und keine Tränen sehen kann. Mir gegenüber steht die Frau mit einem Lächeln. Sie sieht nicht, dass ich leise in mir bitte, dass endlich das vergehen mag. Dass endlich keine Schuld zum Vorschein kommt mit meinem Weinen. Ich bettle, dass ich nicht mehr weine, damit die Schuld vergeht, mein schuldbeladenes Weinen.

Du bist selbst schuld. Hab ich dir nicht gesagt, du solltest besser aufpassen! Hab ich das nicht gesagt!?

Das freute sie, sie hatte Recht behalten. Das freute sie, als ich mir weh tat und noch weinen konnte. Und dass ich meinen Kopf dann vor ihr senkte und in den Boden sah. Dass ich ihr weitere Tränen so ersparte und meine Schultern hängen ließ, dass ich vor ihr die Schuld mit Scham bekannte, dass alles schließlich meine eigne Schuld bedeutete, wenn mir etwas geschah, falls mir etwas passierte. Das war für sie ein Glück. Das war für sie ein Segen. Dass ich nur immer meine Mutter lieben sollte, das war für mich ein Fluch.

Pass auf wohin du trittst!

Ich sollte mich von ihr niemals verlassen fühlen. Ich sollte immer schuldig sein, wenn mir was fehlte. Ich durfte mich nicht von ihr verraten und verlassen fühlen.

Das hast du mir zum Fleiß getan.

Sie schaut erbärmlich, wütend.

Hast du dir wieder weh getan, sagt sie vorwurfsvoll.

Ich war tatsächlich eifersüchtig auf den Vater, denn der stand da wie ich, wie ein begossener Pudel. Doch ihn traf kein Wort meiner Mutter. Sie heizte mir nur ein. Nur mir. Niemals dem Vater, nicht einmal hinter vorgehaltener Hand. Der feige Vater war tabu. Ihn durfte es nicht geben, und Zorn auf ihn schon gar nicht. Ich war sogar auf seine Schmerzen eifersüchtig später, weil sie ihn dann versorgte. Sie kniete sich auch hin und band ihm seine Schuhbänder. Sie kniete sich tatsächlich hin, wenn er sich nicht mehr bücken konnte oder wollte. Kein böses Wort kam da aus ihrem Mund. Auf Knien. Was für eine Schande, wenn doch die Hose dabei litt.

Mein Trost- und Schutzbedürfnis haben meinen Blick verstellt. Natürlich für ein kleines Kind. Ich konnte nie begreifen, warum ich denn so zornig später war, dann immer, wenn zwei Menschen gegen einen sprachen, waren. Ich sah das niemals als Erwachsener, dass sich ein Vater gegen seine Frau doch stellen kann und sein Kind dann verteidigt. Dass endlich jemand seinen Zorn begreift. Um nichts in aller Welt noch einmal so verfügbar sein zu müssen, wie als Kind.