Texte von Hugo Rupp

Die Selbstverachtung

 

Sag mir, wie es ist, nicht einmal für deine Schmerzen sorgen zu dürfen!?

Sag mir, wie es ist, nichts für dich zu tun. Sag mir, wie es ist, nur allein mit dir zu sein und ohne eine zarte Hand, die dich streichelt, die dich pflegt, die dich aufhebt und dich hegt, die dich lieb hat und dich schützt, vor dem Zugriff anderer?

Sag mir, wie die Schmerzen sind!?

Meine Illusion, Vater könnte einmal sich erkennen, seine Hände, die mich schlugen, seine Worte hören, die mich schimpften und erniedrigten. Unnachgiebigkeit, Unverzeihlichkeit, was sie für ein Kind bedeuten, dass ich ohne Pflege bin.

Vater rührt sich nicht, wenn ich ihn betrachte. Schüchtern bin ich auch geworden. Vater war nie schüchtern.

Niemand merkte meine Angst. Niemand nahm mich ernst. Niemand sagte etwas gegen meinen Vater. Ich sah und hörte meinen Vater belfern. Aufgeregt, laut bellen und feindselig kläffen. Schrie er. Fluchte, keifte, schimpfte gegen alles, jeden. Niemand hielt ihn für die Worte auf. Niemand sah mich zittern. Niemand merkte eine Angst. Niemand sagte Grausamkeit. Niemand sagte: Halt!

Niemand sagte etwas gegen ihn. Niemand sagte: Was soll das? Niemand hielt für mich meinen Vater auf. Niemand spürte eine Not. Niemand sah mich meine Hände drücken. Fäuste machte ich nur heimlich. Meine Art von Zärtlichkeit musste schwinden.

WIE KANN ICH DEN VATER RETTEN?

Wie kann ich den Vater trotzdem retten?

WIE KANN ICH DEN VATER RETTEN?

Wie kann ich mich retten, mit dem Vater als Befreier. Mit dem Vater als Erretter.

Wie die Mutter immer sagt: Vater ist mein ein und alles.

Wie kann ich mich vor dem Vater retten und nicht ohne ihn verbleiben müssen. Wie kann ich mich nicht verzweifeln? Was kann meine Rettung sein?

Wie kann ich mich selbst verbiegen?

Wie kann ich der Liebe dienen, die ich nicht bekommen habe? Wie kann ich mich selbst verstellen, dass die Grausamkeit in mir verschwindet und der Schmerz mit ihr?

Wie kann ich mich selbst verraten?

Sag doch: TUT NICHT WEH!

Sag doch endlich einmal: Tut doch gar nicht weh! Tu doch Vater endlich den Gefallen, dass er nicht beleidigt ist. Sag doch endlich einmal für ihn: Tut nicht weh.

Tut doch gar nicht weh.

Sag doch einmal, was er immer schon vernehmen wollte, tut doch gar nicht weh.

Hat doch gar nicht weh getan.

Tut auch gar nicht weh.

Tat auch gar nicht weh.

Siehst du, wie der Vater plötzlich lächelt, wie er glücklich ist und sich freut, wie er dich anlächelt, weil du nicht mehr leidest, wenn er dir weh tut. Siehst du seine Augen, wie er dich belächelt, siehst du sein glückselig sein? Vater ist sich jetzt ganz sicher, dass er guter Vater ist. Tut dir nicht mehr weh. Jetzt ist er gerettet. Guter Vater, tut dir nicht mehr weh. Nichts mehr was ihn kümmern müsste. Tut dir nicht mehr weh. Siehst du, wie der Mutter leichter wird, wie auch sie das Glück nicht fassen kann. Tut jetzt nicht mehr weh. Vater ist jetzt auch gerettet.

Tut doch nicht mehr weh.

Wie ich mich verraten habe, habe ich mich auch gerettet. Weil ich mich verraten musste, gegen ihre Grausamkeit. Tut mir nicht mehr weh, sagte ich mir immer wieder. Tut doch nicht mehr weh. Ist doch nicht so schlimm, ist doch nicht so weh. Ist doch nicht so schlimm. Siehst du, ist doch nicht so schlimm gewesen. Ist doch nicht so schlimm gewesen.

Tut doch nicht mehr weh. Ich beschwöre meine Schmerzen aufzuhören und zu schweigen. Ich versichere mir selbst, dass es mir gut geht. Ich belüge mich und meine Schmerzen, um nicht mehr zu leiden.

Ist doch nicht so schlimm, hat mir nicht geschadet, sage ich mir immer wieder. Ob beim Zahnarzt oder unter andern Schmerzen. Ist doch nicht so schlimm, wird schon wieder besser. Hat mir nicht geschadet.

Das gefällt dem Vater, dass ich keinen Schaden zeige, dass ich keinen Schaden mehr anzeige. Zeige keine Schmerzen mehr, lächle und verstecke alles Wehe. Ich erdrücke meine Schmerzen und tatsächlich wird der Vater anders. Jetzt gefällt es meinem Vater, was ich tue unter Schmerzen, wenn ich mich auch schinden lasse, wenn ich wenigstens so tue, dass ich mich auch schinden werde.

Tut doch nicht so weh, sagt er, schaut mir ins Gesicht und ist überglücklich. Dass ich ihn begriffen habe, wenn ich nichts mehr sage. Dass ich keine Narben habe, hat er auch so gern. Dass nichts auf der Stirn mir steht, dass ich keine Male trage, dass ich keine Spuren an mir habe. Dass sich keine Tat erkennbar zeigt, dass nichts übrig ist von den „Spielen“ aus der Kindheitszeit. Dass ich nichts mehr vor ihm spüre, dass er nichts mehr von mir merkt. Dass wir beide keine Schmerzen mehr vermelden. Dass ich Schmerzen nicht mehr zeige, rettet meinen Vater.

Wenn ich Vater nicht beschuldige, wenn ich über seine Taten lächle, wenn ich zeige, tue, sage, ist doch nicht so schlimm, rette ich den Vater in Gedanken, rette ich den Vater immer wieder. Wenn ich nicht mehr gehe, wenn ich nicht ausreiße, wenn er kommt, wenn ich nicht mehr vor ihm schrecke, wenn ich alles was er tut, nur mit Lächeln sehe, ist der Vater aufgehoben und geborgen in mir und auch äußerlich. Denn er lächelt jetzt auch wieder. Vater findet seine Freude wieder, wenn ich ihn anlächle. Tut doch nicht mehr weh. Wenn ich ihm vergebe und verzeihe, wenn ich das vergesse, dass ich immer nur verzeihen musste. Wenn ich das vergesse, dass ich Vaters Tun auch vergessen habe, wie er früher zu mir war, ist der Vater wieder heil. Ist der Vater wieder gut. Ich bin mit dem Vater jetzt gerettet. Bin in ihm erlöst. Ist doch nicht so schlimm gewesen. Tut auch nicht mehr weh. Ist doch nicht so schlimm gewesen. Siehst du, ist doch schon viel besser. Hätte ich mir schlimmer vorgestellt, ist doch nicht so schlimm gewesen. Ist doch nicht so schlimm. Ich vertiefe meine Traurigkeit und erschöpfe meine Schmerzen. Ich zertrete meinen Zorn, meine Wut und Rache. Ich ertränke meine Liebe, die ich für mich hatte. Ich vergebe mir dafür. Ich vergebe meine Liebe und vergebe meinen Schmerz. Ich vergebe allen Menschen, nur nicht meinem Herz. Ich verachte alles, meine Art Gefühle, weil ich einzig und allein, hier als Fremder bin.

Ich bezweifle alle Schmerzen. Gibt doch keinen echten Schmerz. Ich bezweifle alle Schmerzen. Lächle über jede Sorge. Tut doch nicht so weh, ist doch nicht so schlimm. Ich ertrage alle Schmerzen, mit der Sorgfalt einer Vase und der Ruhe ihres Daseins. Ich ertrage jeden Schmerz, mit der Glätte einer Politur, mit der Sauberkeit von Räumen. Ich ertrage jeden Schmerz, mit der Klinge meines Herzens, ich verfüge über jeden Laut, der sich in mir oder außerhalb, auf die Schmerzen äußern könnte. Ich verfüge über keine Schmerzen, ich belasse jeden Schmerz. Ich verliere jede Haftung, die noch an den Schmerzen war, ich verlasse jeden Schmerz.

Ich verlasse jede Anteilnahme, jede Empathie, ich verlasse mich dafür, dass ich nichts mehr mit den Schmerzen habe, was ich übersehe, dass ich sie jetzt einfach übersehe. Ich bin blind für meine und die Schmerzen anderer. Ich bin nicht mehr sehend. Ist doch nicht so schlimm, tut doch nicht mehr weh, hat die Farbigkeit erledigt. Jetzt ist alles grau, jetzt ist Krieg für immer. Ich erkenne keinen Frieden mehr, nur mehr nötige Verluste, nur mehr dass getötet und gestorben werden muss, dass die Grausamkeit geboren ist, um den Schmerz in mir zu halten. Um den Schmerz jetzt zu verwalten. In mir ist die Grausamkeit und ich fühle unaufhörlich ihr Begehren. Nur mit ihr und gegen alle anderen, ist der Schmerz zu halten, ist der Schmerz zu unterdrücken. Nichts mehr, was mich zweifeln lässt, an der Richtigkeit der Ordnung. Wer die Grausamkeit beherrscht und sich nach ihr ordnet, fügt, der beherrscht den Schmerz, ist sich selbst gleichgültig. Wer sich ignoriert und die andern alle, wer die Schmerzen ignoriert, ist sich selbst der Nächste, ist sich selbst ergeben. Wer so nah an seinen Schmerzen ist und dabei doch nichts empfindet, ist sich immer selbst der Nächste, immer nur der Nächste. Jetzt erst ist die Einsamkeit perfekt und auch so erträglich.

Jetzt ist alles ohne Nähe, jetzt ist alles eins. Ohne ein Gefühl der Nähe, ohne ein Gefühl für mich, ohne eine Zartheit, ohne jede Zärtlichkeit. Ist doch nicht so schlimm, tut doch nicht mehr weh, ist das Credo meines Lebens.

Niemand, der sich mir noch nähern könnte, nicht mir selbst und keinem anderen. Ich bin in der Halle ohne Seelen. Ist doch nicht so schlimm. Tut doch nicht mehr weh, ist das Grauen für mich einst gewesen.

Nur der Ernst, auch für einen kleinsten Schmerz, bringt mich in die Welt zurück. Bringt die alte Grausamkeit hervor.

Ist doch nicht so schlimm. Tut doch nicht mehr weh, hat die Wut verunmöglicht, hat Empfinden erst verhindert. Es verhindert dein Empfinden für dich selbst. Es verhinderte aufrichtig, für dich selbst zu fühlen.

Ist doch nicht so schlimm, ist das Schlimmste was es gibt. Es bezweifelt deine Fähigkeit, doch zu wissen, was dir fehlt; was dir weh tut; was dich freut. Es verhindert hier dein Leben. Es verhindert jene Kraft, die sich äußert und stets äußern will, gegen deine Feinde. Es verhindert dein Erleben, dein Erlebnis deines Lebens.

Tut doch nicht so weh. Ist doch nicht so schlimm, ist ein Zugriff auf dein Leben, weil es dich abhält, vom Ereignis und Erlebnis deiner selbst. Es verändert deine Wahrnehmung, es verändert deine Wahrheit. Es verändert und verhindert dich das Kind, wie du fühlen könntest.

Du verachtest deinen Schmerz. Das hast du gelernt. Du verachtest schließlich jeden Schmerz, deinen und den eines jeden anderen. Das hast du geerbt und es sicherte dein Überleben.

Wer den Schmerz eines Kindes verachtet, verachtet das Kind. Er hinterlässt in ihm die gleiche Verachtung, die ihm als Kind entgegengebracht worden ist. Mit seiner Verachtung bezeugt und belebt das ehemalige Opfer, die Grausamkeit immer wieder, jene Gewalt in Wort und Tat, der es einst schutzlos ausgeliefert war.

Wer seinen Schmerz als Kind verachten musste, verachtet schließlich jeden Sinn für sich.

Bitte, tu mir nicht mehr weh!