Ich konnte das Gefühl nicht fassen. Ich konnte meinen Vater, der mich schlug und quälte nicht zum Teufel wünschen. Ich durfte nicht sein Misstrauen erregen. Ich konnte mir nur eingestehen, dass Prügel meines Vaters mir viel lieber waren, als jene Einsamkeit mit meiner Mutter. Ich mit ihr allein und einsam wie die Toten.
Jeder Ort war angstbesetzt. Jeder Ort war Vaterwelt. Mutter war das Nichts. Leere, Wüste, alles leer. Vaters Ort war Leid. Vaters Ort war nicht so einsam. Mutters Ort war eine stumme Drohung nach dem wieder gehen und verlassen, nach dem kommen und dem gehen. Mutters Welt war eine monotone immer gleiche Hölle aus Verlassenheit und Drohung zum verlassen werden. Mutters Ort war ohne eine Hoffnung. Keine Besserung an ihrem Ort. Vaters Welt war meine andere wirkliche Welt. Seine Schläge sind furchtbar, aber an ihnen erkenne ich den Grund meines Schmerzes. Schläge versteht jeder. Das Nichts, meine Einsamkeit, ist ohne Rührung und Berührung.
Meine Beine suchen nach der Lösung, unaufhörlich wünschen sie sich weg. Auf der Suche nach dem Ausweg, auf der Suche nach dem sicheren Ort. Meine Beine ruhen nie, immer suchen sie nach Lösungen. Meine Unruhe in den Beinen zeigt die Suche nach dem Ort, nach dem Sinn Geborgenheit, aus dem Sinn Geborgenheit heraus.
Meine Beine suchen ohne mich. Meine Beine wissen auch viel mehr. Wenn ich wüsste, was die Beine wissen, wäre ich nicht hier. Wenn ich wüsste, was die Beine wollten, wären meine Beine weg. Meine Beine fliehen ohne Unterlass. Doch die Beine zeigen das nicht her. In den Beinen läuft es ohne Unterbrechung. Nichts was Vater sehen kann, und auch Mutter bleibt es so verborgen. Meine Mutter darf nicht wissen, dass die Beine sich verflüchtigen, dass sie nach dem Ausgang suchen, aus dem kalten Haus. Ich darf das nicht wissen. Wenn ich das auch wüsste, wüsste es der Vater auch. Gott darf das nicht wissen, sonst verhängt er gleich die Strafen. Sonst verhängt er neue Schlösser, neue Ketten, sichert mehr sein Haus. Vater darf nicht von der Sehnsucht wissen. Mutter niemals auch das sehen, wenn ich um mich blicke, andre Frauen, Kinder sehe und dann mich zu ihnen stellen will. Mutter darf das nicht erblicken. Gleich fragt sie nach meiner Dankbarkeit, nach der Liebe zu den Eltern. Pocht auf ihre Liebe. Pocht auf die Entsagung, die in ihren Armen wohnt, nicht nach mir zu greifen, wenn ich einmal fallen werde. Das nächste mal, wenn dir etwas fehlt, brauchst du nicht mehr zu kommen. Wenn es dir bei anderen eh besser gefällt. Bitte schön!
Meine Arme sind Propeller, die die Eifersucht vertreiben. Die nur fliegen wollen, weg, aus dem Käfig dieser Vogelhalterin. Ich glaube, dir müssen mal wieder deine Flügel gestutzt werden!
Ich verstecke mich im Schrank, vor den Mutterspielen. Hinter Holzstößen mache ich mich klein, nur dass Vater mich nicht finden kann. Ich verbringe Stunden mit den Särgen, die im Keller seiner Schreinerei ausgestapelt sind. Ich verbringe Tage, Wochen, Jahre, damit, dass ich aus dem Fenster schaue. Ich verbringe Jahre damit, dass ich unter meinem Betttuch verschwinde. Sicher bin ich dennoch nicht. Vater findet mich überall.
Meine Augen suchen immer nach dem Ort, halten Ausschau nach den Fluchten, suchen nach den Rissen in der Wand, nach Gelegenheiten. Meine Beine tänzeln ohne Unterlass, in mir fließt das Blut, unaufhörlich weiter, immer wieder schickt es mich an die Orte meiner Kindheit. Niemals konnte ich verstehen, dass es diesen Ort nicht gab. Dass es keinen sichern Ort für mich je gab.
Wenn der Vater tot ist, bist du nur mit ihr. Wenn sie aber stirbt, lässt er dich allein, geht zur Arbeit und kommt heim.
Gibt es keinen sichern Ort?
Gab es keinen sichern Ort für mich?
Sag nichts darüber, rede nicht mit dir. Sprich auch niemand darauf an, sprich mit niemandem darüber, denn sie würden deinen Eltern das berichten. Rede niemals über deine Eltern, sonst erscheint dein Leid vor den Augen deiner Eltern, und sie werden das dann klären, werden dich belangen und bestrafen, werden dich noch mehr verzweifeln, werden dich noch mehr verjagen. Sprich nicht von der Suche, deinen Augen, Blicken, die nach Ausweg und nach Rissen in den Wänden suchen. Sprich nicht von der Suche. Halte dich geheim, sonst erkennt dich doch noch einer, und erzählt es deinen Eltern. Was der Junge alles denkt, wie er sich ausdrückt, was er wieder hat, was er nur erfindet, welche Phantasie, wie er sich umschaut. Was er sich ausdenkt, was er wieder hat. Niemand darf mich sehen, dass ich nach der Lösung suche.
Einen Ort erkenne ich, der mir Sicherheit gewährte. Auf der Luftmatratze, draußen auf dem See. Auf dem Bauch liegend, durch das Fenster ins Wasser schauend, treibe ich dahin. Vater badet nicht in Seen. Vater schwimmt nicht auf den See hinaus. Hier bin ich vor seinem Zugriff sicher. Vor den Rufen nicht, aber vor seinen Händen und seinen Zähnen und seinem Gesicht fühle ich mich sicher.
Meine Füße paddeln, meine Beine strampeln, meine Beine können jetzt das tun, was sie immer schon tun wollen, nur im innern ihrer Wünsche. Meine Beine dreschen auf das Wasser ein, meine Beine jubilieren, meine Beine schlagen in den See und ich rudere mit meinen Armen. Meine Sehnsucht ist dort wahr, meine Freiheit hat es dort gegeben, auf dem kleinen See, wo ich schwimmen lernte. Ich bin dort geborgen, ich bin dort auch eine Zeitlang vor dem Zugriff meines Vaters sicher. Hier bin ich auch in Gedanken vor dem Vater sicher. Hier bin ich allein, ohne mich allein zu fühlen. Meine Freiheit auf dem See, die der rechten Seite meines Körpers frei gibt, meine Freiheit ist im Knie und der Hass und Zorn und die Wut auf meinen Fänger. Vater. Meine Freiheit ist in meiner rechten Seite aufgebrochen, weil hier meine Schmerzen sind, weil sie mich zum Rechten machten. Meine linke Händigkeit, wollten sie nicht haben, wollten auch mein linkes Bein nicht haben. Vater wollte nicht mein linkes Bein, auch die linke Hand war ihm verhasst. Lehrer wollten mich nicht links, wollten, dass ich nur rechts schreibe. Meine rechte Hand ist vom Schlagen und geschlagen werden nur so zugerichtet. Meine rechte Seite musste mit den Lügen kämpfen und sich nur den Lügen fügen. Meine rechte Seite hat sich immer nur erdrücken lassen müssen. Nur am See, wenn ich in das Wasser schlage, fällt es meinem rechten Bein auch auf und der rechten ganzen Seite, dass es Freiheit gibt, dass es irgendwo doch Freiheit geben kann. Meine Kinderseele springt und die Beine schlagen wie ein Biber.
Es gibt einen Traum. Da ist die Mutter im See und sie droht dem Kind mit Untergang und Blut und sie verstummt mich mit ihrer Angst. In diesem Traum kann ich vor Schreck nichts sagen.
Jetzt auf dem See, auf der Luftmatratze, spreche ich. Hier ist der Wunsch des kleinen Kindes. Der sich mit Wut zum Vorschein bringt, der nur mit Wut, die niemand von den Eltern sehen will und nicht erträgt, fühlbar ist. Hier bin ich ohne Angst. Hier wünsche ich allein zu sein, ohne meine Eltern. Ich wünsche mir die Eltern weg, nur so kann ich mich endlich freuen, nur so bin ich in Sicherheit. Ich wünsche mich als Insel, ich wünsche mich weit weg, ich wünsche meine Eltern wären tot und niemals hier geboren worden. Das durfte ich nicht wissen, sagen, fühlen. Das durfte ich mir selbst nicht einmal sagen. Gedanken, die nicht lügen. Gefühle die nicht lügen, die sich nicht irren. Gefühle, die nicht schaden können.
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