Texte von Hugo Rupp

Die Rebellion

 

Ich sehe ihn. Er kommt mir entgegen. Sein Blick ist versonnen, niedergeschlagen, geht er langsam. Er lächelt friedfertig. Es sieht nicht so aus als würde er die roten Pflastersteine bemerken, über die er geht. Er schleicht, das tut er, versonnen schleicht er dahin, die Augen auf die Erde gerichtet. Ich sehe ihn. Er sieht mich nicht. Ich überlege, ob ich ihn ansprechen soll, ihn fragen, was er hier tut und wie es ihm geht. Er sieht so friedlich aus, denke ich, und bemerkt mich nicht! Ich spreche ihn nicht an, denke ich. Er lächelt so friedlich. Ich will nicht seinen Frieden stören. Ich behellige ihn nicht mit einem Wort. Wenn er in den Boden schaut und alle anderen um sich vergisst, ist es gut. Dann bin auch ich sicher.

Die Krankheit hatte ihn geschwächt. Er redet leiser, sogar freundlich. (Es ging nie um den Tod. Es ging immer um die Hilflosigkeit.) Er kommt auch im Frieden nicht näher. Er blickt friedlich, für sich. Dass er überlebt hat, rechnet er seiner guten Kondition zu, seiner Verfassung, seiner guten Lebensweise. Vater schaut in mich, und sieht auch heute keine Wut. Bin ich dieser Vater jetzt. Der seine Wut nicht greifen kann für ihn? Er kam mir wie ein Toter vor. Sein Gesicht war weiß und er schwitzte und seine Augen schienen bei jedem Atemzug auch mit zu atmen. Sie weiteten sich. Er hustete und ich versuchte für ihn mit zu husten, weil ich sah wie viel Kraft es ihn kostete, sich im Bett aufzusetzen und zu husten, und es tat ihm auch weh. Bei jedem Husten schmerzte seine Operationsnarbe unten am Bauch. Ich bin ganz durcheinander, weil er wieder am Leben ist, aber ich weiß nicht, was ich fühle. Keiner sagt mir, was ich fühlen soll. Keiner sagt etwas zu mir. Ich bin ja, seitdem er in das Krankenhaus gekommen ist, ohne jede Sprache ausgekommen. Sie spricht nichts, was für mich bestimmt ist. Sie kümmert sich mit keinem Wort um mich, seitdem er ins Krankenhaus ist, mit der Aussicht zu sterben. Immer wieder redet sie davon, auch noch später, dass er sterben hätte können, wie eine andere, die auch einen Blinddarmdurchbruch hatte und dann nach der Operation in der Nacht Blumenwasser getrunken hätte, und dann gestorben sei, mit der letzten Ölung versehen, und hätte noch geschrieen, dass sie nicht sterben wolle. Immer wieder erzählt Mutter diese Geschichte. Hoffentlich trinkt er kein Blumenwasser, denke ich. Hoffentlich hält er sich zurück, auch wenn der Durst am größten ist. Hoffentlich wandert er nicht nachts. Wacht auf und weiß nicht, wo er ist und geht wie ich zum Wasserhahn und trinkt einen Schluck. Schon ein winziger Schluck kann den Tod bedeuten, denn wenn das Wasser unten ist, können sie nichts mehr machen. Sagt sie immer wieder in meiner Gegenwart. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wenn er trinkt, bevor er trinken soll, stirbt er. Er muss durchhalten, schrecklich ohne Wasser mit soviel Durst. Jahre später, als sie mir den Blinddarm raus geschnitten haben, habe ich immer an das Wasser denken müssen, das ich nicht trinken darf. Die Blumenvasen im Zimmer sind mir als erstes aufgefallen. Weil Mutter damals gesagt hat, dass die Schwestern alle Vasen, nachdem das Unglück mit der Frau passiert ist, entfernt worden sind, habe ich gedacht, dass Vasen im Zimmer für frisch Operierte fehlen würden. Es waren Vasen da, auch Blumen.

Ich weiß nicht, wie ich weiter reden soll. Ob ich froh bin, dass er wieder zuhause und daheim ist, fragt sie mich. Zuhause und daheim. Doppelt.

Ja, sage ich.

Das hört sich nicht überzeugend an, sagt sie enttäuscht.

Ich muss die Wiedersehensfreude auch beachten, denke ich. Was soll ich tun. Wie freue ich mich richtig, so dass sie das auch für sich empfindet. Dass ich mich so freue, dass Vater wieder aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, dass ich mich für beide gleichermaßen freue. Ohne einem damit wehzutun, wie ich mich auch freue. Dass ich mit der Freude niemanden vergesse.

Freust du dich denn gar nicht, dass er wiederkommt?

Doch, sage ich.

Ich fühle tatsächlich keine Freude. Er freut sich, dass er wieder aus dem Krankenhaus heraußen ist. Ich nicht. Dass er überlebt hat und jetzt wieder heimkommt, muss mich freuen. Freut mich aber nicht.

Das Wiedersehen ist schrecklich. Vater ist schon wieder stark. Er lächelt ohne Unterlass. Er freut sich wieder daheim zu sein.

Daheim ist es doch am schönsten, sagt er.

Er schaut mich an und wartet auf etwas, dass etwas von mir kommt.

Freust du dich, dass ich wieder hier bin, fragt er.

Ich lächle.

Kann es sein, dass du gewachsen bist in den letzten sieben Wochen, fragt er.

Ich weiß nicht, sage ich.

Du bist gesprächig wie immer, sagt er.

Bei mir hat er auch nicht mehr geredet, sagt sie.

Dann werden wir dich wohl messen müssen, sagt er, steht auf und holt seinen Zollstock.

Ich stelle mich an den Türrahmen, wo die anderen Bleistiftstriche sind, die meine Größe anzeigen.

Zwei Zentimeter gewachsen, sagt er, seit dem letzten Mal.

Ich lächle. Es gibt nichts zu reden.

Erzähl mir, was du die ganze Zeit außerhalb der Schule getrieben hast, fragt er.

Schusserscheiben und Fußball, sage ich.

Er hängt immer mit seinen sauberen Freunden herum, sagt sie und klopft auf einen Topf.

Mit wem denn, fragt er.

Ich nenne ein paar Namen, aber sage nicht alle. Ich weiß, dass er meine Freunde nicht mag, die meisten jedenfalls nicht. Er nennt sie Verbrecher.

Ich frage Vater nichts. Unaufgefordert sage ich nichts. Fragen sind nicht meine Zuständigkeit.

Ich freue mich nicht, dass er wieder daheim ist.

Ich gehe in mein Zimmer, sage ich.

Du kannst ruhig noch etwas sitzen bleiben, sagt sie aus der Küche, du wirst doch deinem Vater wenigstens noch fünf Minuten Gesellschaft leisten können. Das ist doch nicht zuviel verlangt. Jetzt, wo er endlich wieder bei uns zu Hause ist.

Erzähl doch was, sagt er.

Ich weiß nicht was, sage ich.

Er lacht. Er lächelt ununterbrochen.

Jetzt kommt auch bald dein Geschwisterchen auf die Welt, sagt er.

Ich rümpfe die Nase.

Was wünschst du dir denn, fragt er.

Einen Bruder, sage ich.

Und wenn es ein Schwesterchen wird, fragt er.

Ich sage nichts.

Er lacht.

Und wenn es ein Schwesterchen wird, sagt Mutter.

Sie hat nicht gehört, dass ich nichts gesagt habe.

Er hat nichts gesagt, sagt Vater und lacht.

Ich warte ununterbrochen auf etwas. Dass etwas geschieht, dass etwas geschieht und dass danach Ruhe herrscht. Dass etwas ein für allemal aufhört. Dass Vater endlich aufhört dieser Mensch zu sein und dass meine Mutter endlich aufhört diese Mutter zu sein. Ich warte jeden Tag darauf. Jeden Morgen wache ich auf und stehe auf und hoffe, dass endlich etwas anders ist. Dass ich nicht auf seine Fragen antworten muss, dass sie mich in Ruhe lassen. Dass sie aufhören, etwas von mir zu wollen. Dass ich etwas für sie sagen soll, dass ich etwas für sie tun soll, dass ich ständig sie beachten muss, dass ich ständig, ununterbrochen auf sie achten muss, als wären überall nur Hinweistafeln, Schilder aufgestellt, auf denen steht. Du musst dich beeilen, dass du nicht zu spät nach Hause kommst. Du darfst nicht mehr sagen, was du willst. Sag nie, was du denkst. Sag nie, was du fühlst. Ich muss ständig achten, darauf achten, dass ich nichts falsches mache, tue, dass mir nichts passiert. Darauf muss ich ständig achten, dass ich nichts dergleichen mache, was ihm nicht gefällt. Ich muss alles für sie machen. Für sie und für meinen Vater. Ich bin in mir festgehalten, jeder Teil von mir. Ganz besonders meine Art zu schauen, die ich atmen ohne atmen für mich nenne. Atmen ohne atmen ist mein größter Schatz, dass ich mir beim Atmen helfe, dass ich mich beachte, wie ich atme, dass ich immer wieder atmen muss. Ich verhindere die Angst, vor ihm kleiner zu werden als ich bin. Ich zeig keine Angst. Ich kann Vater nicht enttäuschen. Ich darf auch die Angst nicht zeigen. Wenn er mich berührt, darf ich nicht mehr zucken. Ich darf ihm nicht etwa zeigen, dass ich das nicht mag, wenn er meine Arme hält, wenn er mich gerade hält, wenn er meine Haare zupft, wenn er mich mit einem Blick ansieht, darf ich nicht zusammenzucken. Ich erschöpfe mich dann später. Wenn er es nicht sieht, atme ich dann schneller. Wenn er da ist, atme ich wie eine Maschine. Konstant, gleiches Tempo. Vater gefällt das.

Die besten Leichtathleten sind die Langstreckenläufer.

Die mit der größten Ausdauer, die gefallen ihm.

Sie atmen gleichmäßig, sagt er.

Gleichmäßig ist das beste. Gleichmäßiger Atem. Keine Unruhe.

Was ist denn das für eine Unruhe, sagt er.

Unruhe mag er nicht. An sich nicht, und an anderen nicht. Mutter ist nur unruhig, das scheint er nicht zu merken, dass sie ohne jede Ruhe ist. Auch wenn sie schläft, wälzt sie sich hin und her. Ohne Ruhe.

Zusammenreißen, sagt er.

Zusammenreißen ist eines seiner Lieblingsworte. Zusammenreißen. Ich soll mich zusammenreißen.

Jetzt reiß dich endlich zusammen und hör gefälligst mit deiner Weinerei auf, sagt er.

Das ist es. Zusammenreißen. Immer zusammenreißen. Solange ich mich zusammenreiße, passiert mir nichts.

Solange du dich zusammenreißt, kann dir überhaupt nichts passieren, sagt er.

Er muss sich nicht zusammenreißen. Solange ich mich zusammenreiße ist alles in Ordnung.

Jetzt red doch endlich, sagt er.

Was denn, frage ich.

Irgendetwas wird dir ja wohl noch einfallen, sagt er und schaut mich an. Aber wenn du dich nicht mit mir, deinem eigenen Vater unterhalten willst, kannst du genauso gut in dein Zimmer gehen, sagt er. Ich will dich nicht aufhalten.

Jetzt kann ich nicht mehr gehen.

Irgendetwas neues wird es doch wohl geben, sagt er.

Bist du deinen Freunden gegenüber ebenso verschlossen, fragt er.

Ich weiß nicht, sage ich mit meinen Schultern.

Da war ja mein Stiefvater, Gott hab ihn selig, gesprächiger, sagt er und lacht.

Da haben wir uns wohl einen Stummen herangezogen, sagt er.

Wenn er außer Haus ist, redet er schon, sagt Mutter. Da kann er wie ein Wasserfall reden. Nur hier scheint er maulfaul zu sein, sagt sie.

Das stimmt. Ich rede viel, wenn ich nicht zu Hause bin. Ich rede viel zu viel.

Da würde ich mal gerne Mäuschen spielen und zuhören. Was ihr da so redet. Redet ihr auch über uns, eure Eltern?

Nein, sage ich.

Er lacht.

Wir reden tatsächlich niemals über unsere Eltern. Mit keinem Wort. Keiner von uns.

Redet ihr nicht manchmal über uns, fragt er.

Ich schüttle meinen Kopf und lächle.

Er lächelt auch. Er redet auch nie über seine Eltern. Sie auch nicht.

Jetzt haben wir tatsächlich ein Thema gefunden, über das wir alle gleich verschwiegen sind. Vater ist auch still und Mutter auch. Plötzlich sind sie still. Sie fragen nichts mehr. Vaters Lächeln ist auch weg. Er denkt nach und da atmet er einmal tief ein und aus, dann verzieht er seinen Mund. Er denkt nach. Ich beobachte ihn. Ich weiß nicht, was er denkt. Ich warte nur darauf, dass er wieder anders wird. Ich fürchte, dass er wieder anders wird. Ich hatte als Kind immer Angst davor, auch wenn ich mir nichts davon anmerken ließ, dass er mich entzweit, mich gleich in Stücke schlägt, so dass mich nicht mal mehr mein bester Freund erkennen würde, wie er sagt, dass er mich schlagen wird, wenn ich nicht gleich mein Maul jetzt halte, dass mich nicht einmal mehr meine eigenen Eltern wieder erkennen würden. Er würde mich so schlagen, dass ich mich nicht einmal selbst mehr wieder erkennen würde.

So ist es.

Der Geschlagene erkennt sich nicht mehr wieder. Er soll sich nicht mehr wieder erkennen. Ein geschlagenes Kind erkennt sich selbst nicht mehr. Das ist es. Das Kind kann sich selbst nicht wieder erkennen, weil es Gefühle hat, die es nie vorher hatte, weil es hasst, weil es wütend ist, weil es zornig ist, weil es niemand gibt, der sich um diese Gefühle kümmert, der ein Kind bestätigt und bestärkt, die Wut auch auszuleben, das heißt, die Wut selbst anzuerkennen als etwas gutes, das zu dir gehört. Damit sich dieses Kind auch weiterhin erkennen kann.

Ich erkenne dich nicht wieder, sagte er und schaut mich an. Er hat mir die Handschuhe ins Gesicht geschlagen, weil ich wütend war. Er schlägt mich und sagt, dass er mich nicht mehr wieder erkennen würde. Er schlägt mich, damit ich wieder der alte werde, das Kind, das er mochte, deshalb schlägt er mich, dass ich wieder so werde, wie er mich mag. Damit er mich wieder erkennt. Tatsächlich erkenne ich ihn nach dem ersten Schlag nicht wieder und ich erkenne auch mich selbst nicht wieder. Ich erkenne überhaupt niemanden mehr wieder. Ich erkannte mich selbst nicht wieder.

Erst mit der berechtigten Wut, kann ein Kind sich selbst wieder erkennen. Wer einem Kind die Wut nimmt, verhindert, dass dieses Kind sich selbst erkennt, der verhindert, dass dieses Kind sich selbst erkennen kann.

Ohne die Wut kann sich ein Kind nicht wieder finden. Ein Kind, dessen Wut beschämt worden ist, will sich nicht mehr begegnen. Es will seiner Wut nicht mehr begegnen, weil es immer dann, wenn es der Wut begegnet, sich schuldig fühlt und ohne einen Menschen, ganz allein sein musste. Wenn ein Kind sich in seiner Wut, mit seiner Wut wieder erkennt, ist es wieder frei. Es ist sich erstmals wieder selbst das Kind, das sich bezeugt und für sich spricht.