Texte von Hugo Rupp

Die Lügen über unsere Verhältnisse

 

Ich tu doch nichts!

In scheinbar gleichgültigem Ton. Fast zärtlich, einschmeichelnd. Trotzdem konnte ich die Verstellung förmlich riechen.

Nun lach doch mal!

Es ist nicht alles schlecht.

Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.

Warum lachst du?

Ja soll ich vielleicht weinen.

Führ dich doch nicht so auf!

Du fragst jetzt nicht.

Hörst du!?

Du bist ganz still!

Muster, die meine Angst mir schrieb.

Du bist jetzt still, sonst kannst du was erleben.

Aus Fügsamkeit.

Ich kann doch nicht allein so zornig sein. Das geht doch nicht. Ich kann doch nicht alleine wütend sein. Das ist doch gar nicht möglich. Das geht doch nicht. Ich kann doch nicht damit alleine sein. Ich kann nicht ganz alleine sein. Ich kann nicht zornig sein.

Dein Vater meint es doch nur gut!

Sei doch nicht gar so widerspenstig!

Er taucht erst 5:23 Uhr auf. Vorher gibt es ihn nicht. Es gibt für mich den Vater in der Nacht nicht. Weil er nie kam. Weil er sich in der Nacht nie kümmerte. Es gab ihn nicht, wenn ich alleine war.

Er wollte in der Nacht von mir nichts wissen. Nicht einmal unfreiwillig. Niemals, bei keiner Träne in der Nacht, bei keinem Schrei und keinem Schatten auf der Lunge, bei keinem Schweißausbruch und keinem Fieber, und nicht einmal bei meinem Keuchhusten. Er kam nicht in der Nacht, wenn meine Geister nach mir riefen und wenn der Schwarze Mann ankam. Mein Vater kam niemals. Er war nie da, wenn ich ihn suchte.

Um 5:23 Uhr brach ihm dann der Blinddarm durch. Da wurde ich auch wach, weil er so fluchte und so schrie.

Wenn ich nicht da bin, bist du meine rechte Hand. Dann bist du für die Mutter zuständig. Wenn ich weg bin, bist du verantwortlich. Du musst dann deiner Mutter helfen. Verstehst du mich! Dann bist du meine rechte Hand.

Im Geiste blieb ich seine rechte Hand. Ich war sein Polizist, der jeden Fehler auszumerzen versuchte. Ich war Soldat, mit Vater kameradschaftlich verbunden. Ich war die rechte Hand, die meine linke jetzt erzog, zur Ruhe und Geschlossenheit. Ich war schließlich mein eigner Herr. Ich konnte keine Fehler dulden. Wenn ich nur einen einzigen geduldet hätte, dann wäre es für mich als rechte Hand auch aus gewesen. Was Vater nämlich nicht geduldet hat, das kann ich mir auch nicht gestatten.

Du warst so lieb als kleines Kind. Nur lieb und nett. Und schau dich jetzt mal an. Bei allem widersprichst du. Muss du uns so angehen?! Musst du nur widersprechen!? Und uns anlügen. Musst du so sein?!

Ich wollte schließlich selbst das nette kleine Kind gewesen sein, im Nachhinein, wie meine Eltern mich beschrieben hatten. Deswegen fragte ich mich selbst: Warum regst du dich so dermaßen auf!?

Ich konnte mich nicht länger mögen. Ich hasste mich, das Kind, das sich nicht fügen mochte.

Ich schämte mich, wenn jemand Vater widersprach. Wenn jemand sich nicht gleich entschuldigt hatte. Das ist mein Dank fürs wehrlos sein gewesen.

Euch sollte man mit dem Bolzenschussapparat ins Genick schießen. Kurzer Prozeß. Man sollte euch alle an die Wand stellen.

Wenn ich mir Vater über mein Gesicht stülpe, dann sehe ich gleichgültig aus.

Endlich begreife ich. Weil ihm was fehlte, hatte ich Mitleid mit ihm. Ich spürte das. Dem Vater fehlt etwas. Ihm fehlt andauernd etwas, wenn er schreit und tobt und sich nach allen Seiten neigt und aus dem Fenster schreit. Wenn er im Stiegenhaus jemanden anstarrt und dann hustet. Dem Vater fehlt etwas. Dabei war das sein Hass. Ich dachte aber nur, ihm fehlte was. Denn gleichgültig erlebte ich ihn nicht. Gleichgültig habe ich ihn nicht erlebt. Er schrie ja pausenlos und führte sich so auf. Dabei war er vollkommen gleichgültig, den andern gegenüber. Tyrannisierte uns nach Strich und Faden. Und ich hab mit ihm Mitleid, weil ich nur denken kann, dem Vater fehlt etwas. Ihm fehlte ja das Mitleid und die Liebe ganz und gar. Doch das begriff ich nicht. Ich schämte mich und fühlte mich so schuldig und so elend, weil Vater etwas fehlt, wenn er weggeht. Dann fehlt dem Vater was. Er schaut, als würde er nicht richtig wissen, wie sich umarmen geht. Wie sich zum Abschied küssen geht. Das weiß der Vater nicht. Ich habe mit ihm Mitleid, weil ihm etwas in meinen Augen fehlt. Auch freuen konnte er sich nicht. Nicht einmal, wenn sich andere umarmten, küssten und so freuten. Dann ging mein Vater weg.

Ich dachte immer nur, ich sei an seinem Zustand schuld, wenn er voll Zähneknirschen ging und dann die Treppen runter fluchte. Wenn ich etwas empfand, und Vater scheinbar gar nichts.

Ich kann Gleichgültigkeit selbst nicht ertragen, solange ich gleichgültig bin.

Gleichgültigkeit machte mich nämlich wehrlos.

Die Träume passen endlich zueinander. Die Frau im See. Mein Traum vom Sportplatz. Gleichgültigkeit machte mich wehrlos. Gleichgültigkeit und Hass. Sie hatten mich hilflos gemacht und gleichgültig, mit ihrem Hass.

Freiheit bedeutet ja, nicht gleichgültig zu sein.

Er wollte mich nicht in der Nähe haben. Er wollte mit mir nicht ausgehen, am Sonntag in der Früh. Er wollte das gar nicht.

Du hast hier nichts zu suchen. Verschwind. Geh endlich in dein Zimmer!

Nichts sollte ich von Nähe spüren.

Was willst du denn von diesen Arschlöchern?!

Warum triffst du dich denn mit diesen Grattlern?!

Er machte alle schlecht. Nur Kameradschaft war im Krieg erlaubt gewesen. Sonst kann es keine Freundschaft, keine Hilfe geben.

Nun schau doch wieder freundlich!

So schlimm ist das doch gar nicht.

Ich dachte immer nur, es würde an mir liegen, wenn jemand nicht mit mir und dem, was ich gerade machte, was anzufangen wusste. Wenn jemand von mir gar nichts hielt, dann gab ich mir die Schuld daran.

Lass deinen Vater jetzt in Ruh. Er braucht doch seine Ruhe.

Und ich hab mich geplagt, ihm zu gefallen. Ich kann ihn weder weg noch zu mir locken. Ich kann und soll nicht nach ihm rufen. Mein Vater kommt nicht.

Iss was, dann brauchst du dich nicht ärgern!

Und etwas Tee. Magst du jetzt einen Tee?

Trink einen Tee.

Kannst du dich noch erinnern?!

Und wieder die Geschichte von einem aussichtslosen Kampf. Von einer Krankheit. Zum Tränen lachen.

Magst du noch einen Tee?!

Jetzt schaust du wieder freundlich. Hab ich es nicht gesagt. Nichts wird so heiß gegessen.

Ich musste mir von ihnen Frieden wünschen. Mein ganzes Kinderleben lang und noch viel später, hab ich danach geschmachtet.

Aus scheinbar keinem Grund wurde ich wieder böse.

Jetzt sei doch endlich brav und friedlich.

Im Grunde rannte ich mit einer Plastiktüte über meinem Kopf herum. Nur Hass und blinde Wut verschafften mir noch Linderung.

Geh mir gefälligst aus dem Weg!

Nimm deine Hände aus dem Hosensack.

Und schneuz dir deine Nase.

Nur eine Ohrfeige, und du führst dich so auf.

Mich in mein Leben und mein Leid, so wie in ein vorherbestimmtes Schicksal fügen.

Jetzt heb dein rechtes Bein, mit deinem rechten Fuß zuerst. Dann setzt du deinen linken Fuß nach vorn.

Ich konnte machen, was ich wollte, die Eltern blieben untröstlich.

Reg dich doch nicht so auf. Du brauchst doch keine Angst zu haben! Ich bin gleich wieder da.

Mir träumte und ich wünschte mir, es gäbe irgendwo doch einen Ort, wo meine Wut nicht anzutreffen sei. Als gäbe es in mir tatsächlich ein Gefühl, das mich über das Wesen meiner Eltern stellt, mich trösten kann und mich hinwegtäuscht. Ich wünschte mir, dass wirklich alles anders wäre.

Sie suchten weder meine Zärtlichkeit noch meine Wut. Sie suchten nicht nach mir. Sie suchten nicht nach meiner Nähe.

Ich dachte dann, niemand will meine Nähe spüren, solang ich wütend werden kann, will niemand mich in seiner Nähe spüren.

Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind und was weiß ich von den Deinen. Und wenn ich mich vor Dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest Du von mir mehr als von der Hölle, wenn Dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehn wie vor dem Eingang zur Hölle.

Franz Kafka, Brief an Oskar Pollak

Wie man ein Tier nur aus seinem Käfig holt, um es zu quälen und so für sich fügsam zu machen.

Jetzt spring mit deinem rechten Fuß! Stoß dich zuerst mit deinem rechten Fuß ab. Dann geht das alles von allein.

Für meinen Vater sprang ich in die Luft, mit meinem rechten Bein zuerst. Ich wollte mich bedanken.

Was bildest du dir ein?!

Mein andauerndes Nicken. Es sollten alle nur parieren.

Sei doch nicht so.

Ich sprach durch meine Schuld hindurch und voller Schuldgefühle zu mir. Durch jahrelange Schuldzuweisungen hindurch und darüber hinaus.

Ich bin ein Fehler meiner selbst, das musste ich ja denken lernen, ich bin ein Fehler für mich selbst und deshalb voller Widersprüche. Ich kann die, die mich machten, nicht meiden und verlassen. Und die, die ich anstatt der Eltern dann verachte, von denen kann ich auch nicht lassen.

Dein Vater meint es doch nur gut!

Und wieder setze ich mich mit dem System der Niedertracht und Unterwerfung auseinander, für sie und ihn. Nie wollte jemand von den beiden etwas daran ändern.

Mein Schimpfen über die Systeme und das Verhalten anderer, so wie das Schimpfen meines Vaters, lenkten mich ab, von meiner Wut und meinem Zorn, über die eigenen Verhältnisse und deren Abstammung und wie verkommen und vergiftet und voller Lügen, wir schließlich alle waren.

Was ich von meinen Eltern lernte, von Anfang an, nur Lügen über unsere Verhältnisse.

Da pass auf!

Ich konnte nicht begreifen, dass erst der Schmerz von ganz allein weggeht, wenn ich mich über meinen Schmerz nicht mehr beschwerte und hinwegsetzte, wenn ich mich nicht mehr über ihn belog, wenn ich nicht länger leugnete, was für ein Arschloch Vater war und wie er mir kaltlächelnd wehtun hatte können, ohne ein Zucken, oder Zeichen; keine Reaktion. Wie gleichgültig er der Gewalt, besonders seiner Ausübung, und mir tatsächlich gegenüber stand. Solange ich die Wut und meinen Zorn und meine Tränen in mir stumm hielt.

Ich hatte kein Gefühl dafür, dass ich mich wehren kann, dass ich mich würde wehren können. Doch irgendwann.

Du schreist doch nur zum Fleiß. Du hast doch alles, was man braucht.

Die Schmerzen machten mich nicht krank und nicht verrückt, nur ihre Lügen darüber.

Was aber ist mit der Liebe deines Vaters, fragt Mutters Stimme mich im Traum.

Ich höre ihre Färbung und spüre augenblicklich Mitleid. Die Stimme, die mich krank machte und mich erschreckt hatte. Sie log mir immer wieder etwas vor, um ihre Lügen zu verklären. Sie log ausschließlich über unsere Verhältnisse.

Dann sehe ich im Traum ein Bild, ein weißes Kind, in einem offenen Sarg, im hellsten Weiß, ein Kind verschreckt, ich selbst, verdreht, mein Kopf, nach hinten rechts verdreht, und eingeschnürt bin ich, umhüllt wie eine Mumie, mit strahlend weißem Band. Ich will mich nur umdrehen, doch schaffe ich das nicht. Verschnürt und eingepackt war meine Seele, so lag ich hinter einer offenen Tür, denn meine Mutter ließ mich liegen. Dabei hab ich mich so verdreht und angestrengt, um sie zu sehen, zu erleben.

Wo ist die Liebe denn zu deinem Vater?!

Ich hielt tatsächlich Ausschau nach ihr und nach ihm. Sie ist nie da gewesen. Die Mutter macht mich krank, mit den Geschichten und den Fragen, um so zu tun, als würde sie sich um mich kümmern. Um so zu tun, als würde sie mir helfen, als einzige in dieser Welt.

Sie badete in meinem Leid förmlich. Das sagte mir mein Traum vom See. Und ich sollte dem stumm beiwohnen, wie sie mich in den Wahnsinn trieb und dabei lächelte.

Streng dich gefälligst an. Oder bist du dir dazu vielleicht zu schade?!

Auch Amélie und ich gerieten einmal aneinander. Ein Kinderstreit. Ihre Eltern waren bessergestellt als meine, wenn sie auch keine wirklichen Bürger waren: die Mutter Krankenhausangestellte, der Vater Techniker bei der staatlichen Elektrizitätsgesellschaft. An dem Tag sagte Amélie zu mir, um mich zu kränken – sie wusste, damit würde ihr das gelingen -, meine Eltern seien Nichtstuer. Ich erinnere mich an diesen Streit so genau, wie es manchmal mit Dingen passiert, die eigentlich unbedeutend sind, dann aber Monate, Jahre später aus der Erinnerung hervortreten und einen Sinn bekommen.

Ich schlug sie. Ich packte sie bei den Haaren und schlug ihren Kopf gegen den Schulbus, heftig, wie der große Rothaarige und der Kleine mit dem krummen Rücken im Flur vor der Schulbücherei mich schlugen. Viele Kinder sahen uns. Sie lachten und feuerten mich an Los, mach sie fertig, schlag ihr die Fresse kaputt. Amélie weinte und bettelte, ich solle aufhören. Sie schrie, heulte, flehte. Sie hatte mir zu verstehen gegeben, dass sie zu einer wertvolleren Welt gehörte als ich. Während ich die Zeit an der Bushaltestelle totschlug, lasen Kinder wie Amélie Bücher, die ihre Eltern ihnen geschenkt hatten, sie gingen ins Kino und sogar ins Theater. Abends sprachen ihre Eltern beim Essen über Literatur und Geschichte – ein Gespräch zwischen Amélie und ihrer Mutter über Eleonore von Aquitanien hatte mich vor Beschämung blass werden lassen.

Édouard Louis Das Ende von Eddy

Den Karl wollte ich in der Schule auch bestraft wissen, weil der doch unter mir gestanden hat. Denn sein Vater hat für meinen was gemauert bei uns im Haus. Der Karl war für mich eindeutig weniger wert als ich, weil mein Vater seinem etwas anschaffen konnte. Und deshalb musste Karl bestraft werden, weil er die Hausaufgaben nicht gemacht hatte. Er sollte sich gefälligst unterordnen, weil die Verhältnisse so sind. Dass man einhält, was man einhalten muss. Was mich aber am meisten verrückt gemacht hatte, an dieser ganzen Sache, war, dass unsere Lehrerin den Karl nicht bestrafen wollte. Sie wollte nicht. Sie tröstete ihn sogar. Sie tröstete den Karl, der ganz leise zu weinen begonnen hatte. Noch nach der Schule redete ich auf die andern ein, dass man den Karl bestrafen müsste, und alle gaben mir recht.

Du meinst vielleicht, du wärst was besseres?!

Ich traute mich nur nicht, das auch zu sagen, das auch zu wagen, was besseres aus mir zu machen; weil ich mich schämte. Wie es mir wirklich ging, hat niemand interessiert.

Mein Unglück in den toten Räumen.

Gut waren die Verhältnisse, die immer gut sein sollten. Es ging ausschließlich um Verhältnisse, das hatte ich nur nicht kapiert. Das sollte ich kapieren.

Verhältnismäßigkeit.

Es ging uns immer gut, wenn wir nach unten schauten. Deswegen hat mein Vater jubiliert. Im Gegensatz zu anderen, die gar nichts hatten, ging es uns gut.

Ununterbrochene Verbeugung vor den Eltern. Verleugnung von Gefühlen.

Der Karl, der war ja weich und schüchtern und feminin und von der Art her zart. Der stellte alles dar, was Vater hasste. Ein Weichei, Hinterlader, dummer Hund und Habenichts, genauso wie sein Vater. Deswegen wollte ich den Karl bestraft sehen von unsrer Lehrerin.

Wie ich als kleines Kind die Zärtlichkeit vermisst hatte und wie abscheulich ich das fand, wie grob und wie gemein mich meine Mutter und mein Vater von Anfang an behandelt hatten. Und wie abscheulich ich das im geheimen fand mit Vater ganz alleine unterwegs zu sein, an seiner Hand, die er wie einen Stecken oder einen Hammer oder wie ein Stemmeisen packte. Wie er mich um den Stock schleppte, als gelte es, was zu beweisen, zumindest schnell, zumindest schneller und zielstrebiger zu sein, als andere Väter.

Und später dachte ich dann immerzu, ich müsste kraftvoll auftreten, mit beiden Füßen auf dem Boden stehen. Gerade stehen, wie es sich gehörte. Die Arschbacken zusammen zwicken, wie zackig mein Verhalten sei, versuchte ich ununterbrochen zu beweisen. Wie gut ich dastünde, wie gut es sei, wie gut es mir gegangen und ergangen war bei meinen Eltern.

Wie du nur wieder aussiehst, sagt Vater in der Früh, als müsste ich mich selbst im Schlaf noch schämen.

Sie sonnten sich einst über meinem Leid, endlich kapiere ich. Sie sonnten sich in meiner Machtlosigkeit, so konnten sie selbst Macht bekommen und empfinden. So passen die Gesichter meiner Eltern zueinander. Identisch waren sie, mein Vater und die Mutter, wenn sie mich wehrlos machten. Mein Traum vom See mit meiner Mutter und der vom Vater am Sportplatz, sprechen die gleiche und eindeutige Sprache über unsere Verhältnisse.

Was hast du denn!? Da ist doch nichts!

Sie wussten nicht, wie es ihnen selber ging. Sie konnten gar nicht wissen, wie es mir ging und weiter gehen würde. Von ihnen konnte ich nur lernen, wie man die Zärtlichkeit an sich verachten lehrt, indem man sich für seine eigene Liebe schämt und sich dafür entschuldigt.

Ja schämst du dich denn nicht, nur wieder so zu schreien?!

Ich konnte ohne meinen Zorn und meine Wut nicht länger zärtlich sein, endlich hab ich das selbst verstanden. Wer Wut in einem Kind zerstört, zerstört damit die Zärtlichkeit und immer wieder seine Freude an der Fähigkeit, sich mit Gefühlen und Empfindungen selbst zu erklären.

Schäm dich!

Ich schämte mich nicht nur für meine Wut, ich schämte mich für jeden Dreck. Ich schämte mich tatsächlich immerzu. Denn für den Vater und die Mutter war alles Dreck gewesen, was zärtlich war und liebevoll und freundlich und nicht gleichgültig, gegen Gewalt und Schmerz und Tränen, der Freude, wie auch der Traurigkeit wegen.

Was hast du denn?!

Was ist denn los?!

Nicht wegkommen zu können von der Gewalt. Damit hat meine Mutter mich geködert, von Anfang an gequält.

Freu dich nur nicht zu früh!

Was sie mir immer wieder vormachte, womit sie mich entmutigt hatte, immer wieder, ich würde niemals von ihr wegkommen und der Gewalt und den Verhältnissen. Und dass ich das gar nicht versuchen sollte, wegzukommen.

Jetzt hab ich dich!

Jetzt kommst mir nie wieder aus!

Niemals entkommen können ihren Flüchen und Verwünschungen, den Lügen, die ihre Welt und schließlich meine eigene ausmachten.

Sie konnten jede meiner Äußerungen in den Dreck ziehen, sich lustig machen über mich. Sie konnten jede meiner Äußerungen als lachhaft hinstellen und mich beschämen. Dass ich mich nur mehr schämte und schuldig fühlte, wenn ich mich äußerte. Sie konnten jede meiner Reaktionen in den Dreck ziehen.

Endlich begreife ich den unterdrückten Zorn. Ohne bewussten Zorn kann ich der eignen Rachsucht nicht entkommen; fürs nie davongekommen sein. Fürs nie davongekommen sein, ohne Beschämung, ohne Schuld.

Ich sag doch nur. Ich tu doch gar nichts!

Und wie beschämend erst ihr Schweigen sein sollte, wenn sie beim kleinsten Widerspruch die Augenbrauen hochzog, mir bedeutete, hab ich dir nicht gesagt, du sollst das doch nie wieder tun. Das hast du nun davon. Jetzt lass ich dich allein.

Endlich erzittert in mir was, das ich so nicht gekannt hatte. Die Schweigende. Mein Zorn auf sie, die alles mit mir tun konnte. Endlich fällt meinem Körper auch mein Zorn auf meine stumme, sich vor mir immerzu versteckende, und mich so tödlich beschämende Mutter ein. Deswegen fühlte sich im Grunde alles irgendwann in mir nach Schuld und schuldig sein an. Weil ihre Sprache, selbst wenn sie nichts mehr sagte, mich stumm weiter beschämen konnte.

Endlich.

Ich ließ auch später dann, beim leisesten Widerspruch, selbst nichts mehr anderes gelten, wie die Bestrafung meines Gegenübers, in Wort und Tat und mit Verschwiegenheit.

Verschweigen, wie es in mir aussah.

In Wahrheit schämten sie sich, etwas von sich zu geben, was nicht erstunken und erlogen war. Ich dachte als Kind immer nur, sie wüssten gar nicht, was sie taten, dabei waren sie abgestimmte Automaten, dressierte Affen, Zirkustiere, die aus Gehorsam, mich zum Gehorsam zwangen und dressierten. Deswegen zogen sie auch eine solche Show ab, damit ich aufmerksam auch ihren Darbietungen Folge leisten würde; stets mit Gewalt. Sie konnten nämlich nicht begreifen, dass ich nicht spielen wollte, dass mich die Spiele gar nicht interessierten und dass sie mich schier wahnsinnig vor Zorn und Wut und Schmerzen machten, mit ihrem Inszenierungswahn, ihrem Erziehungswillen, indem sie unaufhörlich jedes Gefühl, jede Empfindung von mir, augenblicklich angriffen und ablehnten; weil scheinbar nichts von mir und meiner Seele, zu ihrer Vorstellung von einem Kind passte.

Wie kann man nur so schmutzig sein?! Du solltest dich was schämen!

Ich muss jemand beschämen, notfalls mich ganz allein, sonst bin ich nichts mehr wert, nicht einmal mehr den Dreck unter den Fingernägeln. Ich muss jemand beschämen, auch gegen die Natur, auch wenn ich mich danach im Grunde noch mehr schämte. Ich muss jemand beschämen, als wäre das mein Naturell.

Das brachten sie mir bei. Du sollst nicht wütend auf die Mutter sein. Das lass dir einmal, nochmal, sagen. Du sollst nie wütend auf die Mutter für dich sein. Merk dir das endlich einmal. Du sollst nicht wütend auf die Mutter sein. Versteh das doch endlich einmal. Du sollst nicht wütend auf die Eltern sein. Du sollst nicht klagen. Sei jetzt gefälligst wieder brav, du böses, schreckliches, und unverschämtes und verzogenes Kind. Sei jetzt gefälligst einmal still. Du sollst nicht wütend auf die Eltern sein. Du sollst nicht über deine Mutter und den Vater dich beklagen.

Das war mein eigenes Credo. Für mich und meine Welt. Das brachte mir die Mutter bei, mit all den Flüchen, ihren Wünschen und Verwünschungen. Du sollst nicht frei sein für die Wut. Du sollst dich schämen müssen.

Wenn du nicht gleich still bist, dann wirst du was erleben.

Ich konnte meiner Scham nicht aus dem Weg gehen.

Endlich begreife ich das Kind, das ich mal war, dass ich mich nicht mehr fürchten muss vor meiner Mutter und vor meinem Vater. Endlich begreife ich, dass ich mich nie mehr schämen muss für meine Wut und meinen Zorn auf meine Eltern.

Die Wut und meine Angst davor, nur wieder für etwas beschämt zu werden. Mich wieder nur zu schämen, mich wieder nur schämen zu müssen, ist wirklich überall in mir gewesen. Endlich verstehe ich, die Angst vor meiner Wut, ist meine Scham, mein Schämen und Beschämen. Endlich begreife ich, was in mir steckt und an mir nagt. Mein unterdrückter Zorn auf meine Mutter und den Vater, von Anfang an.